Dynamisch-gelassener Aufbruch
Die Frage nach dem Profil hat bei der Reformdiskussion in den evangelischen Landeskirchen Konjunktur. Blickt man in die Landschaft der Kirchengemeinden, so erlebt man an vielen Orten kreative Projekte und Aufbrüche, die das Erscheinungsbild schärfen. Auf kirchlichen Homepages und Informationsplattformen ist eine große Vielfalt neuer und eindrücklicher Initiativen versammelt. Man gewinnt den Eindruck, als ob immer mehr Gemeinden höchst hoffnungsvoll gegen die altbekannten pessimistischen Zukunftsprognosen angehen. Die Beschreibungen einzelner Projekte leben von Begriffen wie "frisch", "neu gepflanzt", "lebendig", "bewegend", "geistreich" und "spannend". Ob dies aber schon auf ein "Wachsen gegen den Trend" hindeutet, sei dahingestellt. Doch die frustrierten und deprimierten Stimmen geben vor Ort nicht den Ton an.
Zu dieser Aufbruchskultur gehört erfreulicherweise auch, dass man stärker denn je bereit ist, von anderen Gemeinden zu lernen - oftmals auch über den eigenen theologischen und kontextuellen Horizont hinaus. In den vergangenen Jahren ist sogar ein gewisses Grenzgängertum zwischen volkskirchlichen und freikirchlichen Angeboten festzustellen. Kirchenmitglieder legen ihre Berührungsängste gegenüber anderen Frömmigkeitsformen zugunsten der Bereitschaft ab, sich auch von Erfahrungen ganz anderer Gemeinden anregen zu lassen. So ist es wohl auch zu verstehen, wenn ganze Kirchenleitungen, Pfarrkonvente und Vikariatskurse zu Studienreisen nach England aufbrechen, um sich in der anglikanischen Kirche von der Bewegung "Fresh Expressions" inspirieren zu lassen. Tatsächlich ist es eindrücklich, wie erfolgreich Initiativen in der Kirche von England Milieus erreichen, die den Kontakt mit der Kirche abgebrochen hatten oder denen die Kirche unvertraut war. Dabei ist mit der Aufmerksamkeit für Leute, die "non-churched" oder "de-churched" sind, immer wieder ganz bewusst und offensiv eine missionarische Grundabsicht verbunden und betont. Und in den evangelischen Landeskirchen Deutschlands und der Schweiz erhofft man sich von dieser amtskirchlich(!) verankerten - theologisch aber meist evangelikal bis charismatisch geprägten - Bewegung wesentliche Anstöße.
Preis bezahlen
Nun ist es natürlich so richtig wie notwendig, von frischen Bewegungen lernen zu wollen, wenn der Kirche fernstehende Zielgruppen diese als attraktiv und zeitgemäß ansehen. Im Prinzip ist auch nicht zu kritisieren, dass man im Kontext der Volkskirche wieder intensiver über eine missionarische Ausrichtung nachdenkt. Aber wichtig ist, dass man sich in den Landeskirchen klarmacht, was es heißt, in evangelischem Sinn profiliert zu sein. Damit steht in der jeweiligen landeskirchlichen Gemeinde die Frage der eigenen Identität auf dem Plan. Daher ist vor aller Projektentwicklung jeweils zu klären, woran man sich eigentlich als volkskirchliche Gemeinde orientieren will, wenn man den Blick über den eigenen Zaun hinaus wagt. Anders gefragt: Welchen Preis muss man unter Umständen bezahlen, wenn man sich einen bestimmten missionarischen Geist ins Haus holt?
Denn eines ist klar: Durch die Orientierung an einer konkreten Bewegung kauft man sich unter Umständen nicht nur eine Form ein, sondern auch eine inhaltliche Ausrichtung. Manche der "Fresh Expressions" leben zunächst zwar von einem niederschwelligen Zugang, erhöhen aber dann die Bleibebedingungen enorm, etwa durch eine Form von Gemeinschaftsgeist, dem man sich nur unter erheblichem Erläuterungsaufwand entziehen kann. Hinter manchem der Angebote steckt ein rigoroses Moralprogramm mit nicht geringen Zumutungen.
Warum aber sollen landeskirchliche Gemeinden überhaupt in die Ferne schweifen, wenn doch das Gute nach wie vor so nahe liegt? Anders gesagt: Es ist zuerst einmal an der Zeit, die Profilfrage mit den eigenen volkskirchlichen Ressourcen und Potenzialen intensiv anzugehen. Es gibt beste theologische Gründe, das eigene Erscheinungsbild aus eigenem Geist herauszustellen und weiter - kreativ und überzeugend - zu schärfen. Und dabei muss man einen auf geistliche Eindeutigkeit setzenden Umkehrschub ebenso vermeiden wie eine Haltung träger Besorgtheit und larmoyanter Sorglosigkeit. Gemeindeentwicklung verträgt Hysterie genauso wenig wie Lethargie. Demgegenüber sind eine Strategie dynamisch-gelassenen Aufbruchs und ein Erscheinungsbild profilierter Offenheit notwendig. Aber wie kann eine bestimmte Haltung dynamisch, also aufbruchsbereit, und zugleich gelassen daherkommen? Schließen "Profil" und "Offenheit" einander nicht aus?
Semper reformanda
Grundsätzlich gilt erst einmal: Die Kirche muss immer wieder erneuert werden, sie ist eine "ecclesia semper reformanda". Sie sollte immer profiliert in Bewegung sein, in ihr soll Gottes Wort erkennbar und lebendig verkündigt werden und zum Vorschein kommen. Luthers und Zwinglis Reformationen wären gescheitert, hätten sie sich nicht zeitgemäß verständlich machen können, hätten sie nicht den Puls ihrer Kultur gefühlt und hätten sie nicht politisch wie öffentlich klug agiert.
Von Anfang an haben zum Selbstverständnis evangelischen Glaubens die Suche nach einem eigenen Profil und seine Schärfung gehört. Und dies muss immer wieder neu und überzeugend kultiviert werden
1. Grundsätzlich ist zu fragen, ob bei der Frage nach der eigenen Identität bisher inspiriert genug gedacht worden ist. Haben die Gemeinden die Hoffnung auf Gottes Kraft? Oder geschieht alles, was geplant und gemacht werden soll, schlichtweg unter der Maxime menschlicher oder gar ökonomischer Vernunft? Erinnert sei daran, wie Paulus die Erwartung der Gemeinde in Korinth enttäuscht, die angesichts der drohenden Spaltung auf der Suche nach Orientierung ist: "Mein Wort und meine Predigt geschahen nicht mit überredenden Worten menschlicher Weisheit, sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft, damit euer Glaube nicht stehe auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft." Nicht in hohen menschlichen Worten wird verkündet, vielmehr rückt die geistvolle Aktivität Gottes ins Zentrum. Und dieser im wahrsten Sinn des Wortes inspirierte Ausgangspunkt sollte auch alle gemeindlichen Bemühungen um Erkennbarkeit prägen.
2. Indem Paulus auf Gottes Offenbarung jenseits aller Zeichen und menschlichen Weisheit verweist, sorgt er für eine erhebliche produktive Irritation. Indem er dazu auffordert, die Perspektive grundlegend zu ändern, wird schon jetzt manches, mitten in der Unsicherheit, neu und bewältigbar. Der christliche Glaube ändert die Weltsicht nicht fundamentalistisch, aber fundamental - auf ganz dynamisch-gelassene Weise. Erst der Blick auf das Kreuz - in all seiner Irrationalität, Torheit und Schwachheit - wirft das entscheidende Licht auf den Sinn christlicher Gemeinde. Angesichts der komplexen Herausforderungen auch für die Kirche ist gerade jetzt ein weisheitlicher Wechsel der Perspektive notwendig. Haben Gemeinden den Mut zu produktiver und profilierter Irritation? Sind Christen bereit, auch einmal sperrig zu argumentieren? Oder bleibt alles konventionell, wohlgeordnet, einschätzbar - und damit am Ende nur noch langweilig?
3. Die hörende Gemeinde ist zur Gegenrede aufgefordert, wenn sie sich profiliert zeigen will. Der Mut dazu zeichnete schon die Reformation aus: Keine Angst vor großen Tieren, keine Scheu vor dem rechten Wort zur rechten Zeit. Gerade angesichts der vielen Sinndeutungsangebote, die im Umlauf sind, ist ein christlicher Gegensinn so notwendig wie möglich. In den gegenwärtigen Verhältnissen ist die Gemeinde an ihre christliche Aufgabe zu erinnern, mutig alles auf den kritischen Geist der Liebe Gottes zu setzen. Es muss auch einmal in gut paulinischer Weise töricht gegen den Strich gebürstet, auf unkonventionelle und unbequeme Weise Gerechtigkeit gefordert und nicht locker gelassen werden, wo einem der Mund verboten werden soll. Christen sollen ein Stachel im Fleisch sein, das ist ihr eigentlicher missionarischer Auftrag in der Welt und für die Welt. Profilierte Kirchen- und Gemeindeentwicklung hat es also zu allererst mit einem geistlichen und von dort her ermutigten, mutigen Selbstbewusstsein zu tun.
4. Die Geschichte Jesu lässt sich so lesen, dass hier immer wieder neue, gelingende Beziehungen gesucht, ermöglicht und gestärkt werden. Jesu Begegnungen zeichnen sich dadurch aus, dass er dorthin aufbricht, wo es nicht komfortabel ist und angenehm zugeht, sondern hart und schwierig. Profilierten Gemeinden muss es um ein Verlassen der Komfortzone und die Suche nach neuen Kontaktzonen in der Gemeinde gehen. Dies beginnt schon mit der Überlegung, wo Kirche in ihrem Sozialraum überhaupt präsent ist: Kennt man wirklich alle Winkel des Gemeindegebietes? Ist man auch dort präsent, wo es weh tut und unbequem ist?
Die Rückkehr der so genannten "Dorfläden" als Kommunikations- und Identifikationsorte sollte Kirchengemeinden zu denken geben. Und so ist zu fragen: Kann sich Gemeinde als beziehungsfähiger Ort erweisen - auch und gerade denen gegenüber, die einem unendlich fremd und fern erscheinen, die einen möglicherweise sogar anwidern? Erinnert sei nur daran, dass die neuere Milieuforschung geradezu vom "Ekel" bestimmter Milieus vor anderen spricht. Und wovor ekelt man sich in mancher Gemeinde?
5. Kirche lebt gut neutestamentlich an den Orten, an denen Menschen sich tagtäglich darum bemühen, ein gelingendes Leben zu führen. Die Grundfrage ist nicht, was die Kirche in Zukunft braucht, sondern für wen die Kirche jetzt und in Zukunft nötig ist. Will man sich als kirchliche und gesellschaftliche Bestandswahrer verstehen, Verwalter dessen, was noch bleibt und weniger wird? Geht es nicht vielmehr darum, mit den noch vielfältigen anvertrauten Pfunden und Gaben zu wuchern und diese zu vermehren? Hat die Kirche Angst, als Spielverderberin zu gelten, und spielt sie deshalb die öffentlichen Machtspiele einfach mit?
Manchmal gewinnt man den Eindruck, die brisanten und überdeutlichen Forderungen eines Amos oder Micha seien postmodern so weichgespült worden, dass sie keinerlei Wirkungskraft mehr haben oder haben sollen. Sind diese eindringlichen prophetischen Botschaften nicht mehr zeitgemäß? Ist die Kirche also - gerade in Mitteleuropa - inzwischen wohlstandsverwahrlost?
Kirchen- und Gemeindeentwicklung ist kein Scheingeschäft, keine x-beliebige Spielwiese, sondern ein ernsthaft-fröhliches Geschäft. Wenn sich Gemeinden als volkskirchlich verstehen, braucht es eine wache und streitbare Kirche vor Ort. Es wird nämlich sehr genau registriert, ob Kirche nur im Saft der eigenen Biederkeit schmort oder sich von der Hoffnung der eigenen Botschaft tragen lässt.
6. Die Suche nach der eigenen Identität braucht Zeit, denn sie benötigt Leidenschaft und einen langen Atem. Aufbrüche geschehen in Gemeinden eben nicht von heute auf morgen. Dies bedeutet auch, dass bei der Frage nach der Zukunft von Kirche in Generationen zu denken ist.
Die Ortsgemeinde muss für Kinder und Jugendliche wieder zu einem begehbaren und attraktiven Ort, zum Raum eines Heimatgefühls werden. Somit sind alle Möglichkeiten zu nutzen, eine evangelische Sozialisation auf- und auszubauen. Nur früh gemachte positive Erfahrungen lassen Jugendliche und Erwachsene ein positives Verhältnis zur Gemeinde entwickeln. Dies muss seinen Ausdruck in Bildungs- und Gemeinschaftsangeboten finden und in einer ganz bestimmten Form der Annahme und Anerkennung. Die Zeiten eines frontalen katechetischen und belehrenden Unterrichts sind längst vorbei. Heute sind allein offene Angebote tragfähig, die die persönliche Mündigkeit und Freiheit der Jugendlichen befördern und so profiliert Erfahrungen gelingender und glaubwürdiger Kirche vermitteln.
Heimatgefühle
Die Zukunft der Kirche kann ohne den gemeinsamen Blick auf die mitmenschliche Geschichte Jesu Christi aber überhaupt nicht gedacht werden. Sonst bleibt sie Menschenwerk, pure Weltweisheit und erscheint darin seltsam aktionistisch. Gemeindeentwicklung beginnt mit der Frage jedes Einzelnen: Wo ist mein Ort und Platz in dieser Kirche? Wo kann und will ich für die gute Botschaft einstehen? Welche Menschen benötigen meine Kraft?
Profiliert offen sein heißt, sich als befreite, verantwortliche und hoffende Gemeinde zu verstehen. Abgrenzung, Ausgrenzung und Begrenzung sind jedenfalls keine Kategorien, unter denen die evangelische Kirche ihr eigenes, volkskirchliches Profil genauer schärfen sollte.
Ob man Gemeinde baut und ihre Zukunft sichert, ist aus guten Gründen unverfügbar. Aber von der eigenen Sache begeistert sein sollte, ja muss in Zukunft viel deutlicher gezeigt werden. Dass in vielen Gemeinden vieles immer noch und weiterhin gelingt, ist unbedingt weiterzusagen. Und Gott darf zugetraut werden, dass seine Zukunftsverheißung weiter reicht, als wir es uns gegenwärtig vorstellen können.
Thomas Schlag
Thomas Schlag
Dr. Thomas Schlag ist Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich.