Ausgang ungewiss

Ein Forschungsprojekt untersucht die Chancen von Gemeinden auf Zeit
Gottesdienst im Grünen auf der Kampenwand (Chiemgau).
Foto: epd
Gottesdienst im Grünen auf der Kampenwand (Chiemgau). Foto: epd
Neben der klassischen Ortsgemeinde, der die Mitglieder der evangelischen Landeskirchen automatisch angehören, gibt es viele andere Formen von Gemeinden. Ihnen widmet sich ein Projekt, das die Professoren für Praktische Theologie Peter Bubmann, Kristian Fechtner und ihre Kollegin Birgit Weyel begleiten. Sie zeigen, worum es bei dem Vorhaben geht. Und dabei wird deutlich, wie spannungsreich der Begriff "Gemeinde" ist.

Seit Lena als Jugendliche zum ersten Mal einen Kirchentag besuchte, ist sie dabeigeblieben. Bis heute, gerade hat sie ihr Studium abgeschlossen, hat sie keinen einzigen versäumt. Alle zwei Jahre erlebt sie beim Kirchentag fünf Tage Kirche.

Gunter gehört zur Biker-Gemeinde. Einmal im Jahr wird die Motorradsaison gemeinschaftlich begonnen und mit einer Sternfahrt abgeschlossen. Der Gottesdienst gehört für Gunter jedes Mal dazu.

Mit Kirche hat es Natascha nicht so sehr, aber sie singt für ihr Leben gern. Jüngst beteiligte sie sich an einem Chorprojekt der Stadtkirchenkantorei, acht Wochen regelmäßiges und intensives Üben, geistliche Musik einstudieren und aufführen. Die Mitsingenden und das Publikum waren zwei Monate lang ihre Gemeinde und vielleicht werden sie es irgendwann wieder.

Man könnte diese Reihe leicht fortsetzen. Die Art und Weise, wie Zeitgenossinnen und Zeitgenossen an kirchlicher Praxis teilhaben, hat sich verändert und vervielfältigt. Innerhalb und an den Rändern der Institution Kirche haben sich selektive und temporäre Teilnahme- und Teilhabeformen etabliert.

Die Kirchentheorie ist momentan ein florierendes Gebiet der Praktischen Theologie. Sie reagiert unter anderem auf Kirchenreformprojekte, wie sie die EKD angestoßen hat. An ganz verschiedenen Orten sind Konzepte entstanden, Gemeinden in neuen Formen zu gestalten. Und sie enthalten immer auch ein ekklesiologisches Programm. Bislang allerdings speisen sich die Konzepte aus Überlegungen und Vorannahmen, die empirisch noch nicht erkundet und gemeindetheoretisch kaum reflektiert sind: Was ist neu an solchen gemeindlichen Formen? Welches Teilnahmeverhalten verbindet sich mit ihnen? Wodurch fühlen die Beteiligten sich zugehörig? Wie verstetigen sich Projekte, Angebote und Gruppen?

Kirche bei Gelegenheit?

In dem von der EKD und der bayrischen Landeskirche unterstützten Forschungsprojekt "Gemeinde auf Zeit" werden derzeit unterschiedliche Gemeindeformen exemplarisch untersucht und praktisch-theologisch bedacht: In drei Dissertationsprojekten wird erforscht, ob und wie im Rahmen kirchlich-touristischer Veranstaltungen, durch besondere Gottesdienstformen und in christlich-musikalischen Großprojekten wie dem Zehn-Gebote-Musical so etwas wie Gemeinde entsteht. Gibt es Kirche bei Gelegenheit, die als Gemeinde auf Zeit verstanden werden kann?

Die Arbeit der Promovierenden wird durch eine Projektgruppe aus Kirchenleitung und Praktischer Theologie begleitet. In ihr verbinden sich wissenschaftliche Wahrnehmungen mit Fragen kirchlichen Handelns.

Wenn Kirche dort geschieht, wo Menschen an der Kommunikation des Evangeliums teilhaben, sind die Formen kirchlicher und gemeindlicher Praxis nicht vorab festgelegt. Sie haben sich als dauerhafte wie als zeitlich begrenzte Formen daran zu bemessen, ob Menschen heute - auch partiell und ihren lebensweltlichen Voraussetzungen entsprechend - an ihnen partizipieren (können). Dies geschieht nach wie vor im lokalen, wohnweltlichen Nahbereich, aber mehr und mehr auch in den mobilen Welten von Freizeit und Urlaub, in regionalen Bildungseinrichtungen oder überregionalen Kulturereignissen. Wo finden sich Kristallisationspunkte für unterschiedliche gemeinschaftliche Formen kirchlicher Praxis? Wodurch zeichnen sie sich aus, so dass sie die Bezeichnung "Gemeinde" verdienen? Worin liegen ihre besondere Chancen und Probleme?

Drei Dimensionen

Die Projektgruppe folgt zunächst dem Leitbegriff "Gemeinde auf Zeit", weil sie davon ausgeht, dass Gemeinde im theologischen Sinne nicht mit der örtlichen, rechtlich verfassten Kirchengemeinde in eins fällt. Der spannungsreiche Begriff der Gemeinde verknüpft vielmehr drei Dimensionen: Er bezeichnet ein geistliches Geschehen ("Gemeinde entsteht, wo ..."), eine empirische Gestalt ("Kirche organisiert sich in Form von ...") und ein kritisches Anliegen ("Von Gemeinde im evangelischen Sinn ist zu sprechen, wenn ...").

Empirisch gesehen werden heute unter "Gemeinde" sehr unterschiedliche Organisationsformen zusammengefasst. Sie reichen von der lokal verfassten Kirchengemeinde über zielgruppenorientierte Personalgemeinden bis hin zu Richtungsgemeinden, die ein spezifischer Frömmigkeitsstil auszeichnet.

Allerdings gilt: Der Gemeindebegriff ist seiner Geschichte entsprechend vorrangig durch eine stabile Territorialität definiert, da er zunächst den Ort bezeichnete, auf dem "gemeine gehalten" wurde. Und das wurde auf die sich versammelnden Menschen übertragen.

Die Vorstellung des vielfältigen, auf Dauer gestellten, gemeinsamen Lebens lud den Gemeindebegriff im 20. Jahrhundert normativ stark auf. Der Dresdner Pfarrer und Kirchenreformer Emil Sulze (1832-1914) und der Theologe Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) hatten zu Beginn des 20. Jahrhunderts Theorien entwickelt, die sich auf je eigene Weise bis heute als wirkungsmächtig erwiesen haben. An ihnen zeigt sich auch: Das Bild von Gemeinde als persönlicher und verbindlicher Gemeinschaft ist eine moderne Prägung, die kulturkritische Anteile in sich aufgenommen hat. In ihr sollen Intimität statt Anonymität, Fürsorge statt Ignoranz und eben auch Dauerhaftigkeit statt Flüchtigkeit vorherrschen: "Im letzten Grunde ist unser Bestreben darauf gerichtet, die kirchlichen Gemeinden in Vereine umzuwandeln, deren Mitglieder sich kennen und lieben und ihre Liebe einander durch die Tat, vor allem durch ernste seelsorgerliche Arbeit beweisen", schrieb Sulze 1912. Der Gemeindebegriff griff also über die von Mal zu Mal gottesdienstlich versammelte Gemeinde hinaus. Er zielte auf eine intensive und stabile Beteiligung am vereinsförmig organisierten kirchlichen Leben.

Fluide Formen

Dies ist aber theologisch nur als eine Form der Realisierung von Kirchenmitgliedschaft zu begreifen. Sie darf nicht allgemein normativ gesetzt werden. Insbesondere durch die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD ist das Bewusstsein gewachsen, dass es in sich konsistente Gestalten gelebter Kirchlichkeit gibt, die nicht territorialgemeindlich bestimmt sind, sondern fluide gemeinschaftliche Formen ausbilden.

Unter der Chiffre "Gemeinde auf Zeit" sollen innerhalb des Forschungsprojektes Formen des zeitlich begrenzten Erlebens von Gemeinde in den Blick genommen werden. Dies schließt ein, sowohl die Organisationslogik der Praxisgestalten (kirchlich-institutionelle Betrachtung) als auch die Motive und Erfahrungen der Beteiligten (Perspektive der Akteure) aufzunehmen und aufeinander zu beziehen. Nun sind empirisch gesehen alle Formen von Gemeinde Veranstaltungen auf Zeit, auch Ortsgemeinden. Dies gilt zumindest für die Beteiligten, auch wenn die parochiale Gemeinde institutionell dauerhaft eingerichtet ist.

Eventforschung zu Rate ziehen

Im Gegenzug gilt theologisch wiederum: Selbst höchst flüchtige oder situativ begrenzte Formen von Gemeinde verweisen auf die eschatologische Gemeinde Jesu Christi, die nicht zeitlich gebunden, sondern ewig ist. "Gemeinde auf Zeit" ist in diesem Sinne eine von der klassischen Ortsgemeinde lediglich graduell unterschiedene Lebensgestalt von Kirche. Gleichwohl ist es in praktisch-theologischer Absicht zunächst sinnvoll, unter den Begriff gemeindliche Gestaltungsweisen und kirchliche Praxisformen zu rubrizieren, die sich von der territorial definierten und durch formalisierte Zugehörigkeit bestimmten Ortsgemeinde unterscheiden. Positiv lassen sich vier Merkmale anführen, die es erlauben, von einer Gemeinde auf Zeit zu sprechen:

Sie weist eine konkrete Örtlichkeit auf, bildet einen (Er-)Lebensraum, in dem sich die Beteiligten (zeitweise, situativ-punktuell) bewegen, in dem sie agieren oder auf den sie sich beziehen.

Die Praxis ist als kirchliches Geschehen identifizierbar und beruht auf personaler Präsenz und Interaktion. Ein besonderes Augenmerk gilt dem Aspekt der Leiblichkeit religiöser Praxis. Zumindest aus forschungspragmatischen Gesichtspunkten bleibt damit das Feld der Social Media und der virtuellen Formen von "Gemeinde" in den Forschungsarbeiten unberücksichtigt

Soziales Netzwerk

Der gemeindlich-gemeinschaftliche Charakter des Geschehens wird (symbolisch) zur Darstellung gebracht und findet seinen Niederschlag auch in den Deutungen der Beteiligten.

Gemeinden auf Zeit haben ein organisiertes Setting. Sie sind im (Verantwortungs-)Bereich der Kirche situiert oder mit ihr verknüpft, sie kennen professionelle Leitungsrollen oder Verantwortlichkeiten.

Aus der sozialwissenschaftlichen Diskussion ist zu lernen, dass Gemeinde als soziales Netzwerk verstanden werden kann. Zwischen dem Organisationshandeln der Kirche und den privaten Beziehungen agieren Menschen in gemeindlichen Zusammenhängen auf einer mittleren Ebene sozialer Kontakte und Beziehungen. Und wie sind sie in einer Gemeinde auf Zeit sozial vernetzt?

Kulturelles Leben findet heute nicht nur institutionell gebunden statt, sondern in Gestalt besonderer Ereignisse und Events. Das gesteigert Erlebnishafte wird auch zum Signum zeitgenössischer Religiosität. Auf welchen Formen und Gehalten (meist sinnenhaften) Erlebens beruht die Gemeinschaftlichkeit gegenwärtiger kirchlicher Praxis? Hier ist die kulturwissenschaftliche Eventforschung zu Rate zu ziehen.

Symbolischer Raum

Schließlich: Wo immer gemeindliche Formen kirchlicher Praxis entstehen, gestalten sie einen eigenen sozialen und symbolischen Raum. Sie sind auf eine konkrete Örtlichkeit bezogen. Sozialanthropologische Theorien haben in den vergangenen Jahren den Sinn für die Bedeutung und den Charakter religiöser Räume im Gegenüber zum Alltag geschärft.

Noch ist nicht abzusehen, ob sich Gemeinde auf Zeit als ertragreiche kirchentheoretische Perspektive erweist. In der Regel tragen empirische Erkundungen ja zur Entmythologisierung bei. Vielleicht zeigt sich, dass in der Spätmoderne jenseits der Parochie keineswegs nur gemeindliches Brachland und kirchliches Niemandsland liegt. Umgekehrt könnte möglicherweise aber auch deutlich werden, dass die evangelische Kirche auch in Zukunft kaum ohne institutionalisierte Ortsgemeinden auskommt.

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Peter Bubmann / Kristian Fechtner / Birgit Weyel

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Peter Bubmann

Peter Bubmann ist Professor für Praktische Theologie (Religions- und Gemeindepädagogik) im Fachbereich Theologie an der Friedrich Alexander Universität Erlangen.


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