Manche freuen sich am Wochenende auf die Bundesliga, ich freu mich auch auf die Kolumnen von Sibylle Berg, der letzten Weimaranerin von Rang. Eine Don Quichotte, die es schafft, die Klinge nahtlos von der Entlassung der Kunst- und Kulturkritiker des "Independent on Sunday" ins glitschige Mark des waltenden Non-Esprits zu stoßen: "Spitzen und Tiefen unserer Gesellschaft werden von der Evolution beseitigt. Was bleiben wird, sind die Kakerlaken und der durchschnittliche Mensch mit einem durchschnittlichen Gehirn. Mit Tischmanieren und einer kompletten Nicht-Infragestellung des regulativen kapitalistischen Systems, das uns gerade umgibt. Zombies, die arbeiten und im Anschluss organisches Essen verzehren, Unterhaltungsbücher konsumieren, Unterhaltungsfilme schauen, Rad fahren und sterben."
Ähnlich bedeutend wie Sibylle Berg sind die Goldenen Zitronen, die sich nun mit "Who's bad" zurückmelden. Fünfzehn Songs à la "Der falsche Kuss" und "Typ, Lederjacke, in der Ecke stehend". Sie sind ebenso angreifbar wie die Berg, denn auch sie haben ein Anliegen in diesen unverbindlichen Social-Media-Zeiten. Schließlich steht manchmal unser Leben auf dem Spiel. Oder eigentlich immer.
Darum schön, dass sie es verweigern, die Lufthoheit der Phrasen und falschen Versprechen hinzunehmen. Dass Investoren per se als Gute gelten, Gewinn als Segen. Freches Behaupten unwidersprochen bleibt. Engagement für St. Paulis Esso-Häuser ("Echo-Häuser") und gegen Gentrifizierung gehört ebenso dazu wie das tagebuchartige Ringen um Identität ("Ich verblühe"). Mit Schorsch Kameruns quecksilbrigem Deklamieren und treffendem Sounddesign finden sie immer die richtigen Mittel, literarisch starke Texte (von scheinbarer Stegreifbeschwerde bis zu purer Poesie) ohnehin. Sinnlich, sexy und doch ernst. Sätze, Bilder und Gedanken bleiben hängen. Geist, der sich materialisiert. Ob "mittelständischer Warhol in seinem Selbstverwaltungsalltag" oder Wunsch nach "Propaganda der Tat".
Die Duisburger Love-Parade-Katas-trophe kehrt mit Hörspiel- und Feature-Elementen als Düster-Dub-Tunnel wieder. "Bei Neo Rauch habe ich wirklich meine Zweifel." Gang of Four und Kraftwerk zitieren sie smart. Dieser Geist hat Flügel, die sinnlich tragen: "Wer weiß! Wer weiß? Alle Scheinwerferspots herein. Es hieß, Privates muss politisch sein. Jeder ist für alle heute Öffentliches, jeder ist für jeden Familiäres ... Ich möchte nicht, dass man mir meine Vorteile aufzählt, ich will auch nicht mit Gelegenheit in Verlegenheit gebracht werden, ich will auch nicht meine Ruhe haben. Ich will in Ruhe gelassen werden." Toll.
Die Goldenen Zitronen: Who's Bad (Buback Tonträger/Indigo 2013)
Udo Feist
Udo Feist
Udo Feist lebt in Dortmund, ist Autor, Theologe und stellt regelmäßig neue Musik vor.