Im Jahre 2006 veröffentlichte der Tübinger Kirchenhistoriker Volker Leppin seine große Luther-Biographie. Nun erscheint so etwas wie eine Kurz- oder Volksausgabe dieses Werks. Aber Kürze zwingt zur Klarheit, weshalb das Buch seine Meriten hat. Leppins Ausgangspunkt: Er hält sich streng an die Quellen, seine Interpretationen sind nie Aufschwünge zu Wunsch-Idealisierungen. Der Thesenanschlag - nur das buchstäbliche Anschlagen - bleibt dabei auf der Strecke, doch das ist mittlerweile selbst für Laien keine Überraschung mehr. Leppins Frage: Ist Luther der Heros, der mit seinen virtuellen, geschichtsmythologisch hallenden Hammerschlägen den Durchbruch zu einer neuen Zeit, gar zu einer neue Epoche der Weltgeschichte freigelegt hat? Ist er selbst wenigstens im strengen Sinne ein Mann der neuen Zeit?
Volker Leppin sagt zu beidem nein. Er sieht Luther als jemanden, der als Mensch und Theologe tief im Mittelalter steckte und sich nur sehr allmählich und niemals vollständig aus ihm löste. Psychologen kennen das Phänomen der rückwirkenden Interpretation des eigenen Lebens. Leppin zeigt, dass vieles von dem, was im Lauf der Jahrhunderte in den eisernen Bestand jedes Lutherbildners einging, auf die nachträglichen Selbststilisierungen des Reformators zurückgeht. So sei es keineswegs ausgemacht, dass es Luther von Anfang an um die Rechtfertigungsfrage - wie bekomme ich einen gnädigen Gott? - gegangen sei, und auch nicht, dass ihm die richtige Antwort - "nur durch die Gnade" plötzlich auf jenem Örtchen zugefallen sei, das, wie oft vermutet, das buchstäblich "anrüchige" war.
Nach seinem Aufenthalt auf der Wartburg stieg Luther geradezu kometenhaft zum Star der neuen Glaubensbewegung auf, so sehr, dass er es in den sächsischen Landen fast zu einem Ersatzbischof brachte. Doch der Bauernkrieg 1524 /25 führte zu einem Bruch in Luthers Biographie. Wie viele Erklärungen oder gar Entschuldigungen für Luthers brachialen Schrift "Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern" auch schon vorgebracht wurden - von ihrer Veröffentlichung an taugte der Reformator nur noch sehr bedingt zum Freiheitshelden. Dass seine Heirat ausgerechnet in die Zeit fiel, in der die Bauern noch abgeschlachtet wurden, machte die Sache nicht besser.
Immerhin: Als Schiedsrichter in Glaubensdingen wurde er noch gesehen. 1529 wurde er mühsam dazu gebracht, mit Zwingli, dem Schweizer Reformator, in Marburg über eine Einigung im Abendmahlsstreit zu verhandeln. Der Versuch scheiterte. Künftig wurde Luther allmählich von der politischen Gestaltung ausgeschlossen, wenn auch unter ständigen Respektserweisungen: Der große Mann, das war allen klar geworden, hielt nichts von der Kunst des Kompromisses, er argwöhnte, sie sei des Teufels. Statt Luther mussten künftig Melanchthon und andere an die religionspolitische Front. Nicht unwahrscheinlich, dass Luther darüber verstimmt war, seine murrende Zustimmung zum Augsburger Bekenntnis, dessen Entstehung er 1530 auf der Veste Coburg abwarten musste, erlaubt die Vermutung: "...weiß nichts dran zu bessern noch ändern, würde sich auch nicht schicken, da ich so sanft und leise nicht auftreten kann."
Schwierige Klippen für jede positive Lutherdeutung sind die beiden späten antijüdischen Schriften Luthers, eine hieß Von den Juden und ihren Lügen. Sie sind zu schrecklich, als dass der Eindruck durch einfühlendes historisches Verstehen wesentlich gemildert werden könnte - ihr Kern: Die Juden hätten von allem Anfang an das Wirken des Satans auf Erden repräsentiert. Ein Zyniker könnte behaupten, Luther habe, wenn es ihm darum gegangen wäre, als makellos strahlender Glaubensheld in die Geschichte einzugehen, verpasst, zum rechten Zeitpunkt abzutreten. Die einen werden Leppins nüchterne Darstellung für wohltuend kühl halten, die anderen für unterkühlt. Beides schafft genug Distanz, um auch die Bedingungen seiner Sicht zu bedenken: Wurde Kontinuität überhaupt je schlagartig gebrochen? Wenn ja, dann wohl nur durch Naturkatastrophen und Genozide. Epochenbrüche sind eben nur Interpretamente. Luther war ein Kind des späten Mittelalters, gewiss, und seine Gestalt und sein Wirken sind nur aus seiner Zeit heraus zu deuten. Damit ist weder der Stab über den Teil der Wirkungsgeschichte gebrochen, der heroische Akzente bevorzugte, noch auch wird damit die Einsicht in Acht und Bann getan, dass sich keines Menschen Größe für alle Zeit konservieren lässt. Irgendwann wird sie unweigerlich neu verhandelt. Das Lutherbild mag dabei auf menschliches Maß schrumpfen. Doch es ist nicht das Schlechteste an unserer Zeit, dass sie Größe und Lebensgröße nicht für Widersprüche hält.
Volker Leppin: Martin Luther. Lambert Schneider Verlag, Darmstadt 2013, 144 Seiten, Euro 19,90.
Helmut Kremers
Helmut Kremers
war bis 2014 Chefredakteur der "Zeitzeichen". Er lebt in Düsseldorf. Weitere Informationen unter www.helmut-kremers.de .