Wissen macht stark

Ein Trauerverein hat Sabine Waschik geholfen, ihre Trauer zu bewältigen
Sabine Waschik (links) und Diakonin Annette Wagner im Zentrum für Kinder- und Jugendarbeit in Hattingen. Foto: Sabine Damaschke
Sabine Waschik (links) und Diakonin Annette Wagner im Zentrum für Kinder- und Jugendarbeit in Hattingen. Foto: Sabine Damaschke
Als ihre älteste Tochter mit achtzehn Jahren starb, fühlte sich Sabine Waschik aus Witten wie erstarrt. In einer Gruppe für verwaiste Eltern fand sie das Mitgefühl und die Hilfe, die sie brauchte, um ihren Alltag wieder bewältigen zu können. Heute arbeitet sie selbst im Hattinger Verein für Trauerarbeit "traurig-mutig-stark" mit. Sabine Damaschke hat sie besucht.

Inas bunte Sneaker stehen noch im Flur, ihr selbstgebastelter Engel hängt am Küchenfenster und ihr Kopfkissen liegt im Bett der kleinen Schwester. Überall im Haus seien noch Spuren ihrer Tochter zu finden, erzählt Sabine Waschik. Auch fünf Jahre nach ihrem Tod will niemand aus der Familie Ina ganz gehen lassen. "Sie gehört immer noch zu uns, denn sie hat ja achtzehn Jahre lang unser Leben geprägt."

Die Erinnerungen als einen Schatz ansehen, der Ina im Herzen lebendig hält, aber sich nicht in dem damit verbundenen Schmerz zu verlieren - das sei ein schwerer und harter Weg gewesen, gibt die 47-jährige Mutter aus Witten bei Bochum zu. Ein Weg, den sie noch nicht zu Ende gegangen ist. Denn einer Erinnerung kann sie sich nicht stellen: "Vom Tag der Beerdigung weiß ich nichts mehr, er ist ein schwarzes Loch für mich."

Den Text der Trauerrede, die Kondolenzkarten, Inas Brille, ihr Handy, ihren Walkman, die kleinen Liebesbriefe zum Muttertag - alles hat sie in eine hellbraune Holzkiste gepackt und einen dicken Fernseher darauf gestellt. Öffnen konnte sie sie bislang nicht.

"Zwar war uns allen klar, dass Ina mit ihrer schweren Herzerkrankung nicht sehr alt werden würde", erzählt sie. "Aber als sie dann plötzlich mit achtzehn Jahren gestorben ist, war ich darauf nicht vorbereitet." Wie erstarrt sei sie gewesen, völlig abwesend. "Da war nur noch ein ganz großes Gefühl der Leere." Für ihre beiden anderen Kinder Philipp und Kim hat sie damals funktioniert, das Essen gekocht, das Haus aufgeräumt. Doch die innere Unruhe, die Schlaflosigkeit und die Verzweiflung blieben.

Riesige Lücke

"Inas Tod riss eine riesige Lücke in mein Leben, das stark von der Sorge um sie geprägt war", sagt Sabine Waschik. Oft hatte sie ihre herzkranke Tochter zu Therapien fahren und immer wieder ins Krankenhaus begleiten müssen. Außerdem benötigte Ina als Kind mit Trisomie 21 mehr Unterstützung im Alltag als ihre beiden anderen Kinder. "Mir kam es so vor, als wenn der Kalender leer wäre, als würde ich nicht mehr gebraucht, denn Philipp und Kim waren mit ihren sechzehn und elf Jahren schon sehr selbstständig."

Sabine Waschik empfand sich mit ihrer Trauer alleine, unverstanden, hilflos. Freunde und die Familie konnten ihr nicht den Trost geben, den sie suchte. "Jeder von uns hat auf seine eigene Art um Ina getrauert und war mit sich selbst beschäftigt. Mein Mann suchte Ablenkung in seiner Arbeit, Philipp redete nie über Inas Tod und zog sich zurück, Kim weinte viel und hatte Panik, ein weiteres Familienmitglied könnte sterben."

Ein halbes Jahr nach dem Tod ihrer Tochter beherzigte Sabine Waschik den Rat ihres Hausarztes und meldete sich und ihren Mann bei der "Verwaisten Elterngruppe" des Vereins für Trauerarbeit in Hattingen im Ruhrgebiet an. Eine überschaubare Gruppe mit acht Teilnehmern, konfessionsübergreifend und begrenzt auf zehn Treffen unter der Leitung einer professionell ausgebildeten Trauerbegleiterin - das gefiel ihr besser als die Selbsthilfegruppen, von denen sie bislang gehört hatte.

"Es tat mir unheimlich gut, auf Menschen zu treffen, die Ähnliches erlebt hatten und meine Gefühle der Traurigkeit, Wut und Leere verstehen konnten", erzählt sie. Auch wenn der Kummer der anderen Eltern manchmal kaum auszuhalten gewesen sei. Doch die klare Struktur der Treffen half ihr, sich nicht in der Trauer zu verlieren und aufmerksamer für andere zu werden. Jedes Treffen steht unter einem bestimmten Thema. Es gibt einen meditativen Impuls in Form von Texten, Liedern oder Gebeten und eine bestimmte Redezeit für jeden Teilnehmenden.

Wo ist das Kind jetzt?

"Besonders religiös bin ich nie gewesen", betont Sabine Waschik. "Aber wie alle verwaisten Eltern hat mich natürlich die Frage beschäftigt, wo mein Kind jetzt eigentlich ist." Insofern sei es allen Teilnehmenden ein Anliegen gewesen, sich über Spiritualität auszutauschen und diese auch in Form von Kerzen, Liedern, Texten und Gebeten zu leben. Zumal das Jenseits für die verstorbenen Kinder durchaus eine Rolle spielte. "Kurz bevor Ina starb, erzählte sie uns allen, ihr toter Großvater sei im Traum zu ihr gekommen und habe zu ihr gesagt, es sei Zeit, dass sie zu ihm kommt."

Seit seiner Gründung arbeitet der Verein mit einem themenorientierten Konzept. Mit Ausnahme des Trauercafés, das für alle Trauernden offen ist, spielt es in den verschiedenen Gruppen eine zentrale Rolle. Ob es sich um verwaiste Eltern, jüngere Verwitwete oder Kinder und Jugendliche handelt - alle setzen sich damit auseinander, wie das Leben mit dem Verstorbenen war, wie sie seinen Tod und die Beerdigung erlebt haben, wo sie ihn nun vermuten, wie ihr Leben ohne den Verstorbenen ist und wie sie es neu gestalten können.

Die Hattinger Pfarrerin Annedore Methfessel startete den Verein 1999, um außerhalb von Kirche und Hospizbewegung ein professionelles Angebot für trauernde Menschen zu schaffen. Der Verein hat dafür Räume in Witten, Hattingen und Wuppertal angemietet. "Als wir uns damals gründeten, waren wir weit und breit die einzigen, die so viele verschiedene Gruppen für Trauernde anboten", erzählt sie.

Bis heute kommen Menschen aus dem ganzen Ruhrgebiet in die Trauergruppen. Jedes Jahr entsteht mindestens ein neues Angebot für verwaiste Eltern, Verwitwete, Kinder und Jugendliche. Nach den zehn - in der Regel dreistündigen Treffen - machen die meisten Gruppen einen weiteren Turnus, danach treffen sich viele privat, denn oft entstehen Freundschaften.

Sabine Waschik fühlte sich nach zwei Jahren stark genug, um ihren Weg ohne die Trauergruppe weiterzugehen. Wie viele andere verwaiste Eltern hatte sie den Wunsch, etwas Sinnvolles zu tun und anderen Menschen zu helfen. Als der Verein sie fragte, ob sie einmal in der Woche im Trauercafé in Hattingen dabei sein könne, sagte sie sofort ja. Den Trauernden zuhören und manchmal mitweinen, aber ihnen auch Mut machen, neue Wege auszuprobieren, wenn es um einsame Abende oder Urlaub geht - Sabine Waschik merkte sofort, dass ihr das ehrenamtliche Engagement im Trauercafé lag.

Bis in die Träume

Doch manchmal gab es auch das Gefühl der Überforderung. Etwa, wenn andere verwaiste Mütter ins Café kamen und ihre tiefe Traurigkeit Sabine Waschik bis in ihre Träume verfolgte. Oder wenn alleinstehende Frauen ihr anvertrauten, dass sie in ihrer Einsamkeit immer wieder an Suizid denken. "Mir fehlte die professionelle Distanz, das Handwerkszeug, damit angemessen umzugehen", erklärt Sabine Waschik. Vor zwei Jahren entschloss sie sich daher, sich zur Trauerbegleiterin und Seelsorgerin ausbilden zu lassen - und zwar nach den Standards der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie.

Gemeinsam mit Theologinnen, Sozialarbeitern und Hospizkoordinatorinnen saß die gelernte Einzelhandelskauffrau schließlich in den berufsbegleitenden Kursen der pastoralpsychologischen Weiterbildung in Seelsorge (KSA). "Unter all den Akademikern hatte ich anfangs Hemmungen", gibt sie zu. "Aber dann merkte ich, dass ich Stärken auf anderen Ebenen habe." Annedore Methfessel, die als Lehrsupervisorin der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsycholgie arbeitet, ermutigte sie, weiterzumachen. "Wir brauchen in dieser Arbeit unbedingt Menschen, die Trauer selbst erfahren haben und aus praktischen Berufen kommen", betont sie.

Noch während der zweijährigen Ausbildung fing Sabine Waschik an, eine weitere ehrenamtliche Aufgabe im Verein für Trauerarbeit zu übernehmen. Sie unterstützte Seelsorgerin Karin Klemt in einer Verwaisten-Eltern-Gruppe. Ende 2012 kam sie ins neu gegründete Zentrum für Kinder- und Jugendarbeit in Witten. In den bunt gestalteten Räumen, in denen die Pädagogische Leiterin des Zentrums, Annette Wagner, die Kinder- und Jugendgruppen anbietet, führt sie nun Gespräche mit den Eltern. "Viele sind verunsichert über das Verhalten ihrer Kinder."

Schließlich trauern Kinder anders als Erwachsene, sind sprunghafter in ihren Emotionen, ziehen sich zurück oder stellen Fragen zum Sterben eines Eltern- oder Geschwisterteils oder zur Beerdigung, mit denen die trauernden Erwachsenen überfordert sind. "Kinder wollen alles ganz genau wissen", berichtet Annette Wagner. "Deshalb dürfen sie bei uns jede Frage stellen - ob der Mama nach ihrem Tod wirklich die Augen zugeklebt wurden oder wie Papa eigentlich in die Urne passt." Mit jedem Kurs geht die Diakonin zum Bestatter - ein Besuch, der viele Eltern beunruhigt.

Kinder ernst nehmen

"Frau Waschiks Job ist es, diese Bedenken auszuräumen." Denn in den zehn Jahren, die Annette Wagner Trauergruppen für Kinder anbietet, hat sie stets das Gegenteil erlebt: "Kinder fühlen sich ernst genommen, weil sie endlich erfahren, was genau bei der Beerdigung passiert ist." "Wissen macht stark", so lautet das Motto von Wagners Arbeit. Sie möchte aus traurigen Kindern mutige und starke machen.

Ein Vorsatz, der ihr meistens gelingt, beobachtet Sabine Waschik. Viele Kinder kämen ganz verunsichert in die Gruppen und trauten sich kaum, in ihren Familien über ihre Trauer zu reden und ihre Gefühle zu zeigen. "Wenn sie wieder gehen, sind sie selbstbewusster und offener."

Regelmäßig betreut Annette Wagner auch trauernde Jugendliche ab dreizehn Jahren. Doch für diese Gruppen gibt es keine vom Verein festgelegten Termine. Die Jugendlichen verabreden sich über Facebook und bleiben dann einen ganzen Tag zusammen, um ihre Lieblingsmusik zu hören, die Liedtexte zu übersetzen, die ihnen in der Trauer wichtig geworden sind, um zusammen zu kochen, zu essen und zu reden. Auch hier ist Sabine Waschik dabei.

Doch nicht nur sie kommt, auch ihre Tochter Kim besucht seit einem halben Jahr die Treffen. "Es ist schön, dass sie dafür offen ist", meint Sabine Waschik - und sieht mit Erstaunen, wie mutig und stark Kim geworden ist. So mutig, dass sie sich traut, den Fernseher von der Erinnerungskiste zu nehmen und sie zu öffnen. "Eines Tages werde ich das auch machen", meint Sabine Waschik zuversichtlich und lacht. "Aber heute kann ich das noch nicht. Ich habe einfach Angst davor, dass ich mit der bewussten Erinnerung den Deckel öffne, der das Letzte schließt."

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Sabine Damaschke

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