Zwischen allen Stühlen

Vor fünfzig Jahren starb Otto Flake, ein exemplarischer deutscher Schriftsteller
Arthur Grimm: Otto Flake, 1931. Abb. aus: Otto Flake, Logbuch, Bertelsmann, 1970
Arthur Grimm: Otto Flake, 1931. Abb. aus: Otto Flake, Logbuch, Bertelsmann, 1970
Otto Flake war ein Autor, der vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik das geistige Leben Deutschlands mitprägte. Helmut Kremers erinnert an ihn.

Otto Flake war eine paradigmatische Gestalt der deutschen Literatur, dafür, was von ihr noch in lebendiger Erinnerung ist, was nicht. Flake war einmal ein Erfolgsschriftsteller des Fischer-Verlags, seine Karriere begann vor dem Ersten Weltkrieg, im Zenit stand er in den Zwanzigerjahren. In der Nazizeit begann sein Abstieg, nach dem Krieg gelang ihm nicht mehr der Anschluss, inzwischen gehört er zu den fast Vergessenen. Darin liegt das Exemplarische: Von den deutschen Schriftstellern der Vergangenheit ist nur noch eine kleine auserwählte Schar im öffentlichen Gedächtnis präsent, und sie wird immer kleiner.

Flake war insofern ein eigenwilliger Vertreter des deutschen Geistes in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als er in seinem literarischen Werk für eine aufgeklärte, weltoffene, selbstbewusste Form von Bürgerlichkeit plädierte - weder war er vor 1914 ein Vertreter eines Fin-de-siècle-Ästhetizismus à la Hofmannsthal oder ein Sinnsucher à la Hesse, noch auch in den Zwanzigerjahren einer im Klassenkampfhabitus wie Bert Brecht.

In einem aber unterschied er sich nicht von anderen jungen Wilden seiner Zeit, auch er wollte den Dingen auf den Grund gehen, er stürzte sich in Studien über die condition humaine und das Nachdenken darüber - viel zu früh, urteilte er später, zehn Jahre habe er gebraucht, um wieder ins Lot zu kommen.

Allein bei seiner Mutter

Geboren 1880 in Metz, wuchs er in Colmar als Einzelkind bei seiner alleinerziehenden Mutter auf. Sein Studium der Kunstgeschichte schloss er nicht ab, er verdiente sein Geld als Mitarbeiter von Zeitungen, etwa von Samuel Fischers "Neuer Rundschau", dem 1890 gegründeten, noch heute existierende Literatur-Monatsblatt. Seine Leidenschaft war das Reisen, 1912 veröffentlichte er Notate über sie: den ersten Teil seines Logbuchs, bis 1931 sollte er es fortführen, ohne sich auf seine Reiseerlebnisse zu beschränken. Seine ersten Romane, "Schritt für Schritt" (1912), "Freitagskind" (1913), waren autobiographisch grundierte Entwicklungsromane, daneben entstanden Essays zur französischen Kultur und eine "Geschichte des französischen Romans" (1912).

Dann aber kam der Erste Weltkrieg. Der war nicht seine Sache. Inmitten lauter Kriegsbegeisterten blieb er kühl, den preußischen Militarismus hatte er von jeher verabscheut (nichts Besonderes bei einem Elsässer), und seit vielen Jahren bewegte er sich zu beiden Seiten der deutsch-französischen Grenze wie ein Fisch im Wasser, zutiefst davon überzeugt, dass Frankreich und Deutschland von einem intensiveren Kulturaustausch nur gewinnen könnten. Er, der sich nach 1918 für Deutschland entscheiden sollte, hielt den Deutschen die Schwerfälligkeit im gesellschaftlichen Umgang vor, beklagte das Erscheinungsbild der deutschen Frau, das von der erst allmählich sich auflösenden Unterordnung unter den Mann geprägt sei. Dagegen setzte er die Eleganz und das Selbstbewusstsein der Französinnen, sie gäben gewissermaßen die Blaupause für die europäische Frau der Zukunft. Aber ohnehin war er davon überzeugt und schrieb immer wieder darüber, dass die Emanzipation der Frau längst um die Jahrhundertwende begonnen habe, und dass sie sich nicht aufhalten ließ. Noch kurz gegen Ende seines Lebens kam er darauf zurück: "Die Frauen werden in den künftigen Jahrhunderten die Kühnen, die Hemmungslosen, die Durstigen, die Abenteuerinnen sein, die gründlich Emanzipierten. Das Leben wird noch farbiger, noch erregender werden, noch gefährlicher und neurotischer."

Souveräne Bürgerlichkeit

Ein europäischer Krieg war da nichts anderes als ein Unglück. Flake fand einen Arzt, der ihm eine nicht vorhandene Herzschwäche bescheinigte (es war Carl Ludwig Schleich, dessen Autobiographie "Besonnte Vergangenheit" einer der erfolgreichsten Bücher seiner Zeit war), und brachte den Krieg in der deutschen Zivilverwaltung in Brüssel hinter sich.

Kurz nach dem Ersten Weltkrieg schloss er sich in Zürich den Dadaisten an, auch er mitgerissen von dem Gefühl, dass mit den traditionellen Formen in Kunst und Literatur radikal gebrochen werden müsse. Schon 1917 hatte er den surreal-expressionistischen Roman "Horns Ring" veröffentlicht, 1919 folgte "Stadt des Hirns". Sie blieben Durchgangsstation auf seinem Weg. Er meldete sich nun leidenschaftlich mit Essays zur politischen und geistigen Situation der Zeit zu Wort. Die Romane, die folgten, trieben sein Projekt einer neuen souveränen Bürgerlichkeit voran. Bürgerlich, das klang damals und vielleicht noch heute hoffnungslos rückwärtsgewandt. Dennoch wurde der Geist seiner Bücher als neu, schwungvoll, als Aufbruch empfunden: Hier wurde ein freier, zugleich nüchterner und temperamentvoller Lebensstil vorgeführt, fern aller deutschen Innerlichkeit. Nicht, dass Flake die Abgründe des Menschen und seiner Existenz ignorierte, er stellte sie vielmehr unsentimental in Rechnung und plädierte weiterhin für eine der Humanität verpflichtete Lebensführung mit offenen Augen.

Flake stand also gewissermaßen in schrägem Winkel zur literarischen Avantgarde der Zeit: Der ging es meist, ob links, ob rechts, um eine neue oder wenigstens andere Gesellschaft, in jedem Fall um eine, die auf einen neuen Menschen angewiesen war. Ihn aber partout schaffen zu wollen, heißt in aller Regel, bereit zu sein, über Leichen zu gehen. Flake erkannte das früh, Kurt Tucholsky sah ihn als Gesinnungsgenossen; er rezensierte 1921 in der "Weltbühne" Flakes Schrift "Das Ende der Revolution": "Flake, unser bedeutendster Essayist neben Heinrich Mann, ein deutscher Wegbereiter, eine geistige Wohltat... Flake ist so gar kein Realpolitiker, also wert, dass ihn der gesamte Reichstag, von rechts bis links, spöttisch abtut. (Wenn er ihn jemals läse.) Aber für uns ist es wie eine Offenbarung, endlich einmal zu lesen, wie jede Kollektivität - selbstverständlich auch der Bolschewismus - den Geist abtötet, wie jede Macht den Geist tötet. 'Es wird sich zeigen', steht da zu lesen, 'dass Ideen aus Dienern Herren, aus Herren Dämonen werden."

Immer auch Philosoph

Flakes Essays zu Problemen der Zeit waren nie der Kunst des leichten Geplauders verpflichtet, ohne philosophisches Reflexion auf die Grundfragen der menschlichen Existenz ging es bei ihm nicht ab, nicht selten auf Kosten eingängiger Anschaulichkeit. Die Kennzeichen seiner Philosophie waren Klarheit, Nüchternheit und nochmals Klarheit - und ein Wille zur Konsequenz, der ihn dazu verführte, all die Farben und Abschattierungen menschlichen Daseins, die er in seinen historischen Schriften und seinen Romanen so meisterlich zu schildern wusste, letzten Endes auf den Bios zurückzuführen. "Der Lebenszwang", heißt es bei ihm, "ist das Grundereignis und infolge seines zwanghaften, unableitbaren Charakters irrational."

Dabei war Flake alles andere als ein Vernünftler aus Blutarmut. Nüchternheit war ihm eine Sache der Selbstdisziplin, ein Schlüsselbegriff zu seiner Person ist "Haltung" , doch für ihn war sie weder ein Brust-raus-und-Hacken-zusammennehmen noch die englische stiff upper lip , sondern der Wille zu sich selbst - zu dem, den man fühlt, sein zu können. Diese spezifische zivilisierte Kühle setzte er den ideologieträchtigen "Verhaltenslehren der Kälte" (Helmut Lethen) entgegen, wie sie die Künstler und Intellektuellen der Zwanzigerjahre gern beherzigten.

Kann man von der leiblichen Erscheinung eines geistigen Menschen absehen? Flake, groß und blond, galt als schöner, sehr männlicher Mann, "männlich" in dem fast verschollenen positiven Sinne, der heutzutage bestenfalls noch für Schauspieler oder Rockstars erlaubt ist, ein großer Frauenliebhaber, der die Kraft der Erotik für das zentrale Agens des Lebens erklärte: 1928 erschien sein Essay "Die erotische Freiheit."

Im gleichen Jahr wurde er vom Mussolini-Regime aus Südtirol ausgewiesen, dort hatte er in den letzten Jahren gelebt und sich für die Autonomie der Neu-Italiener eingesetzt.

Misslungener Neuanfang

Nach dem Zweiten Weltkrieg wähnte Flake mit der "Stunde Null" seine Stunde gekommen. Das sollte sich als Täuschung erweisen. Alles, was er in der inneren Emigration (ja, sie gab es wirklich, nicht nur als schönes Wort für anpasserische Feigheit) geschrieben hatte, warf er gleich auf den noch fast toten Markt. Zuerst hatten die Menschen andere Sorgen, dann kam die Währungsreform, dann die jungen Leute der Kriegsgeneration, die Emigranten, die Gruppe 47, und plötzlich waren seine Romane und Geschichten, seine Philosophie, seine Haltung, der ganze Mann altes Eisen. Nun rächte sich, dass er sich im Nazireich kompromittiert hatte, ausgerechnet er, dem der Geist des Nationalsozialismus so fremd war wie nur irgendjemandem: Samuel Fischer, der hoffte, so der Enteignung entgehen zu können, habe ihn gebeten, das später mit Recht berüchtigte "Gelöbnis treuester Gefolgschaft" an den "Führer" zu unterzeichnen (unter den 88 Unterzeichnern war, mit größerer Überzeugung, Gottfried Benn), nur dies sei der Grund gewesen, weshalb er unterschrieben habe.

Im Lichte dessen, was Flake sonst geschrieben hat, klingt das glaubhaft. Offensichtlich besaß er die Naivität, zu glauben, er könne diese Zeit so abwettern wie die des Ersten Weltkriegs. Wenn dies stimmt, offenbarte das eine durchgehende Schwäche bei ihm: Das Grundgeflecht historischer Aktion vermochte er zu lesen, die aktuellen Zeichen der Politik waren ihm mangels tieferen Einlassens oft fremd. Nun rächte sich, dass er "kein Realpolitiker" war.

In großer Not

In der Nachkriegszeit wollte der Fischer-Verlag nichts mehr von ihm wissen. Flake, der immer über seine Einnahmen als Schriftsteller akribisch Buch geführt hatte, blieb plötzlich kein Einkommen mehr, über das er hätte Buch führen können. Er geriet, trotz der einen oder anderen Ehrengabe, etwa durch den Bundespräsidenten Theodor Heuss, der ja auch ein Mann der Feder war, in immer größere Not. Seit 1928 wohnte er in Baden-Baden, er hatte das Kunststück vollbracht, Baden mit seinen Farben, seinem Flair, seiner Geschichte zu schildern, überhaupt die ganze Region des Oberrheins beiderseits der Grenze. 1933 war sein Roman "Hortense oder die Rückkehr nach Baden-Baden" erschienen, die Geschichte einer jungen Frau aus dem 19. Jahrhundert, die alle Fesseln des Herkommens und der Zeitzwänge sprengt. Der Stoff war schon '33 unzeitgemäß, und in der Adenauerzeit war dies nicht gerade die Art von Heimatromantik, die man goutierte.

Flake musste das Gefühl haben, dass seine innere Emigration niemals enden würde. Mehr schlecht als recht hielt er sich mit Rundfunkessays im Südwestfunk über Wasser. Seine Isolation konnte er so nicht durchbrechen. Im letzten Rückzugswinkel seiner Philosophie stand für ihn das stoische Akzeptieren des Unabänderlichen. Er war 78, als er sich, wie einst Seneca, die Pulsadern aufschnitt. Er wurde gerettet, Monate später saß er wieder in seinem Einfamilienhaus, nichts hatte sich geändert.

Dann aber eine außerordentliche Begebenheit wie aus einem flakischen Roman: Eines Tages erinnerten sich zwei jüngere Schriftsteller, Rolf Hochhuth und Peter Härtling, an ihn, besuchten ihn, fanden ihn sehr beeindruckend und hielten damit nicht hinter dem Berg. Der Bertelsmann-Lesering veröffentlichten Bücher von ihm, die innerhalb von anderthalb Jahren über eine Million Auflage erreichten. Das war eine wirkliche Überraschung, und bis heute kann man rätseln, ob in den Augen der Leser um 1960 Flakes Bücher schon zur weltflüchtigen Idylle geworden waren oder ob sie als der frische Wind in einer Restaurationszeit empfunden wurden.

Flake war finanziell gerettet. Freilich, mit Bertelsmannbüchern war das Renommee in der deutschen Literaturszene nicht zurückzugewinnen, und Flakes wohl schon unheilbare Bitterkeit verführte nicht gerade dazu, ihn in die literarische Szene zurückzuholen.

"Der letzte Gott"

Wie schwer er seine Einsamkeit ertrug, zeigen kleine Fluchten mittels Altherrenphantasie (heutzutage die am meisten diskreditierte Phantasie überhaupt!). So wenn er - er war 82 - eine Kurzgeschichte mit dem Titel "Des trockenen Tones satt" schrieb, in der ein alter Mann, der aber doch siebzehn Jahre jünger als der Autor vorgestellt wird, plötzlich zu Geld kommt, eine junge Frau als Gesellschafterin einstellen will, woraus sich unwahrscheinlicherweise eine Liebesbeziehung ergibt, die aber von der immerhin als realitätstüchtig geschilderten Frau alsbald wieder abgebrochen wird ... der Protagonist findet dann eine andere, nicht gar so junge Gefährtin.

Schon lange war er Atheist oder doch Agnostiker, doch einer mit hohem Respekt vor Gläubigen und allem religiösen Leben. Doch in der Nachkriegszeit zeigte er sich zunehmend gereizt durch den Eindruck einer im Bündnis mit Staat und Gesellschaft triumphierenden Kirche. Ein Jahr vor seinem Tod veröffentlichte er "Der letzte Gott", in dem er äußerst schroff mit dem Christentum abrechnete: Es habe sein Gutes gehabt, aber seine Zeit sei vorbei, nun gelte es, diese Welt ohne Gott mit Hilfe einer positiven Philosophie zu gestalten - gemeint war seine Philosophie, die des Maßes, des Ja und Nein, man könnte auch sagen: des Sowohl-Als-auch statt eines Entweder-Oder. Jedes Denken, dass sich auf Absolutes, Totales, Metaphysisches zu gründen versucht, hielt er für obsolet. Insbesondere nahm er bei seinem Angriff die Theologie auf die Hörner - gewiss, es war nicht die neueste und nicht einmal die neuere Theologie, die er traf, er zeichnete scharf die Bruchkanten, die Christen, die Widersprüche zwischen Glauben und naturwissenschaftlicher Weltanschauung noch bewegen, beunruhigen können. Dass er mit diesem Buch nicht der ideale Botschafter für seine Philosophie des Maßes war, fiel ihm nicht auf.

Einen annähernden Überblick über Flakes Werk zu geben, ist hier nicht der Raum: Neben seinen großen Romanen (etwa "Die Monthivermädchen") und den Essays (etwa über de Sade oder über Oscar Wilde) umfasst es historische Schriften (über Ulrich von Hutten, das 18. Jahrhundert, über "Große Damen des Barocks") und Übersetzungen aus dem Französischen - Balzac, Alexandre Dumas fils etwa, und, vielleicht an erster Stelle zu nennen, seine Übersetzung von Stendhals "Rot und Schwarz"; Stendhal empfand er als seinen Geistesverwandten. Wer sich für Flakes Oeuvre interessiert, wird auf manche Überraschung stoßen.

In den Siebzigerjahren des verflossenen Jahrhunderts war Peter Härtling Cheflektor des Fischer-Verlages. Er sorgte dafür, dass noch einmal "Gesammelte Werke" in Flakes altem Verlag erschienen. Doch das erwies sich als vergebliche Liebesmüh. Mit der Achtundsechzigerzeit hatte ideologisches Denken wieder die Oberhand gewonnen, Flakes Chancen auf literarische Wiederauferstehung verschwanden vorläufig-endgültig. Das allerdings erlebte er, der Mann zwischen allen Stühlen, nicht mehr, 1963, am 10. November, ist er gestorben.

zur Rezension von Tucholsky

Helmut Kremers

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