So recht nach Lausbubenart

Die Mundorgel wird 60 - und nicht mehr neu aufgelegt
Foto: pixelio/Dietmar Meinert
Angela Merkel verreist nie ohne Mundorgel. Man stelle sich vor, wie sie zur Rettung des Euros ein flottes "Frère Jaques" anstimmt oder auf der Weltklimakonferenz "Der Globus quietscht und eiert" ...

Über Generationen hinweg war sie bei Jugendfreizeiten so wenig weg­zudenken wie Stockbetten, Früchtetee und Nachtwanderungen: Die Mundor­gel - ein schmales Heft, eng in kleinsten Buchstaben bedruckt und gerade mal so groß, dass es in die Hemdtasche der Fahrtenkluft oder später in die Hosenta­sche der abgeschnittenen Jeans passte.

Mehr als vierzehn Millionen Exemp­lare wurden von dem Liederbüchlein ver­kauft; fünfzig Pfennig kosteten die ersten Ausgaben; bis heute ist es zum fairen Taschengeldpreis zu erwerben. Was zum Hit in Gemeinden, Pfadfindergruppen und Schulen wurde, war dem Herausge­ber CVJM allerdings erst nicht geheuer.

Vier Jugendleiter des "Christlichen Vereins Junger Männer", wie er damals noch hieß – Dieter Corbach, Ulrich Ise­ke, Hans-Günther Toetemeyer und Peter Wieners – hatten 1951 die Idee zu dem Heftlein mit anfangs 132 Liedern für ihr Zeltlager. Aber als sie ihren Kölner Kreisverband um Unterstützung baten, zeigte man sich dort alles andere als an­getan: Die Mischung aus geistlichem Liedgut und frechen "Juxliedern" war wohl zu gewagt. Die berühmt-berüchtig­te Pfingstreise des heißblütigen Berliners Bolle schien zur Andacht der Zeilen von "Das Reich ist Dein, Herr Jesu Christ" nicht recht zu passen.

Doch zum Glück ließ man sich beim CVJM schließlich umstimmen; zwei Jah­re später wurden die ersten fünfhundert Exemplare gedruckt. Und seitdem ha­ben Jugendliche mit Taschenlampe und Mundorgel beim Lagerfeuer gesessen und gesungen.

So, wie sich das Aussehen der Mund­orgel seit 1953 gewandelt hat – anfangs war das Heft noch grün, später erhielt es einen roten Plasteumschlag zum Schutz vor Butterbrotflecken und Regenschau­ern –, so hat sich auch die Zusammenstel­lung der Lieder deutlich geändert.

Gerade von den geistlichen Liedern der Anfangsjahre sind die meisten ver­schwunden. Formulierungen wie Zieht fröhlich hinaus zum heiligen Krieg klan­gen irgendwann zu militaristisch; das Gottesbild und die religiöse Sprache hat­ten sich gewandelt – und auch die Zeiten der Bekennenden Kirche waren vorbei. Stattdessen sang man friedensbewegt und mit ökumenischer Sehnsucht "Hine ma tov uma-nayim", "We shall overcome" oder auch "Kumba Ya, my Lord".

Ausgetauscht wurden gerade in den Sechziger- und Achtzigerjahren auch vie­le Fahrten- und Wanderlieder. Manche kamen in den Ruf, Liedgut nationalsozia­listischer Jugendorganisationen gewesen zu sein, andere lösten wegen ihrer koloni­al gefärbten Bilder oder der rassistischen Sprache Debatten aus. "Wie oft sind wir geschritten auf schmalem Negerpfad" hatte seine Unschuld verloren, auch "Der mächtigste König im Luftrevier" – be­liebtes Lied der U-Boot-Soldaten mit dem Vers "Wir sind die Herren der Welt" – passte nicht mehr in die neue Zeit. Neu in die Mundorgel fanden hingegen Frei­heits- und Protestlieder wie "Sag’ mir, wo die Blumen sind" oder "Die Gedanken sind frei". Bis heute geblieben aber sind Gassenhauer wie "Oh hängt ihn auf" oder "Die Affen rasen durch den Wald". Und die Oma wird wohl bis in alle Ewigkeiten auf ihrem geliebten Zweisitzer durch die Hühnerställe kurven.

Wie viel das Liederbuch vielleicht sogar zur politischen Entspannung beigetragen hat, darüber lässt sich nur mutmaßen. 2006 berichtete die Bild-Zeitung, Angela Merkel verreise nie ohne ihre Mundorgel. Im Anschluss an internationale Politikertreffen werde nämlich gern gesungen, und Merkel wol­le textsicher sein. Man stelle sich vor, wie die Kanzlerin zur Rettung des Euros ein flottes "Frère Jaques" anstimmt oder auf der Weltklimakonferenz "Der Globus quietscht und eiert" ...

Doch so populär die Mundorgel lan­ge war – heute singen Jugendliche andere Lieder. Und deshalb wird das kleine Büchlein zukünftig nicht mehr neu auf­gelegt werden. Schade.

Natascha Gillenberg

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Natascha Gillenberg

Natascha Gillenberg ist Theologin und Journalistin. Sie ist Alumna und Vorstand des Freundes- und Förderkreises der EJS.


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