Mensch, nicht Buch

Was die Debatte um das EKD-Familienpapier lehrt
Das Berliner Symposium hat wie frühere Diskussionen über (sexual)ethische Themen deutlich gemacht: Die evangelische Kirche muss sich über das "Schriftprinzip" verständigen.

Schlimm genug ist, wenn alle ein Kirchenpapier loben und es anschließend ablegen. Aber noch schlimmer ist, wenn Äußerungen der Kirche nur ein Achselzucken oder ein müdes Lächeln hervorrufen. Diesem Schicksal ist die "Orientierungshilfe" entgangen, die der Rat der EKD zu Ehe und Familie herausgegeben hat. Über sie wurde gestritten, wobei sich die Kritiker vernehmlich zu Wort meldeten, während Befürworter oft schwiegen oder nur in persönlichen Gesprächen lobten, endlich sei die Kirche auf der Höhe der Zeit angekommen.

Nichts vergiftet die Atmosphäre mehr, als wenn Gegensätze unter den Teppich gekehrt werden, was in der Kirche oft geschieht. Auch deswegen war es sinnvoll, dass der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland Ende September nach Berlin zu einem "Theologischen Symposium" einlud, um die Orientierungshilfe zu diskutieren.

So unterschiedlich die Referenten urteilten, der emeritierte Heidelberger Systematiker Wilfried Härle, sein Nachfolger Klaus Tanner, der Mainzer Neutestamentler Friedrich-Wilhelm Horn und seine Hamburger Kollegin Christine Gerber, in einem waren sie sich einig: Theologisch hat das Papier Schwächen. Selbst Gerber, die sein "sozialethisches Anliegen" als "angemessene Interpretation biblischer Ethik" würdigt, sieht "Unschärfen und Fehler im Detail".

Kritisieren kann man auch, dass die Orientierungshilfe mitunter zu zaghaft ist. So heißt es, wer die Aussagen der Bibel zur Homosexualität für "zeitlos gültig" halte, könne "zu der Meinung kommen, eine homosexuelle Partnerschaft sei mit einer heterosexuellen keinesfalls vergleichbar". Aber manche biblischen Texte sprächen "von zärtlichen Beziehungen zwischen Männern". Doch diese weisen genauso wenig auf Homosexualität und ihre Duldung hin wie junge Araber oder Inder, die auf der Straße Händchen halten. Wenn die Orientierungshilfe schon Bibelstellen hinterfragt, die den Sex von Männern mit Männern verurteilen, hätte sie den Mut zu der Feststellung aufbringen müssen: Die biblische Erklärung und Sicht von Homosexualität ist aus heutiger Sicht überholt, ja falsch. So bietet Lot den Männern Sodoms, die seine beiden männlichen Gäste vergewaltigen wollen, als Ersatz seine Töchter an. Das heißt doch: Der Erzähler der Geschichte ging davon aus, dass Männer frei wählen können, ob sie ihre sexuellen Bedürfnisse mit Männern oder Frauen befriedigen.

Das Berliner Symposium hat wie frühere Diskussionen über (sexual)ethische Themen deutlich gemacht: Die evangelische Kirche muss sich über das "Schriftprinzip" verständigen, worin die Autorität der Bibel besteht und wie sie auszulegen ist. Professor Härle erinnerte in Berlin an die theologische Einsicht, dass Gott nicht "Buch", sondern "in Jesus Christus Mensch geworden ist". Und weil die Bibel davon zeuge, habe sie in der Kirche Autorität. Das reformatorische "allein die Schrift" sei also aus dem "allein Christus" abgeleitet.

In Ordinationsgottesdiensten werden Lesungen aus der Bibel mit der Aufforderung eingeleitet: "Hört Gottes Wort zum Dienst der Verkündigung."

Das zeigt: Nicht nur Fundamentalisten setzen den Wortlaut der Bibel mit dem Wort Gottes gleich, sondern mitunter tun das sogar evangelische Landeskirchen in den Gottesdienstbüchern, die sie benutzen.

Jürgen Wandel

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