Gretchenfrage aus Stein
Noch ist dieser Ort unwirtlich. Es ist windig. Und laut. Auf der sechsspurigen Straße schieben sich Autos und Busse zwischen Alexanderplatz und Potsdamer Platz hin und her, dahinter die Fischerinsel, die seit den Siebzigerjahren durch sechs Hochhäuser mit 21 Stockwerken geprägt ist. Nach der Wende kamen noch ein paar Investorenklötze ohne ästhetischen Anspruch hinzu. Diesseits der großen Straße blickt man linkerhand auf eine Glasfassade, hinter der seit 1999 die großen Lobbyverbände der deutschen Wirtschaft residieren, im Rücken ein sanierter Plattenbau, das halb abgerissene ehemalige DDR-Bauministerium, und daneben das 1908 errichtete Kaufhaus Hertzog mit schmucker Fassade, welches aber schon lange leer steht und an dem noch immer eine Aufschrift daran erinnert, dass hier zu DDR-Zeiten ein "Jugendmodekaufhaus" untergebracht war.
Nur rechts steht ein Ensemble sanierter historischer Häuser, die in diesem Umfeld aber wie aus der Zeit gefallen wirken. Dabei sind sie die letzten Zeugen einer Zeit, in der dies das Zentrum, manche sagen sogar der "Urort" Berlins, war: Mit dem Cöllnischen Rathaus, einer Lateinschule und der Petri-Kirche, die in unterschiedlichen Bauformen seit dem 12. Jahrhundert diesen Ort mitgeprägt hat, bis sie in den Sechzigerjahren abgerissen wurde. Ihre Fundamente wurden über Jahrzehnte unter einem Parkplatz versteckt, seit einigen Jahren werden sie aber archäologisch gesichert.
Es gilt also, an historischen Spuren zu retten, was zu retten ist und gleichzeitig zu fragen, was man denn nun eigentlich anfangen will mit diesem Ort, der zwar nie mehr der gleiche sein wird wie vor der Kahlschlagsanierung durch DDR-Beton, aber dennoch wieder mit seinen geschichtlichen Wurzeln verbunden werden muss, ohne dabei zum Museum zu werden. Zwei Blöcke weiter versucht man diesen Spagat durch das Humboldtforum zu schaffen, einem Neubau für die Kultur mit davor gehängter Schlossfassade. Hier hat sich die evangelische Kirchengemeinde St. Petri-St. Marien für einen anderen Weg entschieden. Denn Kirchen hat Berlin genug. Ein neues sakrales Gebäude soll entstehen, ein gemeinsames Bet- und Lehrhaus für Muslime, Juden und Christen.
Ein in vielerlei Hinsicht großes Projekt. Allein das Gebäude, das nach den Plänen des Architekturbüros KuehnMalvezzi entstehen soll, hat monumentalen Charakter. Ein Gebilde, das bewusst fremd wirken soll, denn schließlich hatte die Religion zumindest an diesem Ort seit über einem halben Jahrhundert keinen Platz mehr - und dessen Architektur nun einer säkularen Gesellschaft die Gretchenfrage stellt, wie es der Journalist Dirk Pilz in der Frankfurter Rundschau formulierte. Von außen ein selbstbewusstes steinernes Statement, das gleichzeitig an Wüstenstadt und mittelalterliche Burg erinnert. Ein gut vierzig Meter hoher Turm, unter dem ein Kuppelsaal gemeinsam als zentraler Begegnungs- und Veranstaltungsort von allen drei Religionsgemeinschaften genutzt werden soll.
Darum gruppieren sich drei heterogene Räume, die jeweiligen Gotteshäuser für Muslime, Juden und Christen. Es geht den Initiatoren und Architekten nicht darum, einen weiteren multifunktionalen Andachtsraum zu schaffen, wie er heutzutage in so manchen Flughäfen oder Fußballstadien zu finden ist. Nicht Kirche, Moschee und Synagoge in einem soll hier entstehen, sondern Kirche, Moschee und Synagoge unter einem Dach - ein wichtiger Unterschied, der der Angst vor Synkretismus, Religionsvermischung und Identitätsverlust entgegenwirken soll. Es geht nicht um Verschmelzung der drei Religionen, sondern um eine Art religiöse Wohngemeinschaft, in der ja bekanntlich auch die Bewohner mit ihrem unterschiedlichen Profil einander bereichern können, sich aber auch immer wieder in ihrer Verschiedenheit aushalten müssen.
Eine religiöse Wohngemeinschaft
Dass so ein Projekt nicht von einer evangelischen Kirchengemeinde allein getragen werden kann und darf, liegt auf der Hand. Im Oktober 2011 wurde der Verein "Bet- und Lehrhaus Petriplatz Berlin e.V." als institutionelle Trägerstruktur des Projekts gegründet, in dem bereits alle beteiligten Religionsgemeinschaften vertreten sind. Gründungsmitglieder des Vereins sind die Jüdische Gemeinde zu Berlin, das Abraham-Geiger-Kolleg Potsdam, das Forum für interkulturellen Dialog e.V. als muslimischer Partner, der Evangelische Kirchenkreis Berlin-Stadtmitte und St. Petri-St. Marien. Im Vorstand sitzen neben Vertretern der Kirchengemeinde Rabbiner Tovia Ben-Chorin vom Abraham-Geiger-Kolleg und Imam Kadir Sanci, wissenschaftlicher Mitarbeiter vom Forum für interkulturellen Dialog. Der Vorstand wird unterstützt durch ein hochrangig besetztes Kuratorium, das den weiteren Planungs- und Bauprozess wissenschaftlich und theologisch begleiten soll. Vorsitzender ist der Berliner Kulturstaatssekretär André Schmitz, ferner vertreten sind unter anderem der Bürgermeister von Berlin-Mitte, der Superintendent des Kirchenkreises, der Rektor des Abraham-Geiger-Kollegs und der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.
Der Verein hat sich eine Charta geschrieben, die das Miteinander in der WG schon bei seiner Konzeption und Entstehung regeln soll. Auch darin wird betont, "dass Unterschiede und theologische Gegensätze nicht überspielt, sondern ausgehalten werden." Aber ebenso wichtig ist den Unterzeichnern "ein gemeinsamer Bestand von Grundwerten, die 'mit Herz und Tat' gelebt werden wollen." Dazu zählen Gewaltlosigkeit, "Ehrfurcht vor allem Leben", Solidarität, Respekt, Gleichberechtigung und ein "Leben in Wahrhaftigkeit." Wie nun diese großen Ziele im konkreten Alltag umgesetzt werden können, ist natürlich noch völlig offen, denn ein Alltag im Bet- und Lehrhaus ist ja noch lange nicht in Sicht. Es gibt das Grundstück, das mittlerweile zwar der Stadt gehört, aber dem Verein zur Verfügung gestellt werden soll. Es gibt den Plan der Architekten, eine grobe inhaltliche Konzeption und viele namhafte Unterstützer.
Zweistelliger Millionenbetrag
Aber es fehlt vor allem noch das Geld, denn der zweistellige Millionenbetrag im unteren Bereich, den dieser Bau kosten wird, soll komplett aus Spenden finanziert werden. Das klingt abenteuerlich, allerdings muss man bedenken, dass die Spenden weltweit eingesammelt werden und es in allen drei Religionen ausreichend wohlhabende und liberale Menschen gibt, die zu Mäzenen eines solchen Projektes an einem solchen Ort werden könnten. Gleichzeitig sollen auch Kleinspenden möglich sein. Die Fundraising-Kampagne soll im kommenden Frühjahr beginnen, dann wird auch der genaue Betrag genannt werden, der benötigt wird. Bereits jetzt sind aber Spenden für die Arbeit des Vereins möglich. Wenn alles gut läuft, könnte der Bau nach der Grundsteinlegung, die für 2015 geplant ist, innerhalb von zwei Jahren stehen.
Bleibt also noch Zeit, in den regelmäßig vom Verein durchgeführten Diskussionsveranstaltungen zum Thema "Religion und Toleranz" für das Projekt zu werben. Diese finden seit dem Frühjahr an prominenten Orten der Stadt wie dem Deutschen Theater oder dem Roten Rathaus statt, die Podien sind hochkarätig besetzt und das Plenum sehr gut gefüllt. Ein Zeichen für das große Interesse an dem Projekt, aber auch ein Hinweis auf viele offene Fragen und Vorbehalte, die es zu diskutieren gilt. Denn die gibt es durchaus. So äußern sich Anwohner des Petriplatzes skeptisch und weisen auf mögliche Sicherheitsprobleme und stets notwendige Polizeipräsenz hin, wie sie an allen jüdischen Einrichtungen in Berlin zu sehen ist. Das ein solches Haus zur Zielscheibe für Radikalismus jeder Art werden kann, ist wohl nicht zu bestreiten. Aber auch nicht, dass ein solches steinernes Glaubensbekenntnis für manch einen zum Anstoß werden kann, der vor vierzig Jahren in die damalige Edelplatten an der Sektorengrenze ziehen durfte und wohl kaum religiös geprägt war. Hier muss gewiss noch für eine gute Nachbarschaft geworben werden.
Doch auch innerhalb der Religionsgemeinschaften gibt es offene Fragen. Wie soll man eigentlich mit der Geschlechtertrennung in Synagoge und Moschee umgehen, die für konservative Juden und Muslime wichtig ist, um mitmachen zu können, für liberale Gläubige aber schwer verdaulich ist? Und wieweit ist das Projekt überhaupt mit der Basis verbunden? So wurde auf einer der Podiumsdiskussionen darauf hingewiesen, dass von den achtzig bis hundert muslimischen Gemeinden Berlins noch keine mit dem eher bildungsorientierten Forum für interkulturellen Dialog verbunden ist. Ebenso ist es bislang noch nicht gelungen, eine katholische Institution mit ins Boot zu holen. "Wir führen in der Stadt viele Gespräche mit religiösen Gemeinden und laden herzlich zur Beteiligung ein", betonte Roland Stolte, Theologischer Referent der Kirchengemeinde St. Petri-St. Marien und ebenfalls Vorstandsmitglied auf der Auftaktveranstaltung der Gesprächsreihe. "Das ist ein zartes Pflänzchen, das wir hegen und pflegen müssen."
weitere Informationen zum Projekt
Stephan Kosch