Hier ist es weit und eng zugleich
Sanft gewellt liegt die Weite der mecklenburgischen Landschaft mit ihren Wiesen, Wäldern und Seen. Unvermutet und fast unwirklich taucht die Silhouette von Güstrow auf: der erhabene Dom, die gotische Pfarrkirche St. Marien und das prächtige Schloss. Mit diesem Ensemble birgt die kleine Ackerbürgerstadt ein kulturell herausragendes Kleinod. Ernst Barlach, gebürtig in Wedel, hat die mecklenburgische Kleinstadt als Ort seines Schaffens auserwählt und von 1910 bis zu seinem Tod 1938 hier gelebt und gearbeitet. Die meisten seiner bedeutenden Werke entstanden hier in der Stille und Abgeschiedenheit der kleinen Stadt, gelegen auf halber Strecke zwischen Rostock und Waren an der Müritz. Dem Weltruf des Künstlers zollt die Stadt heute Tribut, auf dem Ortsschild nennt sie sich nun: Barlachstadt Güstrow.
Für Augen und Beine
Was erinnert an das Multitalent Barlach, der ein rastloser Bildhauer, Dramatiker und Zeichner war? Sein Lebenswerk ist groß und umfassend: Fast 600 Figuren, 2600 Zeichnungen, 130 Notizbücher, über 11.000 Skizzen. Er hat acht Dramen geschrieben, und er war ein großer Briefeschreiber, 2000 sind bekannt. Über seine Wahlheimat schrieb er: "Güstrow ist ein Ort, wo man leben kann ... Hier ist es weit und eng zugleich, man wird nach innen verwiesen und hat doch Spielraum für Augen und Beine."
Die Silhouette von Güstrow: der Dom, die St. Marien Kirche und das Schloss.
Im Stadtbild ein Graffiti, das Ernst Barlach zeigt.
Der Weg führt zunächst vor die Tore der Stadt, an den Inselsee, dem Naherholungsgebiet der Güstrower. Dort, am Heidberg, in Barlachs 1930/31 errichtetem Atelierhaus, residiert heute die Ernst-Barlach-Stiftung. Der Hüter des Barlach-Schatzes, mit dem weltweit größten Bestand an Werken, heißt Dr. Volker Propst. Er und sein Team sind zugleich Forschungseinrichtung und Vermittler zwischen Werk und Besucher. Propst stellt fest, dass diese nahezu zu Barlach pilgerten. Vierzigtausend sind es jedes Jahr, Einzelbesucher, Studierende, Schulklassen, Reisegruppen und Radtouristen.
Wohltat, Glück und Gnade
War Barlach ein religiöser Künstler? Es gebe unterschiedliche Rezeptionsansätze, viele betrachteten ihn als religiösen Künstler, sagt der Kunsthistoriker. "Wir versuchen ihn im Kontext der Klassischen Moderne zu sehen". Er zeigt einen Brief Barlachs vom 3. Dezember 1932 an den Güstrower Pastor Johannes Schwartzkopff: "Glaube, welcher Art er auch sei, ist Wohltat, Glück und Gnade, kann aber niemals das Ergebnis eines Willensakts, eines Zuspruchs oder von Ermahnungen sein. Ein Bekenntnis zu miteinander verbundenen, ein Ganzes ausmachenden, ein System begründenden Glaubensartikel kann von mir nicht erbracht werden."
Schloss Güstrow, eines der bedeutendsten Renaissance-Schlösser in Nordeuropa.
Zum Rundgang. Heute birgt der Häuserkomplex das neue Ausstellungsforum mit Grafikkabinett, ein Haus für die museumspädagogische Arbeit und das Atelierhaus. Das Atelierhaus ist eine stille Welt der Betrachter: Versunken lesen sie in Katalogen, umkreisen in sich gekehrt die Skulpturen und Plastiken. Barlachs weitläufiger Atelierraum ist umsäumt von einer hochliegenden Fensterreihe und großen Glastüren. In der Ecke die Ketten eines Hebewerkzeugs, die originale Werkbank und ein Postament. Im authentischen Atelierlicht präsentieren sich herausragende Werke und Modelle: "Die lachende Alte" (1937), "Die frierende Alte" (1937), "Der singende Mann" (1928). Und Modelle, das des "Hamburger Ehrenmals" (1931), des Kieler "Geisteskämpfers" (1928) und auf einem Gesims ein kleines Modell des "Lesenden Klosterschülers".
Ganz nebenbei: Der diente dem Schriftsteller Alfred Andersch als Vorbild für den Protagonisten in seinem Roman "Sansibar oder der letzte Grund", den seit Generationen Schüler in der Schule lesen. Kannte Andersch die Barlach-Skulptur? Nur durch ein Foto, berichtet Volker Propst. Der Schriftsteller beschreibe die Figur in der schrägen Ansicht, so dass man heute wisse, welche historische Aufnahme er gesehen hat.
Besucher in
Das Atelierhaus am Inselsee, 1930/31 erbaut.
Barlach verstand seine plastischen Werke als Denkzeichen, Mahnmale gegen Krieg und Gewalt. So schuf er einen neuartigen Typus von Ehrenmalen für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges. Keine Heldenverehrung, Leid und Schrecken der Katastrophe stehen vielmehr im Vordergrund. Und: Sein Thema war der Mensch in seinen Grunddispositionen, herausgearbeitet in Einsamkeit, Freude, und Trauer. Im Eingang erläutern anschauliche Tafeln Barlachs biographische Stationen: Besuch der Allgemeinen Gewerbeschule in Hamburg, Studium der Bildhauerei an der Königlichen Akademie zu Dresden, Meisterschüler, Friedrichroda, zwei Parisaufenthalte, Berlin und die Russland- und Florenzreisen.
Engel der Hoffnung
Der Blick durch das Fenster fällt auf das Nachbarhaus, in dem der Künstler gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Marga Böhmer (1887-1969) lebte. Und von hier marschierte der den Güstrowern als Sonderling erscheinende durch die Feldmark, mit seinem Schlapphut und dem langen Mantel ging er oft zum Bahnhof, las dort die Zeitung und trank Grog, weiß Barlach-Experte Propst zu berichten.
Unweit des Atelierhauses wartet Freya Bever. Sie ist eine der Barlachbotschafterinnen der Stadt, kennt jeden Barlachort in Güstrow, jede Straße und jedes Haus. Seit sechzehn Jahren führt die 63-Jährige regelmäßig Besucherinnen und Besucher auf des Künstlers Spuren durch die Kleinstadt. Die weitläufig gebildete Frau lotst die Besucher zurück ins Zentrum, das an diesem kühlen Herbsttag wie herausgeputzt erscheint mit seinen imposanten Bürgerhäusern, prächtigen Renaissancebauten und dem Rathaus. In den vergangenen Jahren wurde der Markt renoviert, es leuchten die Fassaden und locken die Portale, überall in der Stadt finden sich Wegweiser zu den Barlachstätten. Vom himmelhohen Ausguck auf dem Turm von St. Marien schaut man rundum weit ins Mecklenburger Land. Die backsteingotische Pfarrkirche beherbergt ein kleines Terrakotta-Relief Barlachs. Es zeigt den Engel der Hoffnung und war für ein Hamburger Grabmal gedacht.
Eine kleine Brücke verbindet die Insel Schöninsel mit dem Güstrower Festland.
Weiter geht's zum Dom, dem zweiten erhabenen Solitärbau norddeutscher Backsteingotik. Er wurde 1335 geweiht und war bis zur Reformation eine Kollegiatskirche. Freya Bever erzählt ins hallende Dunkel: von dem Wunsch der evangelischen Domgemeinde, seinen im Ersten Weltkrieg gefallenen Mitgliedern ein Ehrenmal zu schaffen, von Barlachs ungewöhnlicher Idee, ihnen in der Nordhalle des Doms einen Engel schweben zu lassen und davon, dass 1927 das Gussmodell des "Güstrower Schwebenden" vollendet war. Es war das erste seiner aufsehenerregenden Ehrenmale, die der Künstler zwischen 1927 und 1931 für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs schuf. Schwebend, Augen und Mund geschlossen, mit den Gesichtszügen von Käthe Kollwitz, hing der Engel zehn Jahre lang im Dom.
"Ganz fremder Ort geworden"
1937 wurde er auf Geheiß des Schweriner Oberkirchenrats entfernt. In diesem Jahr wurden auch viele andere Werke Barlachs aus Museen, Kirchen und anderen öffentlichen Orten verbannt. Es war "das schlimme Jahr", wie Barlach es selbst ausdrückte, erzählt Freya Bever. Schmähbriefe erreichen ihn, und Steine fliegen in seine Fenster. Seine anfängliche Begeisterung für die mecklenburgische Stadt wandelt sich in ihr Gegenteil. "Güstrow ist mir ein ganz fremder Ort geworden, ich trau mich nur noch hin, um notgedrungen dies und das zu kaufen", schreibt er 1938 an seinen Freund Friedrich Schult. Der Engel wurde zunächst eingelagert und 1941 zu Kriegszwecken eingeschmolzen. Ein zuvor heimlich angefertigter Zweitguss kam nach dem Zweiten Weltkrieg in die Kölner Antoniterkirche, deren Gemeinde ließ einen Drittguss anfertigen und machte ihn den Güstrowern zum Geschenk.
Volker Propst leitet die Barlachstiftung.
Blick in den Dom auf den "Schwebenden".
Ein Geschenk, das Menschen weltweit in den Dom kommen lässt. Sie halten inne und verewigen sich im ausliegenden Gästebuch der Domgemeinde. Wie Erwin Neumann am 8. März 2013: "Die Geschichte des Barlachschen Engels ist so wunderbar, als hätte ein anderer Engel schützend seine Hand über ihn gehalten. In Wahrheit waren es kluge und mutige Menschen, denen wir sein Wieder-Dasein in diesem Dom verdanken." Oder: "Sieht man den Engel, sieht man im Geist ein Stück deutsche Geschichte mit allen ihren Wellen und dunklen Zeiten und Gestalten. Er erinnert uns daran, wachsam zu sein, damit wir in Frieden und Geborgenheit unser Leben leben können und er für alle Zeit zwischen Himmel und Erde schwebt", Barbara und Karl Kren. Zur Geschichte Güstrows gehört auch, dass Barlach nicht dort beerdigt werden wollte, er starb 1938 und ist in Ratzeburg begraben.
"Gott hat mich"
Aber war Barlach ein religiöser Künstler, oder nicht? Ein schwieriges Thema, sagt Freya Bever, und lässt ihn selber sprechen: "Ich bin viel Christ, viel Heide, viel Buddhist, viel, viel sonst. Nordisch, gespenstisch, hexensüchtig, sehr nebulös unklar, am meisten chaotisch." Sicherlich war er ein religiöser Mensch, hat sich in seinen Werken mit christlichen Motiven befasst, in seinen Dramen mit der Gottesfrage. In seinem letzten Drama "Der Graf von Ratzeburg" lässt er den Landstreicher Wolf sagen: "Ich habe keinen Gott, aber Gott hat mich."
Die Gertrudenkapelle
Die Barlach-Führerin mahnt zum Aufbruch zur nächsten Station: die der Gertrudenkapelle. Nur wenige Minuten vom Dom entfernt im Westen der Stadt liegt der im 15. Jahrhundert errichtete schlichte Backsteinbau. Zunächst als Siechen- und Friedhofskapelle genutzt, ist er seit 1953 eine Barlach-Gedenkstätte, heute unter Obhut der Stiftung.
Nicht jedermanns Kost
Das Licht der hohen Spitzbogenfenster verleiht dem Raum mit den Plastiken und Skulpturen eine eindringliche Atmosphäre. Ein Blick in die Runde: "Der Apostel" (1925), "Der Wanderer im Wind" (1934) und "Der Zweifler" (1937). Freya Bever verrät: "Meine Lieblingsfigur ist der "Lesende Klosterschüler" (1930). Noch lange könnte sie erzählen und zitieren. Zum Abschied geht es noch auf den Franz-Parr-Platz zum sehenswerten Stadtmuseum, in dem auch das Tourismusbüro sieben Tage die Woche geöffnet hat. Güstrow lebe von den Touristen, die die Ostseeküste und die Seenplatte besuchen, doch die Kultur allein könne den ganzjährigen Tourismus nicht garantieren, zudem: "Barlach ist schwere, nicht jedermanns Kost", weiß eine Mitarbeiterin aus ihren täglichen Besuchergesprächen zu berichten.
Zum 100. Gedenkjahr 2014 präsentiert die Stiftung eine Sonderausstellung: "Bildhauer sehen den Ersten Weltkrieg: Ernst Barlach." Der Kontext der Kulturstadt Güstrow macht die Reise lohnenswert.
Text: Kathrin Jütte / Fotos: Hans-Jürgen Krackher
Kathrin Jütte
Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.