Wunde am Leib unserer Welt

zeitzeichen-Serie (V): Perspektiven evangelischer Theologie in der Ära Adenauer
Verena Loewensberg: "Ohne Titel", 1955. Foto: akg-images
Verena Loewensberg: "Ohne Titel", 1955. Foto: akg-images
Die in der evangelischen Kirche nach 1945 diskutierten Zeitdiagnosen kamen, je nach Ausgangspunkt, zu sehr unterschiedlichen Einsichten: Wo die einen einer Aufbruchemphase in der "Stunde Null“ huldigten, klagten die anderen über die reale Restauration oder konstatierten gar ein geistiges Vakuum. Traugott Jähnichen, Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Universität Bochum, zieht die kontroversen Hauptlinien der Debatte nach.

In der evangelischen Kirche wie in weiten Teilen der Gesellschaft lassen sich in der Nachkriegszeit kontroverse Zeitdeutungen feststellen. Dominant und bis in die Fünfziger- und frühen Sech­zigerjahre wirkmächtig waren gegensätzliche Stilisierungen: Einerseits die eines grundlegenden Neuanfangs "in der Stunde Null", andererseits die einer Kritik restaurativer Tendenzen in Kirche und Gesellschaft. Erstere wurde engagiert von Helmut Thielicke vertreten, letztere war die Position der kirchlichen Bruderschaften um Karl Barth. Quer dazu steht die Zeitdiagnose Paul Tillichs. Er sprach von einem "geistigen Vakuum" (1948) und warf damit die Frage auf, ob nach den Zivilisationsbrüchen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Zentrum von Kultur und Gesellschaft als ein "heiliges Leergewordensein" zu bezeichnen sei.

Der Begriff der "Restauration" zielte auf eine radikale Kritik der kirchlichen wie der gesellschaftlichen Entwicklung seit 1945. Der "dahlemitische Flügel" der Bekennenden Kirche forderte ein klares Schuldbekenntnis und einen darauf fußenden deutlichen Neuanfang in einer gemeinde- und bekenntnisorientierten staatsunabhängigen Kirche. So forderte Hermann Diem im Februar 1946 in einem Interview mit Radio Stuttgart die Abschaffung des Status der evangelischen Kirche als einer Körperschaft öffentlichen Rechts und den Verzicht auf die Teilhabe am "staatlichen Steuerrecht" sowie auf "alle Positionen im öffentlichen Leben".

Das richtete sich deutlich gegen das Bemühen führender Kreise der evangelischen Kirche um den württembergischen Bischof Wurm, hinsichtlich der öffentlichen Stellung und Organisation der Kirche weitgehend an die Zeit der Weimarer Republik anzuknüpfen.

Restauration befürchtet

Doch auch die gesellschaftliche Entwicklung, speziell in Westdeutschland, wurde von dem Kreis um Barth scharf kritisiert, da man eine Restauration der traditionellen kirchlichen Positionierung an der Seite der Vertreter der bestehenden Ordnung befürchtete. Diese Kritik bündelte sich im Darmstädter Wort des Bruderrates von 1947, in dem die – nach Ansicht Hans Joachim Iwands, Martin Niemöllers und Karl Barths – unbußfertige und selbstgerechte Frontstellung weiter kirchlicher Kreise gegenüber der Arbeiterbewegung und insbesondere gegenüber dem Marxismus in Frage gestellt wurde. Aufgabe der Kirche sei es demgegenüber, in Aufnahme der Impulse der Arbeiterbewegung "die Sache der Armen und Entrechteten gemäß dem Evangelium von Gottes kommendem Reich zur Sache der Christenheit zu machen".

Ferner verurteilten die Verfasser des Darmstädter Wortes die verhängnisvollen nationalprotestantischen Traditionen, wie sie in der NS-Zeit ihre dramatischen Auswirkungen gefunden hatten. Hinsichtlich des sich abzeichnenden Ost-West-Konfliktes plädierte man für eine Haltung der Äquidistanz, so exemplarisch in dem Wort des Bruderrates vom November 1949: "Gebt Gott Recht". Beide Seiten, West wie Ost, wurden aufgerufen, den Menschen als Ebenbild Gottes zu achten, da die Humanität sowohl durch den Kapitalismus, der den Menschen als eine "Arbeitsware zur Vermehrung des Kapitals" behandelt, wie durch die "Zwangsarbeit im Dienst staatlicher Planwirtschaft" gefährdet werde. Demgegenüber forderte der Bruderrat die biblisch begründete Humanität, wie sie theologisch vor allem von Karl Barth im Rahmen seiner Anthropologie als einer Humanität der Mitmenschlichkeit entfaltet worden war, als Leitbild gesellschaftlicher Gestaltung ein.

Distanz zu Adenauer

Diese Haltung führte zu einer deutlichen Distanz gegenüber den Grundentscheidungen der frühen Bundesrepublik. Gegen Adenauers Westorientierung plädierte man, exemplarisch Gustav Heinemann und seine Mitstreiter, für eine Politik der Wiedervereinigung und Versöhnung mit den Völkern Osteuropas. Diese Initiativen bereiteten schließlich die berühmte Ostdenkschrift der EKD von 1965 vor und halfen im kirchlichen Bereich, der auf Entspannung ausgerichteten Ostpolitik der späteren sozialliberalen Koalition den Weg zu bereiten. Theologisch war diese Position von Karl Barth geprägt, wobei neben dem biblisch begründeten Verständnis von Humanität die Versöhnungsethik eine zentrale Rolle spielte. Barths Ethik der Versöhnung als Antwortgeschehen und Entsprechung zur Bundestreue Gottes in Jesus Christus zielt auf den Kampf gegen "herrenlose Gewalten", die Barth als Folge des menschlichen Versuchs, in Abwendung von Gott ein autonomes Leben zu führen, deutete. Gegen diese "herrenlosen Gewalten" realisiert das Kommen Jesu Christi die Versöhnung Gottes mit der Welt und eröffnet Handlungsperspektiven etwa gegen die eigengesetzliche Herrschaft staatlicher Macht oder gegen "das Kapital".

Im Hintergrund steht hier das von Barth in Christengemeinde und Bürgergemeinde 1946 skizzierte Modell der Gleichnisfähigkeit und Gleichnisbedürftigkeit gesellschaftlicher und speziell politischer Strukturen hinsichtlich der in Christus geschehenen Versöhnung, das Analogien zu einem demokratischen und sozialistisch orientierten Gesellschaftskonzept aufweist.

Gegenmodell Thielicke

Das theologisch-ethische Gegenmodell vertrat Helmut Thielicke. Vor dem Hintergrund einer an der lutherischen Tradition orientierten Ethik stand er im politischen Bereich zu den Grundentscheidungen der frühen Bundesrepublik. Anders als der Reichsbruderrat trat Thielicke bereits unmittelbar nach Kriegsende gegen eine politisch zu interpretierende Schulderklärung der deutschen Seite ein, betonte theologisch die Gegenseitigkeit aller menschlichen Schuld und die Notwendigkeit der Vergebung auf allen Seiten. In diesem Sinn kritisierte er öffentlich auch die Politik der Besatzungsmächte, etwa im Blick auf Entnazifizierungsverfahren oder hinsichtlich der oft problematischen Behandlung der Deutschen in Kriegsgefangenschaft und der Ostflüchtlinge.

Besonders wirkmächtig wurde Thielicke durch seine Ethik, in der er die öffentliche Verantwortung der Kirche und ihre bedeutende Rolle für alle kulturellen und gesellschaftlichen Fragen betonte. Theologisch entwickelte er diese seine Ethik auf der Grundlage der lutherischen Rechtfertigungslehre. Dementsprechend bleibt der Bereich des Han­delns stets uneindeutig, weil Christen als zugleich Gerechtfertigte und Sünder immer wieder die Unruhe des Scheiterns angesichts der absoluten Forderungen des Reiches Gottes in ihrem Gewissen erleben. Menschliches Handeln kann bestenfalls zeichenhaft auf die Rechtfertigung verweisen. Die Zweideutigkeit menschlichen Handelns ist von Thielicke insbesondere durch Modellfälle für ethische Entscheidungen herausgearbeitet worden. Solche Modellfälle sind wesentlich Konfliktsituationen, in denen es um eine Abwägung unterschiedlicher Güter im Sinn einer aufrichtigen Suche nach einem Kompromiss geht: "Überall aber, wo ein echter Konflikt auftaucht, entsteht auch die Frage des Kompromisses, welchem der beiden kollidierenden Postulate ich zugunsten des anderen den Vorrang gewähren muss."

Solche Konfliktsituationen sind nach Thielicke ein "Zeichen der Wunde am Leib unserer Welt" und insofern Konsequenz und Ausdruck der menschlichen Situation nach dem "Fall". Thielickes Ethik ist wesentlich eine Ethik des Kompromisses, da der Mensch sein ethisches Handeln an der Weltwirklichkeit orientieren muss, was sowohl einen "sittlichen Radikalismus" wie einen "schwächlichen Kompromissgeist" ausschließt. Somit ist das unruhige Gewissen Kennzeichen des Christen, der sich in seiner Gewissensnot immer wieder auf die Gnade der Rechtfertigung verwiesen wissen darf. Dementsprechend betonte Thielicke die individuelle Verantwortung und vertrat in der Ethik ein personales Prinzip, das die Sicherung der Würde des Menschen zum zentralen christlichen Anliegen werden ließ.

Ethik des Kompromisses

Vor dem Hintergrund dieser theologisch-ethischen Grundentscheidungen verteidigte Thielicke die freiheitlich orientierte Gesellschaftsentwicklung der Bundesrepublik. Gegen neutralistische Tendenzen trat er für eine klare Westorientierung ein, was für ihn auch die Notwendigkeit der Aufrüstung nach sich zog. Mit dieser Haltung einer großen Nähe zur CDU drückte er den liberal-konservativen Mainstream in der evangelischen Kirche und in der Gesellschaft der frühen Bundesrepublik aus.

Während Thielicke mit seiner Ethik des Kompromisses eine positive, aber durchaus gebrochene Bezugnahme auf den gesellschaftlichen Status quo eröffnete, haben andere Theologen die Fortschrittsorientierung der Wirtschaftswunderzeit noch deutlicher mit einer theologisch begründeten Weltzugewandtheit zum Ausdruck gebracht. So hat Friedrich Gogarten in "Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit" eine positive theologische Bedeutung der Säkularisierung erarbeitet, die er vom "Säkularismus", wie er ihn in atheistischen Weltdeutungen zum Ausdruck gebracht fand, grundlegend unterschied. Gerade weil der Mensch von Gott her erlöst sei, könne er sich verantwortlich ganz der Welt zuwenden und diese im Sinne des wissenschaftlichen Fortschritts umgestalten.

Betonung der Mündigkeit

Darüber hinausgehend zielten einige Rezeptionen der Gefängnisbriefe Bonhoeffers – so etwa Harvey Cox – mit der Betonung der Mündigkeit der modernen Welt auf eine sich säkular verstehende Christenheit im Dienst sozialer Reformen und gesellschaftlichen Fortschritts. Auch die durch Rudolf Bultmann entfachte Debatte um die Entmythologisierung neutestamentlicher Aussagen im Sinne einer existentialen Interpretation lässt sich in diesem Zusammenhang als Versuch verstehen, den christlichen Glauben mit dem modernen, wissenschaftlich bestimmten Wirklichkeitsverständnis zu vermitteln; gläubige Existenz ist in dieser Perspektive mit Weltbezogenheit verbunden.

Bei allen Unterschieden ist diesen Konzeptionen gemeinsam, dass sie in apologetischer Weise die Modernität des christlichen Glaubens angesichts des technisch bestimmten Fortschrittsdenkens ihrer Zeit aufzuzeigen versuchten und den christlichen Glauben als Aus­druck menschlichen Selbstverständnisses oder der Motivation zum Handeln verstehen. Kritische Anfragen an das seinerzeit vorherrschende Verständnis wissenschaftlicher Vernunft oder gesellschaftlichen Fortschritts finden sich in diesen Entwürfen bestenfalls am Rande.

Einen anderen Akzent setzte demgegenüber Paul Tillich, dessen Werke seit der Mitte der Fünfzigerjahre auch in Deutschland auf eine große Resonanz stießen. Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg hatte Tillich noch euphorisch im Sinn der Möglichkeiten eines schöp­ferischen Kairos interpretiert, nun diagnostizierte er für die Zeit nach 1945 kulturkritisch den Verlust eines einheitlichen geistlichen Zentrums und sah das menschliche Leben radikal durch das "Nichtsein" in Frage gestellt. Daher verstand er die Angst, speziell die Angst vor Sinnlosigkeit, als Signatur der Zeit. Tillich gelang es, die Gefahren psychischer Desintegration in Aufnahme der Erkenntnisse der modernen Psychologie prägnant zu beschreiben, wobei sich in der US-Wohlstandsgesellschaft die psychischen Krisen der Moderne deutlicher und früher zeigten als in Deutschland. Ausdruck der christlichen Glaubenshaltung im Zeitalter der Angst war für ihn der "Mut zum Sein" als Kraft der Selbst­bejahung. Er ist ein Geschenk der Gnade, die Tillich theologisch als Teilhabe an dem durch Jesus Christus verwirklichten "Neuen Sein" beschrieb. Sie eröffnet den entfremdet lebenden Menschen die Möglichkeit der personalen Selbstintegration, die Tillich als fragmentarische Verwirklichung eines neuen Lebens in der Kraft des Geistes deutete. Eng verknüpft mit der eigenen Selbstintegration ist die Anerkennung des Anderen als Person, da nur in einer wechselseitigen Gemeinschaft von Personen die Entfaltung eines Lebens im Geist der Liebe möglich ist.

Konzentration aus das Gewissen

Die theologischen Entwürfe in den Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren konzentrierten sich also wesentlich auf das Selbstverständnis bzw. das Gewissen der Individuen. Dabei traten gesellschaftsbezogene Fragestellungen und theologische Reflexionen der Geschichte in den Hintergrund. Nicht nur die gesellschaftliche Situation der Bundesrepublik lässt sich mit Adenauers Wahlslogan von 1957 "Keine Experimente" charakterisieren, sondern ebenso die theologische Lage. Vor diesem Hintergrund wirkte der theologische Neuansatz, den Jürgen Moltmann mit seiner Theologie der Hoffnung (1964) formulierte, umso prägnanter. In Anlehnung an die berühmte elfte These von Karl Marx über Feuerbach proklamierte er: "Für den Theologen geht es nicht darum, die Welt, die Geschichte und das Menschsein nur anders zu interpretieren, sondern sie in der Erwartung göttlicher Veränderung zu verändern." Mit dieser Abgrenzung gegenüber den theologischen Entwürfen seiner Zeit betonte Moltmann in Anlehnung an die Kategorie des "Novum" bei Ernst Bloch in neuer Weise die Hoffnungsdimension des christlichen Glaubens, die er im Sinn einer Ethik der Veränderung, einer "transformativen Ethik", zu konkretisieren versuchte. Dieses theologische Konzept korrespondierte eng mit den politischen und sozialen Aufbrüchen seit den frühen Sechzigerjahren.

Neben diesem Neuanfang ist an eine weitere Neuorientierung zu erinnern. Sie ist mit der Einrichtung der "Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag" 1961 verbunden. Nach der kurzen Phase der Auseinandersetzung mit der Schuld der NS-Zeit, speziell der Schuld angesichts des Zivilisationsbruchs durch die Ermordung der europäischen Juden, begannen in dem Erschrecken über die kirchliche Mitverantwortung zunächst nur einzelne Theologen an einem neuen theologischen Verständnis des Judentums zu arbeiten. Ralph Giordano sprach 1978 von einer "zweiten Schuld", der Verdrängung und Verleugnung der ersten Schuld nach 1945. Dieses Verdikt traf auch auf den deutschen Protestantismus zu. Immerhin lassen sich spätestens seit dem Beginn der Sechzigerjahre ernsthafte Versuche einer theologischen Neuorientierung feststellen, die nach und nach zu einer theologischen Neubestimmung des Verhältnisses von Christen und Juden geführt haben.

Traugott Jähnichen

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Traugott Jähnichen

Traugott Jähnichen ist Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der der Ruhr-Universität Bochum und Mitglied der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche von Westfalen.


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