Das Geheimnis des Herrn K.

Kierkegaard hat das Christentum als Tragödienkritik und Kultur der Freiheit entdeckt
Luplau Janssen: Kierkegaard an seinem Schreibpult, undatiert. Foto: akg-images
Luplau Janssen: Kierkegaard an seinem Schreibpult, undatiert. Foto: akg-images
Er galt als Dandy auf der Flaniermeile Kopenhagens, inspirierte Philosophen und Künstler und ging mit der Kirche streng ins Gericht. Dennoch gelang Søren Kierkegaard der Ausbruch aus der religiösen Enge seines Elternhauses nicht. Lag es an der Schuld, die der Vater auf sich geladen hatte? Der Theologieprofessor und Schriftsteller Klaas Huizing über den Philosophen, der am 5. Mai vor 200 Jahren geboren wurde.

K. erzählte mir einmal - dies fällt mir bei der Erzählung seines Alters ein -, dass er als Junge während vieler Jahre in der festen Überzeugung gelebt hätte, er müsse sterben, wenn er 33 Jahre alt werde. (War es das Alter Jesu, das auch Norm für die Nachfolge Jesu sein sollte?) - Dieser Glaube war so fest bei ihm, dass er, als er dieses Alter passierte, sogar im Kirchenbuch nachsehen ließ, um sich zu vergewissern, dass es wirklich überschritten war; so schwer war es für ihn, das zu glauben."

Diese biographische Auskunft, die das ungläubige Staunen bewahrt hat, stammt von Hans Brøchner, einem Freund Søren Kierkegaards, und macht hellhörig. Verbirgt sich hinter den knappen Sätzen eine an Wahn grenzende Überidentifikation mit dem Stifter des Christentums? Wer unter Google-Bilder nachschaut, findet Porträts von Kierkegaard, die durchaus nicht an unsere Vorstellung von einem eher bescheiden auftretenden Wandercharismatiker aus Palästina erinnern. "Er (...) hatte etwas sehr Unregelmäßiges in seiner ganzen Gestalt und eine sonderbare Frisur. Sein Haar stand in einem hochfahrenden Kamm beinahe einen Viertelmeter über seiner Stirn empor." So beschreibt sein Freund die äußere Erscheinung Kierkegaards, der als Elegant und Dandy der Flaniermeile Kopenhagens ein Gesicht gab. Understatement war definitiv nicht sein Thema.

Pietistisches Dschungelcamp

Wer wie ich zur Generation des Familiencoaching gehört, wird hinter dem Zitat sofort ein Familiengeheimnis vermuten und Kierkegaards prätentiöse Auftritte als verzweifeltes Ringen mit einem dunklen Fleck im familiären Umfeld deuten. Und diese Lesart bewährt sich durchaus; unter dieser Perspektive dokumentieren nämlich die bühnenreifen Auftritte den versuchten Ausbruch aus dem von Schwermut, stumpfer Frömmigkeit und religiöser Enge geprägten Milieu seines Elternhauses. Glaubt man einer Tagebuchnotiz aus dem Jahre 1836, misslang die so versuchte Stabilisierung: "Ich komme jetzt eben aus einer Gesellschaft, wo ich die Seele war, die Witze strömten aus meinem Munde, alle lachten, alle bewunderten mich - aber ich, ja, der Gedankenstrich müsste genau so lang sein wie die Radien der Erde ------------ ich ging fort und wollte mich erschießen."

Kierkegaard (1813-1855), der in diesen Tagen seinen zweihundertsten Geburtstag feiert, war "zeitgemäß" im besten Sinn des Wortes, er war ein Familientherapeut avant la lettre, weil man bei ihm studieren konnte, wie schmerzhaft solch ein Prozess war, wenn man sich aus dem pietistischen Dschungelcamp befreien wollte, warum der Versuch scheitern und wie er gelingen konnte. An Kierkegaard hat mich immer seine persönliche Entwicklung und Künstler-Vita fasziniert, diese mäandernde biographische Erkundung der eigenen Existenz, die sich in großen biblisch-legendarischen und fiktiven Figuren der Literaturgeschichte wiedererkennt. Durch hervorgepresste Andeutungen kam der den Dandy spielende, nachtaktive Student Kierkegaard hinter das Geheimnis seines Vaters, der offenbar in jungen Jahren in der Einsamkeit Jütlands Gott verflucht - und wahrscheinlich auch seine Magd nach dem Tod seiner ersten Ehefrau zum Beischlaf gezwungen hatte. Sein Vater glaubte, als Strafe für seine Taten den Tod aller Kinder vor dem vierundreißigsten Lebensjahr - spätestens im Todesjahr Jesu also - in Kauf nehmen zu müssen. Fünf der sieben Kinder starben in der Tat spätestens mit dreiundreißig. Unter diesem gedeuteten Fluch des Vaters lebte Kierkegaard.

Kein Eheratgeber

Dieses lastende Geheimnis war auch ein Grund für Kierkegaards Verlobungsdrama mit Regine Olsen: Eine Ehe verlangte, so Kierkegaards Überzeugung, radikale Aufrichtigkeit. Seiner Verlobten Regine Olsen das Familiengeheimnis anzuvertrauen, hätte aber bedeutet, seinen Vater zu verraten. Trägt man die Selbstdeutungen aus den Schriften und Tagebüchern zusammen, ergibt sich folgendes Bild: Søren Aabye Kierkegaard hat wie Salomo die Taten seines Vaters (sein Vater wurde von Kierkegaard als eine Synopse aus David und Hiob gedeutet) erahnt, wie Cordelia sich mit ihrem Vater, dem König Lear, so versöhnte auch er sich schließlich mit seinem Vater, und wie Antigone das Geheimnis um ihren Vater bewahrte, so gab auch Kierkegaard dieses Geheimnis seiner Verlobten gegenüber nicht preis und entschied sich auch deshalb für eine Lösung der Verlobung. "'Mein Leben hat eine geheime Notiz', sagte er. 'Etwas, worüber ich nicht sprechen kann. Ich wünschte, ich könnte es.'" Dies bekennt Kierkegaard in Finn Jors einfühlsamem Roman "Sören und Regine". Als Eheratgeber war Kierkegaard (wie auch Kafka) für Leserinnen und Leser also nicht unumwunden zu empfehlen.

Kierkegaards ursprüngliche Einsicht war, dass das eigene Leben immer als Prozess einer stetigen Deutung der biographischen Erlebnisse geschieht. Diesen Prozess der Deutung beschleunigen und verdichten Wiedererkennungs-Prozesse durch eine Identifikation mit exemplarischen Figuren der Bibel und Literaturgeschichte. Zeit seines Lebens hat Kierkegaard die Deutungen immer wieder überprüft und zum Teil revidiert. Christenmenschen sind, darin unterschieden von Menschen der antiken Lebensdeutung, nicht auf einen Lebensentwurf und eine Deutung schicksalhaft festgelegt. Erkannte sich Kierkegaard in einer Figur der griechischen Tragödie wieder, dann vollzog er selbstredend diesen Auslegungsprozess in einem ganz speziellen Deutungsrahmen, der eben nicht der der griechischen Tragödie war. Begrifflich hat Kierkegaard den revolutionären Bruch des Christentums mit der Antike durch den Ausdruck "Wiederholung" ("Die Wiederholung", 1843) zu greifen versucht und in einem Atemzug gegen den traditionsmächtigen platonischen Begriff der "Wiedererinnerung" abgegrenzt.

Eigener Entwurf

Die Wiedererinnerung steht für die antike Idee des ein- für allemal pränatal gewählten Lebensschicksals, wie der mächtige Schlussmythos der "Politeia" (617df.) ihn plastisch vor Augen malt. Bei ihrer Einkörperung vergisst die Seele ihre ursprüngliche Wahl der Lebensweise, aber der beigegebene Dämon sorgt dafür, dass die Seele ihrem gewählten Schicksal entsprechend agiert. Hilfestellung bietet nach Platon die Philosophie, die den Menschen auf der Wahrheitssuche begleitet und für die definitive Erleuchtung, die göttliche Schickung (theia moira) vorbereitet. Damit aber ging auch Platon über die antike Tragödie hinaus, die eine "vollständige Enthüllung des Schicksals" bekanntlich nicht zulässt. Auch Platons Philosophie war, wenn auch weniger radikal als das Christentum, Tragödienkritik.

Und nun Kierkegaards Einsatz. "Wenn die Griechen sagten, dass alles Erkennen Erinnern ist, so sagten sie, das ganze Dasein, welches da ist, ist dagewesen; wenn man sagt, das Leben ist eine Wiederholung, dann sagt man, das Dasein, welches dagewesen ist, wird nun daseiend." Hinter der Maske des pseudonymen Autors Constantin Constantius verborgen, stellte Søren Kierkegaard antike und christliche Lebensdeutung trennscharf gegenüber. Die "Freiheit eines Christenmenschen" bestand darin, sich einen "Entwurf" des eigenen Lebens zu machen. Wird dieser Entwurf in die Wirklichkeit umgesetzt, kommt es zu einer Wieder-Holung des Entwurfs. Im Augenblick der Realisation wird also das für die Zukunft Projizierte als Vergangenheit in der Gegenwart wiederholt. "Sein" verstand Kierkegaard hier also ganz konsequent aus der Zeit. Das war seine Entdeckung.

Kierkegaard hat aber in seinem eigenen Leben die Erfahrung machen müssen, dass uns die vielfältigen Entwurfsmöglichkeiten ängstigen und wir in unseren Entwürfen von den Entwürfen anderer nicht unabhängig sind. Da der existenzielle Denker quasi in jedem Augenblick seinen Lebensentwurf umsetzt, er dabei auch von den Mitvollzügen der Anderen berührt wird, muss er immer wieder kontrollieren, ob er seinem Selbstentwurf noch gerecht wird oder ob er notfalls gezwungen ist, ihn abzuändern. Kierkegaard hat, dabei die Ränder des Wahnsinns ertastend und die Verzweiflung durchleidend, diese Prüfung in seiner Kunst der existenziellen Ehereflexion ("Stadien auf des Lebens Weg", 1845) durchgespielt.

Kaltes Prinzip

Glücken kann das Leben nach Kierkegaard nur, wenn die Lebensentwürfe in den Kontext eines religiösen Deutungsrahmens eingezeichnet werden. Die unendlichen Möglichkeiten ängstigen uns und führen uns letztlich in die Verzweifelung. Uns muss die Frage hier nicht stressen, ob Kierkegaards berühmte hochkomplexe Struktur des Selbst in der Eingangspassage der "Krankheit zum Tode" (1849) vielleicht doch so gewählt wurde, dass der notwendige Sprung in den Glauben oder das durchsichtige Gründen in Gott eine "self fulfilling prophecy" darstellte: Christus war als glückliche Verbindung von Unendlichkeit und Endlichkeit für Kierkegaard das Maß schlechthin. Die "Grundbewegtheit des Lebens" zwischen den Möglichkeiten des Lebensentwurfs und der Angst, das Lebensganze zu verfehlen, glaubte Kierkegaard nur im Rekurs auf den dogmatischen Christus der Tradition angemessen beschreiben zu können.

Eine nicht kleine Schwäche Kierkegaards besteht aber darin, dass dieser Christus zum leeren und kalten Prinzip verkommt. Selbst in den "Erbaulichen Reden" und später in seinen sehr lauten Streitschriften gegen die dänische Kirche hat Kierkegaard keine große Szene komponiert, wie denn eine enthusiasmierende Wiedererkennung möglich sein sollte. Kierkegaard, dieser Großmeister in der Interpretation des Sokrates, hat die sprachlichen Möglichkeiten, die ihm die Bibel bot, letztlich nicht ausgenutzt. Darin besteht auch seine Grenze. An dieser Stelle wird man ganz entschieden über Kierkegaard hinausgehen müssen. Warum und wie kann man sich in der Lebensgestalt des biblischen Christus wiedererkennen und die eigene Existenz glücklich im Kontext des dort eröffneten Spielraums wiederholen?

Einfluss auf Martin Heidegger

Der Einfluss Kierkegaards auf das philosophische und theologische Geistesleben ist kaum zu überschätzen. Martin Heidegger hat sich viele Einsichten von ihm geborgt und die Schuld nie öffentlich abgetragen. Der Existenzialismus, welcher Provenienz auch immer, eine der schönsten philosophischen Moden des 20. Jahrhunderts, ist ohne Kierkegaard nicht denkbar. Kierkegaards literarisch fraglos brillanteste Schrift "Entweder Oder" (1843) und darin das in jeder Hinsicht frappierende "Tagebuch eines Verführers", garantieren ihm bis heute Aufmerksamkeit bei den Germanisten. Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, dass Kierkegaards philosophische Einsicht überhaupt erst die Theorie für den modernen Roman geliefert hat: Prosa-Produktion verlangt nämlich eine Lebensdeutung, die für unterschiedliche Entwürfe und Krisenlösungen offen ist und nicht notwendig im Schicksal (Tragödie) oder im einmal pränatal gewählten Lebensentwurf (Platon) befangen bleibt. Auch die dialogische Philosophie - reichend von Ebner, Buber, Rosenzweig, Rosenstock-Huessy bis zu Levinas und Tischner - kann und muss sich auf Kierkegaard als ihren Gründungsvater berufen.

Die Rezeption Kierkegaards in der Theologie verlief dagegen sehr zwiespältig. Vertreter der Dialektischen Theologie hielten ihn für einen Geistesverwandten. Bei näherem Hinsehen ist die mentale Ahnenforschung allerdings mehr als zweifelhaft: Kierkegaard war kulturfrömmer als man es in diesen Kreisen wahrhaben wollte. Dieser höchst einseitigen Rezeption auch ist es zu verdanken, dass Kierkegaard immer wieder herhalten muss, will man die Ästhetik innerhalb der Theologie diskreditieren. Und die Theologen, die sich an der Subjektivitätstheorie Kierkegaards abarbeiten, unterschlagen sehr grundsätzlich die literarischen Formen seiner Philosophie. Der religiöse Schriftsteller Kierkegaard wollte, einer Selbstauskunft zufolge, den Leser aus falschen Einbildungen befreien und im Fixierspiel der indirekten Mitteilungen in "die Wahrheit hinein (...) betrügen". Auch darin ist Kierkegaard gegenwartstauglich: Uns postsäkularen Zeitgenossen sind, wie damals ihm selbst, die alten wissenschaftlichen und kirchlichen Autoritäten abhandengekommen, aber wir können dank Kierkegaard Erfahrungen mit den religiösen Erfahrungen machen, die Kierkegaard in der verschwenderischen Fülle seiner Texte inszeniert hat. Letztlich entscheiden wir als Leser, ob wir uns in diesen fremd-vertrauten Texten wiedererkennen und ob wir sie wieder-holen wollen.

Aufgereiht auf meinem Schreibtisch verströmen die schwarzen, mit goldenen Lettern bedruckten Bände der deutschen Kierkegaard-Ausgabe, die von Ferne an Grabsteine erinnern, eine kräftige Erinnerungs-Atmosphäre. Diese Bände werden jetzt ergänzt durch die schmucken Bücher der Deutschen Søren-Kierkegaard-Edition, die im Inneren endlich die verschmockte Sprache des Übersetzers Emmanuel Hirsch ersetzen. Auch zweihundert Jahre nach Kierkegaards Geburt kann man Kierkegaard neu entdecken - auch wenn man ihm in Modefragen nicht folgt. Er hat - vielleicht ist ihm in dieser Hinsicht nur Johann Georg Hamann gleichwertig - das Christentum als Tragödien-Kritik entdeckt, als eine Kultur der Freiheit, die sich ästhetisch in einer neuen Form, dem Roman und Tagebuchroman, darstellt. Er hat sich literarisch an dieser Freiheit wütend, ironisch, humorvoll und ernst abgearbeitet. Darin ist er unerreicht.

Literatur

Sören Kierkegaard: Entweder - Oder, Teil I und II. Herausgegeben von Hermann Diem und Walter Rest unter Mitwirkung von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft. Aus dem Dänischen von Heinrich Fautec. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2005, 1040 Seiten, Euro 13,90.

Uwe Birnstein/Frank Hofmann: Sören Kierkegaard. Wichern-Verlag, Berlin 2012, 144 Seiten, Euro 14,95.

Klaas Huizing

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: Privat

Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kultur"