"Müssen wir Vater anzeigen?"

Als Pfarrerssohn zwischen NS-Ideologie und widerständigem Elternhaus
Viele Kinder und Jugendliche ließen sich vom Nationalsozialismus begeistern: HJ-Zeltlager 1939. Foto: akg-images
Viele Kinder und Jugendliche ließen sich vom Nationalsozialismus begeistern: HJ-Zeltlager 1939. Foto: akg-images
Der emeritierte Münsteraner Theologieprofessor Karl-Wilhelm Dahm stammt aus einem evangelischen Pfarrhaus. Hier schildert er, wie er und sein Bruder als Kinder so sehr von der Naziideologie infiziert worden waren, dass sie zeitweise mit dem Gedanken spielten, ihren Vater wegen Abhörens eines "Feindsenders" anzuzeigen.

Es war im Herbst 1944. Mein Bruder, damals zwölf, und ich, dreizehn Jahre alt, hatten heimlich an der durch einen Schrank verdeckten Tür zum Amtszimmer gelauscht und dabei entdeckt, dass unser Vater im Radio den "Feindsender" BBC abhörte. Mit ihm im Zimmer waren zwei NS-kritische Gesinnungsgenossen: der sozialdemokratisch eingestellte Dorflehrer E. und der entschieden katholische Oberförster G. Beide waren nach Einbruch der Dunkelheit ins Pfarrhaus gekommen, um gemeinsam den englischen Sender zu hören und die Nachrichten zu besprechen.

Mein Bruder und ich wussten, dass das streng verboten war. Im Gymnasium und in der Hitlerjugend (HJ) waren wir ständig aufgefordert worden, wachsam zu sein, ob jemand einen feindlichen Rundfunksender hörte, und das gegebenenfalls sofort bei der Polizei zu melden. Wenn wir das nicht täten, würden wir uns selbst der Beihilfe zur Wehrkraftzersetzung schuldig machen und schwer bestraft werden. Was sollten wir also tun? Müssten wir das wiederholte Abhören des Feindsenders durch unseren Vater nicht der Polizei anzeigen? Wir waren hin- und hergerissen.

Einerseits waren wir von der NS-Ideologie nicht wenig beeinflusst. Jahrelang hatten sich Lehrer und HJ-Führer bemüht, uns diese Ideologie nahezubringen und uns darauf einzuschwören. Wir hatten uns von den drei Jahre lang anhaltenden Siegesmeldungen der deutschen Wehrmacht begeistern lassen, waren unbekümmert engagiert im "Jungvolk" mit seinen Geländespielen, Bastelstunden, Aufmärschen mit Blasmusik und Trommelschlag. Von Judenpogromen hatten wir keine Ahnung: Weder in unserem Ort noch in unseren Gymnasialklassen gab es einen einzigen Juden. In der Schule war uns, dem Nachwuchs der "arischen" Rasse, eine glänzende Zukunft prognostiziert worden. Als es dann ab 1943, nach Stalingrad, im Krieg rückwärts ging, waren wir beschworen worden, unsere eigenen Beiträge zum Sieg im "Schicksalskampf des deutschen Volkes" zu erbringen. Dazu gehörte es, jeder Art von Wehrkraftzersetzung entgegenzuwirken, also defätistische Äußerungen, Beleidigungen der Partei oder gar des "Führers" und insbesondere eben das Abhören feindlicher Sender sofort bei der Polizei oder bei den Funktionären der NSDAP zu melden. War es darum nicht unabdingbar gefordert, auch den eigenen Vater anzuzeigen?

Auf der anderen Seite erlebten wir, wie unser Vater von unserem fanatischen NS-Ortsgruppenleiter schikaniert und öffentlich attackiert wurde. Wenige Tage bevor wir entdeckten, dass er den Feindsender BBC abhörte, hatte der Ortsgruppenleiter ihm auf dem Dorfplatz vor der Kirche lauthals gedroht: "Ich bringe dich nach Dachau, warte nur ab - spätestens nach dem Sieg!"

Wie der radikale Ortsgruppenleiter wusste jeder im Dorf, dass unser Vater dem Nationalsozialismus von Anbeginn an und von Grund auf ablehnend gegenüber gestanden hatte. Schon vor der Machtübergabe an Hitler am 30. Januar 1933 hatte er gegen die in der Pfarrkonferenz des Kirchenkreises vorherrschenden Tendenzen zugunsten der nationalsozialistisch infiltrierten "Glaubensbewegung Deutsche Christen" (DC) nachdrücklich opponiert. Dadurch war er zusammen mit seinem "halbjüdischen" Amtsbruder N. bis Ende des Jahres 1933 in der Pfarrkonferenz ziemlich isoliert. Im Sommer 1932 hatte Vater bei der Beerdigung eines von der SA ermordeten jungen Sozialdemokraten aus seiner Gemeinde deren rüde Kampfesmethoden kritisiert und sich so den bleibenden Unmut der SA zugezogen. Nach der "Machtübernahme" hatten sich die Auseinandersetzungen mit den DC und den örtlichen NS-Funktionären gesteigert. Schon im August 1933 hatte der örtliche Obmann der DC, der zugleich Vorsitzender des Presbyteriums und Ortsgruppenleiter war, ein Amtsenthebungsverfahren gegen unseren Vater beantragt. Es wurde aber von der Kirchenbehörde zurückgewiesen.

Als Heranwachsende erlebten wir Pfarrerskinder immer deutlicher und unmittelbarer, wie Vater von den NS-Behörden, konkret von überörtlichen Polizisten, schikaniert und drangsaliert wurde. Besonders in Erinnerung ist mir, wenn nach dem sonntäglichen Gottesdienst häufig ein oder sogar zwei Polizisten in das Studierzimmer des Pfarrhauses vordrangen, "um mich total fertigzumachen", wie Vater in seinem Lebensbericht schreibt. Sie beschimpften und bedrohten ihn, weil er trotz Warnung die NS-kritischen Rundbriefe der Bekennenden Kirche (BK) auf der Kanzel vorgelesen hatte oder weil er sich in der Predigt "indirekt" gegen die "Euthanasie", die "Tötung unwerten Lebens" von Schwerbehinderten, gewendet oder auch andere NS-Maßnahmen versteckt kritisiert habe.

Wenn die Polizisten gegangen waren, kehrte Vater bleich und manchmal zitternd in den Familienkreis zurück, wo wir mit dem Essen auf ihn gewartet hatten. Aber die Stimmung blieb gedrückt. Wir vier Kinder, damals alle unter acht Jahren, spürten, wie der Vater litt. Und das übertrug sich auf uns - ohne dass wir genau wussten, worum es ging. Nach dem Zusammenbruch des NS-Systems erwähnte er oft, dass er sich damals, vor 1940, sehr allein gelassen gefühlt habe. Die meisten Presbyter, gerade auch die pietistischen, hätten ihn dauernd gemahnt, sich doch stärker an dem Pauluswort zu orientieren: "Jedermann sei untertan der Obrigkeit" - und die NS-Regierung sei nun einmal unsere von Gott eingesetzte Obrigkeit. An seiner Bedrängnis sei er darum selbst schuld. Vater argumentierte dagegen: Er müsse seinem Gewissen und dem Ordinationsgelübde folgend die Rundbriefe der BK vorlesen und wenigstens im Falle von Schwerstbehinderten aus der eigenen Gemeinde andeuten, dass deren Tötung gegen Gottes Gebot "Du sollst nicht töten" verstoße.

Im Frühjahr 1940 änderte sich die Situation schlagartig. Unserem Vater wurde in einem anonymen Schreiben angeraten, sich als Weltkrieg-I-Offizier freiwillig zur Wehrmacht zu melden, andernfalls könne es ihm so ergehen, wie seinem Studienkollegen, Pfarrer Paul Schneider, der wenige Monate vorher im KZ Buchenwald ermordet worden war. Auf diesen Brief folgten Tage spannungsreicher familiärer Überlegungen, die mir, als damals fast Neunjährigem, klar in Erinnerung blieben. Mein Vater sah im Wehrdienst vor allem die Möglichkeit, von der zermürbenden Bedrängnis durch Polizei und Funktionäre freizukommen; er empfand den Schritt in diese Richtung als eine "Erlösung vom Bösen", wie er schreibt. Meine Mutter hingegen flehte ihn zunächst an, sich nicht freiwillig zu melden. Sie war voller Angst, mit ihren vier kleinen Kindern den Unbilden und Ungewissheiten des Krieges allein ausgeliefert zu sein. Schließlich gab das drohende Schicksal Paul Schneiders den Ausschlag: Vater meldete sich freiwillig und war bis Anfang 1943 Soldat, zumeist an der Ostfront.

In den drei Jahren seiner Abwesenheit gewannen für uns Jungen die positiven Eindrücke von Nationalsozialismus im Alltag schnell die Oberhand: etwa die erwähnte Begeisterung anlässlich der "Sondermeldungen" des Rundfunks über den Vormarsch der deutschen Truppen oder die bündische Romantik von Fahnenweihen bei Fackelschein und feierlichem Gesang von "Heilig Vaterland", bei denen uns "Pimpfen" der Hitlerjugend Schauer über den Rücken liefen.

Doch sollte ich schon als Sextaner auch die andere Seite kennenlernen und erfahren, wie überzeugte oder opportunistische Nazilehrer mit der Prägung durch ein christliches Elternhaus umgingen: In der Adventszeit 1941 hatte der Zeichenlehrer unsere Klasse aufgefordert, den Vätern an der Front als Weihnachtsgruß eine selbstgemalte Postkarte zu senden. Als ich meine Mutter fragte, was man denn da malen könnte, schlug sie vor, einen Tannenzweig zu zeichnen und darunter zu schreiben "Friede auf Erden". Arglos folgte ich diesem Vorschlag. Als der Zeichenlehrer die Postkarte sah, fuhr er auf und schimpfte los: "Das ist Defätismus." Er befahl den Klassenkameraden, aufzustehen und, während ich wie bei einem Spießruten-Laufen nach vorne gehen musste, mir unter rhythmischem Händeklatschen zuzurufen "Defätist, Defätist". Ich fühlte mich bloßgestellt und blamiert, ohne als Zehnjähriger zu verstehen, was denn an der Botschaft "Friede auf Erden" verkehrt sein sollte.

Wenige Wochen später kam mein Vater zu einem kurzen Weihnachtsurlaub nach Hause. Als ich ihm von diesem Vorfall erzählte, ging er zum Direktor des Gymnasiums und fragte ihn, ob er es für richtig halte, dass Kinder von Frontsoldaten auf diese Weise gedemütigt und gegen die Überzeugungen ihres Elternhauses aufgebracht würden. Der Direktor seinerseits war zwar überzeugter Nationalsozialist und Träger des Goldenen Parteiabzeichens, wollte aber offenbar faire weltanschauliche Auseinandersetzungen und vor allem keine Kampagne gegen irritierte Sextaner. So ordnete er an, die kleinen Schikanen und bösartigen Spitzen gegenüber den Schülern, die aus Elternhäusern der Bekennenden Kirche kamen, ab sofort zu unterlassen. In der Unterstufe des Gymnasiums waren wir damals etwa 25 Schüler aus BK-Pfarrhäusern der Region. Nach 1945 stimmten alle darin überein, dass sich das Verhalten der fanatischen NS-Lehrer seit diesem Vorfall im Advent 1941 geändert habe und wir fairer behandelt worden seien.

Es war in unserer kleinen Welt also hin- und hergegangen, zwischen positiven und negativen Eindrücken von NS-Denken und Handeln, als Anfang 1943 unser Vater aus dem Wehrdienst entlassen wurde. Nun kam es erneut zu Konflikten; jetzt hauptsächlich mit dem neuen Ortsgruppenleiter. Dessen kinderreiche Familie hatte vor seinem Aufstieg zu den ärmsten des Dorfes gezählt; seine Kinder waren deshalb häufig zu Gast bei dem freien Mittagstisch gewesen, den unsere Mutter einmal wöchentlich im Pfarrhaus bereitstellte; die Gleichaltrigen waren zeitweilig Spielgefährten von uns Pfarrerskindern. Doch das alles spielte für den NS-Funktionär keine Rolle. Obwohl dessen ursprünglich kirchlich engagierte Ehefrau ihn zu bremsen suchte, forcierte er die Auseinandersetzungen mit meinem Vater bis hin zu den Drohungen: "Ich bringe dich nach Dachau." Wiederum aber gab es andere Parteimitglieder, die ihn von allzu scharfen Maßnahmen zurückhielten, vor allem mit dem Hinweis darauf, dass der Pfarrer sich als mehrfach verwundeter Soldat im Ersten und im Zweiten Weltkrieg um das Vaterland verdient gemacht habe.

So festigte sich mein Eindruck, es gebe auch "anständige" Nationalsozialisten, die es im Grunde gut mit uns meinten und denen es vorwiegend um den Schutz der Heimat vor "dem bolschewistischen Osten" gehe. Stets waren dabei die sachlich-inhaltlichen Fragen vermischt und oft durch Eindrücke von Menschen überlagert. Es gab unserem Gefühl nach einerseits die gemeinen, ja bösartigen Nazis, wie den Zeichenlehrer oder den Ortsgruppenleiter von 1944. Es gab aber andererseits eben auch die "guten" Parteimitglieder, wie den Gymnasialdirektor mit dem Goldenen Parteiabzeichen - und sogar "vorbildliche Nationalsozialisten", wie den im Dorf sehr beliebten Vorgänger des Ortsgruppenleiters, der nach seiner freiwilligen Meldung zum Kriegsdienst bald gefallen war.

Dass aber auch die "anständigen", uns Pfarrerskindern sympathischen Parteimitglieder das Abhören von Feindsendern nachdrücklich verurteilten, machte meinen Bruder und mich erst recht unsicher in der quälenden Frage, was denn unsere Verantwortung sei: Den "Lebenskampf unseres Volkes" mit der Bekämpfung von "Wehrkraftzersetzung durch die Feindsender" zu unterstützen - oder das Leben des Vaters zu schützen? Einer guten Eingebung folgend haben wir - im wörtlichen Sinne "Gott sei Dank" - den Vater nicht angezeigt. Der Einmarsch der Amerikaner im März 1945 befreite uns dann von allem Hin- und Hergerissensein. Langsam wurde uns klar, wie verbrecherisch der Krieg und die nationalsozialistische Politik insgesamt gewesen waren, und wir erkannten, wie sehr unser Vater mit seiner leidvollen und tapferen Widerständigkeit im Recht gewesen war.

Was mir darüber hinaus besonders im Bewusstsein geblieben ist aus dieser Zeit, ist die Erfahrung von den tiefen Unterschieden in der menschlich-persönlichen Haltung zwischen "anständigen" und "bösartigen" Nazis, also von Vertretern der gleichen Ideologie und Trägern des gleichen Partei-Abzeichens. Diese Unterscheidung zwischen menschlicher Haltung und Ideologie (oder theologischer Theorie!) sollte zu einer der wichtigsten Erfahrungen für mein weiteres Leben werden.

Karl-Wilhelm Dahm

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