Wenn Frauen das Geld verdienen
Ellen Ueberschär sitzt in ihrem Büro in Fulda, blickt aus dem Fenster und erinnert sich. An die Fragen, die sie beschäftigten, kurz bevor sie 2006 das Amt der Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages übernahm. Wie ist der Job zu stemmen? Wer versorgt dann die Tochter? Wie kann das gehen? "Wir haben dann gemeinsam entschieden, dass wir nach Fulda gehen. Mein Mann hat sich selbstständig gemacht und hauptsächlich die Familienarbeit übernommen." Bis dato war er Haupternährer der Familie und Geschäftsführer eines politischen Bildungsinstituts in Berlin. "Jetzt hält er mir den Rücken frei", sagt Ueberschär. "Ohne meinen Mann und meine Familie könnte ich das nicht leisten." Sechzig bis siebzig Stunden die Woche sind für sie keine Seltenheit, teilweise ist die Generalsekretärin an drei bis vier Tagen in der Woche unterwegs. "Mit Betreuungszeiten öffentlicher Einrichtungen wäre das nicht machbar gewesen."
Dass Ellen Ueberschär Familienernährerin wurde, war nicht geplant, ist aber ein Arrangement, mit dem die Familie gut leben kann. "Meine Idealvorstellung ist die, dass beide Partner arbeiten gehen können und die Kinder gut versorgt, gesund und fröhlich aufwachsen." Ein Wunsch, von dem die deutsche Realität noch weit entfernt ist. Familienunfreundliche, überlange Arbeitszeiten, Präsenzkultur und wenig Rücksicht und Verständnis für familiäre Bedürfnisse machen es schwer, Familie und Beruf zu vereinbaren. Ein hoher Druck lastet dabei insbesondere auf den Familienernährerinnen. Mit oftmals geringen Verdiensten tragen sie die Verantwortung für das Haushaltseinkommen und müssen zusätzlich noch die Fürsorge für die Kinder und die Hausarbeit übernehmen.
Die Doppelbelastung hat auch gesundheitliche Auswirkungen, wie Studien der gewerkschaftsnahen Hans-Boeckler-Stiftung zeigen. Ergebnisse für Ostdeutschland identifizieren Familienernährerinnen als die am meisten belastete Gruppe in der Gesellschaft. Vor allem vollzeitbeschäftigte Frauen und Alleinerziehende leiden unter Zeitkonflikten und einer drückenden Verantwortungslast. Sie kämpfen mit den daraus resultierenden körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen.
Auch die bewusste Entscheidung, die Rolle als Familienernährerin zu übernehmen, wie es bei Familie Ueberschär der Fall war, ist eher die Ausnahme. Trotz sehr guter Berufs- und Bildungsabschlüsse von Frauen und der steigenden Wahrscheinlichkeit, mit einer qualifizierten Ausbildung einen gut entlohnten Beruf zu erlangen, besitzen die meisten Familienernährerinnen keinen akademischen Abschluss. Fast ein Fünftel (17,5 Prozent) von ihnen sind sogar ohne Berufsabschluss. Sie übernehmen die Rolle aus einer Notsituation heraus und können sich meist schlecht mit ihr identifizieren.
Gründe dafür finden sich in der sich wandelnden Arbeitswelt mit zunehmenden atypischen Beschäftigungsverhältnissen. So nehmen befristete Arbeitsverhältnisse, Leiharbeit, Minijobs und (Solo-)Selbstständigkeit immer mehr zu. Die Anzahl der Teilzeitstellen mit einer Arbeitszeit von unter 31 Stunden pro Woche hat sich seit Mitte der Neunzigerjahre verdoppelt. Inzwischen arbeiten nur noch rund 60 Prozent aller Erwerbstätigen in einem so genannten Normalarbeitsverhältnis, also auf einer unbefristeten, sozialversicherungspflichtigen Vollzeitstelle. Die Folge dieser Entwicklung: Männern fällt es schwer, kontinuierlich einen Lohn zu verdienen, der für die gesamte Familie reicht. Wo der Familienernährer ausfällt, müssen Frauen mit ihrem Verdienst einspringen. Die Mehrzahl der Partner von Hauptverdienerinnen ist arbeitslos, erwerbsunfähig oder erwirtschaftet nur ein geringes Einkommen.
Ungewollt und unvorbereitet wurde auch Judith Simon aus Kassel zur Familienernährerin. Ihre Lebensplanung sah eigentlich ganz anders aus: Ehe, Kinder, Zeit für die Familie und den Haushalt, so war das geplant. Doch seit acht Jahren ernährt die 42-Jährige mit ihrem Einkommen nun die Familie. Seit der Trennung von ihrem Mann vor vier Jahren ist sie alleinerziehend. "Von heute auf Morgen kam die Kündigung, dann hat mein Mann lange nach einem Job gesucht, aber nichts gefunden, und irgendwann ging die Ehe dann auch kaputt." Judith Simon arbeitet in der Großküche eines Seniorenstifts. Während der Ehe hatte sie eine Teilzeitstelle, kümmerte sich um die zwei Kinder. "Dann stand ich auf einmal da, mit meinem kleinen Gehalt und hatte überhaupt keine Ahnung, wie das weitergehen soll." Judith Simon ist nicht gern Familienernährerin. Immer ist das Geld knapp, ihr Mann kam mit der neuen Rollenverteilung nicht zurecht. Es gab oft Streit. Um das Geld und um den Haushalt. "Das war er ja alles nicht gewöhnt."
Damit die Familie über die Runden kam, versuchte Judith Simon ihre Arbeitsstundenzahl aufzustocken. "Das war gar nicht so einfach, wenn man immer auf Teilzeit festgelegt war." Zum Glück ging eine Kollegin in den Ruhestand und Simon konnte ihre Stelle übernehmen. Aber die ständige Angst, entlassen oder krank zu werden, steckt tief. "Ich wüsste dann nicht, wie es weitergeht." Seitdem Simon alleinerziehend ist, trägt sie vor der Arbeit noch Zeitungen aus. Der späte Nachmittag ist für die Kinder reserviert. "Ich muss ja schauen, dass sie in der Schule weiterkommen." Mittlerweile sind Moritz und Katharina zehn und vierzehn Jahre alt und recht selbstständig. Dass Judith Simon oft gestresst ist, macht ihr ein schlechtes Gewissen. "Aber ich kann nur hoffen, dass die schwere Zeit bald vorbei ist und meine Kinder später beide einen guten Job finden." Judith Simon weiß, dass sie insbesondere ihre Tochter darauf vorbereiten will. "Die alten Zeiten sind vorbei, Frauen müssen selbst für sich sorgen können."
Von Armut bedroht
Auch wenn sich die Lebenswelt verändert hat, hält sich das Modell von der Frau als Zuverdienerin hartnäckig und spiegelt sich in den schlecht bezahlten klassischen Frauenberufen wie Erzieherin, Arzthelferin oder Krankenschwester wider, mit denen eine Familie kaum zu versorgen ist. So wundert es wenig, dass fast ein Drittel der Familienernährerinnen mit weniger als 900 Euro im Monat ihre Familie über die Runden bringen muss und ein weiteres knappes Drittel mit bis zu 1600 Euro im Monat auskommt. Viele Familien, die von einer Frau ernährt werden, sind deshalb von Armut bedroht, während männliche Familienernährer zu 78,1 Prozent über 1600 Euro verdienen. Hinzu kommt, dass viele Frauen, auch wenn sie gut ausgebildet und berufstätig sind, während der Familienphase aus dem Job aussteigen oder Teilzeit arbeiten.
Die mangelnde Vereinbarkeit von Beruf und Familie macht es vielen Paaren schwer, weiter Vollzeit zu arbeiten. Und alte Rollenbilder halten sich hartnäckig. Das erfuhr auch Pfarrerin Erdmuthe Jähnig-Diel. Immer schon wollte die 51-Jährige viele Kinder haben. "Schon damals habe ich mir Gedanken gemacht, wie das gehen kann, denn ich wollte auch arbeiten und nicht zu Hause bleiben." Gegen Ende des Studiums lernte sie ihren künftigen Ehemann kennen, der auch Theologie studierte. Im Mai 1986 kam das erste Kind zur Welt, dann folgte das Examen. Während Erdmuthe Jähnig-Diel dafür lernte, kümmerte sich ihr Mann um den kleinen Sohn. "Eigentlich wollte mein Mann nur kurz sein Studium unterbrechen", sagt Jähnig-Diel. Doch dann stand das Vikariat in der Frankfurter Versöhnungskirche an, und das zweite Kind war unterwegs. "Von da an war es irgendwie klar, dass es so läuft: Mein Mann bleibt zu Hause und kümmert sich um die Kinder, und ich werde Pfarrerin."
Nicht immer stieß die neue Rollenverteilung auf Begeisterung. "Wir kamen uns manchmal schon ein bisschen vor wie Paradiesvögel." Aber auf gesellschaftliche Grenzen stieß die Familie erst während des Pfarrvikariats im dörflichen Umfeld in Rheinhessen. "Als unser dritter Sohn zur Welt kam, hat man es noch als ein Versehen abgetan", sagt Jähnig-Diel. "Aber beim vierten Kind war dann die Toleranzgrenze der Gemeinde wohl endgültig überschritten." Sprüche wie: "Das muss doch in der heutigen Zeit wirklich nicht mehr sein. Da kann man doch etwas tun", waren nur einige der Kommentare. Für Pfarrerin Jähnig-Diel ein verletzendes Erlebnis. "Ein Kind sollte doch willkommen sein. Leider haben sich nur wenige mit uns gefreut, die meisten waren dagegen." Dabei nahm Jähnig-Diel nur den Mutterschutz in Anspruch. "Mein Mann kümmerte sich um Haus und Kinder." Umgekehrt hätte dies wohl keinen Ärger gegeben, vermutet sie. Auch die Fragen wie "Wie wollen sie das mit den Kindern denn schaffen?" werden Pfarrern mit Ehegattin wohl selten gestellt.
Heute ist Jähnig-Diel an der Stadtkirche in Langen tätig, ihre mittlerweile fünf Kinder sind fast alle schon erwachsen. "Ich hoffe, wir waren auch ein wenig Vorbild", sagt sie. "Wir sollten endlich lernen, dass es auch anders gehen kann."
Ähnliche Erfahrungen machte auch Christine Sperlich, die in der Schulleitung einer integrierten Gesamtschule tätig ist. Um die gemeinsamen drei Kinder kümmert sich ihr Ehemann. Als Hausmann wurde er von Freunden und Bekannten oft belächelt und seine Männlichkeit in Frage gestellt. Die Elterngeneration kann bis heute nicht verstehen, dass ein Mann, der studiert hat, "nur" zu Hause bleibt. Und im Kindergarten habe es anfänglich peinliche Situationen gegeben, weil andere Eltern immer wieder nachfragten, wann denn diese Notsituation ein Ende habe.
Was für Christine Sperlich und ihren Mann normal ist, ist für viele befremdlich. "Auch für meinen Sohn war das nicht immer leicht", weiß Sperlich. "Irgendwann hat er gefragt, ob wir nicht auch mal eine richtige Familie sein können und der Papa so wie alle anderen Väter auch arbeiten gehen kann." Doch heute ist das Thema vom Tisch, Gespräche haben vieles geklärt und die Vorteile einer solchen Rollenverteilung in den Mittelpunkt gerückt. "Viele Kinder finden das cool, dass der Papa so viel Zeit hat. Wir brauchen viel mehr positive Vorbilder, männliche Erzieher, Lehrer in Grundschulen und Frauen, die Karriere machen, auch in Männerberufen."
Auch Kirchentagssekretärin Ueberschär kennt viele Stellschrauben, an denen gedreht werden muss: Steuerrechtliche Veränderungen - die Abschaffung des Ehegattensplittings, flexible und familienfreundliche Arbeitszeiten, bessere Kinderbetreuung und verstärktes Mentoring und Coaching für Frauen. Auch müsse die Kirche umdenken. "Es hat sich zwar schon einiges verändert, aber lange nicht genug", sagt sie. "Beim Kirchentag versuchen wir, familienfreundliche und flexible Arbeitszeiten zu ermöglichen. Das fängt beim Dienstplan und den Terminen für Besprechungen an." Aber auch Belegplätze in einem nahe gelegenen Kindergarten kann sich die 45-Jährige vorstellen. "Es kann nicht sein, dass Menschen sich zwischen Beruf und Familie entscheiden müssen."
Doch auch die kirchliche Realität sieht oft anders aus. Die Kirche ist genau da weiblich, wo Ehrenamt und "Kümmerarbeit" gefragt sind, in den Leitungsebenen bestimmen weiterhin Männer die Richtung. Und auch wenn der Anteil der Pfarrerinnen um ein Drittel, auf 33 Prozent (2011), gestiegen ist, ist es ihr Anteil am Arbeitsvolumen nicht, denn 60 Prozent sind in Teilzeit beschäftigt.
"Es ist für uns aber existenziell wichtig, auch als Arbeitgeber attraktiv zu bleiben und Frauen als gutes Führungspersonal zu gewinnen", mahnt Ueberschär. "Und wenn wir wollen, dass Frauen mehr Kinder bekommen, müssen wir dafür sorgen, dass sie gut leben können von ihrem Beruf und mit Kindern." Eine bessere Vereinbarkeit und neue Rollenbilder spielten dabei eine wichtige Rolle. "Ich finde, es gibt auch eine theologische Verantwortung, über das Familienbild neu nachzudenken."
Literatur
Christina Klenner/Katrin Menke/Svenja Pfahl: Flexible Familienernährerinnen - Moderne Geschlechterarrangements oder prekäre Konstellationen? Budrich Verlag, Leverkusen 2012, 371 Seiten, Euro 29,90.
Ellen Ueberschär: Fürchtet Euch nicht! Frauen machen Kirche. Kreuz-Verlag, Freiburg 2012, 160 Seiten, Euro 14,99.
Britta Jagusch