Von Ferne nah

Zur Theologie der Social-Media
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Das Social Web ist ganz im Sinne der bekannten Formulierung des Zweiten Vatikanischen Konzils ein Ort der "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute", sagt eine der Autorinnen des Bandes. Darum sei es auch ein "pastoral und theologisch bedeutsamer Ort".

Brauchen wir wirklich eine Theologie der Social Media? Sind soziale Netzwerke im Internet, deren Betreibern doch so gar nichts heilig scheint, mittlerweile so mächtig, dass sie selbst die akademische Lehre über Gott und die Inhalte kirchlicher Arbeit beeinflussen? Ja, denn wenn Kirche bei den Menschen sein will, muss sie auch dort sein, wo eine Milliarde Menschen eben nicht nur Bilder ihrer Katzen, sondern vielfältige Erfahrungen und Gefühle aus ihrem täglichen Leben teilen und miteinander diskutieren. Das Social Web ist ganz im Sinne der bekannten Formulierung des Zweiten Vatikanischen Konzils ein Ort der "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute", sagt Andrea Maeyer-Edoloeyi, Social-Media-Managerin der katholischen Kirche in Oberösterreich. Darum sei es auch ein "pastoral und theologisch bedeutsamer Ort". Und darum war sie auch im September 2011 auf einer Tagung der Universität Göttingen, auf der nach Perspektiven für die Theologie vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung von Facebook und Co. gesucht wurde. Der kürzlich erschienene Sammelband "Personen im Web 2.0" dokumentiert die Redebeiträge der Tagung.

Dass die meist anspruchsvolle Lektüre der überwiegend wissenschaftlichen Texte kein klar umrissenes und ausformuliertes theologisches Konzept zum Ergebnis haben kann, ist offensichtlich. Zu rasant verlief die Entwicklung des so genannten Web 2.0, in dem die Grenzen zwischen Nutzern und Gestaltern von Informationen aufgehoben und User und Producer zum Produser verschmolzen sind. Dieser Paradigmenwechsel unterscheidet die Sozialen Netzwerke von allen anderen Massenmedien, die immer auch als möglicher neuer Kanal zur Weitergabe der christlichen Botschaft genutzt wurden, wie der Medientheologe Karsten Kopjar in seinem Beitrag erläutert. Denn es geht eben nicht mehr um Leser, Hörer oder Zuschauer, die von einer medialen Kanzel herab die ausformulierten Botschaften empfangen. In den sozialen Netzwerken setzt sich Kirche vor allem den so genannten "Digital Natives" aus, für die es nichts gibt, was es nicht auch im Internet gibt, denen ein hedonistischer Lebensstil nachgesagt wird und die dort zu Hause sind, wo die Kirche sich oft noch unsicher bewegt. Glaubenskommunikation bedarf daher einer doppelten Inkulturation, die ohne das Einlassen auf die Sinnwelt eines postmodernen Milieus und auf die Kommunikationskultur der Social Media kaum gelingen dürfte, meint Maeyer-Edoloeyi.

Doch selbst wenn die Form stimmt, mit welchen Inhalten soll sie gefüllt werden? Wo sind die Anknüpfungspunkte zwischen christlicher Theologie und dem Dauerchat im Internet? Der katholische Sozialwissenschaftler Alexander Filipovi´c verweist zum Beispiel auf den ewigen Zwang zur bestmöglichen Selbstdarstellung im Social Web und sieht das unbedingte Angenommensein des Menschen durch Gott als einen Weg zur möglichen Befreiung von diesem Zwang. Die beiden Herausgeberinnen und Göttinger Theologinnen Christina Costanza und Christina Ernst beschreiben hingegen die Diskrepanz zwischen Sichtbarkeit und gleichzeitiger Unsichtbarkeit als möglichen Ausgangspunkt für eine Theologie der Social Media. Ernst beschreibt sehr nachvollziehbar, wie die Kultur des "Sichtbarmachens" der eigenen Persönlichkeit einhergeht mit gleichzeitiger Entzogenheit, etwa durch Fotos, die das Gesicht nicht zeigen, oder bestimmte Sprachcodes. Dies oszilliere mit einem Hauptmotiv jüdisch-christlicher Theologie, in der sich Gott dadurch offenbare, in dem er sich verhülle, schreibt sie, und zieht die Linie vom Tetragramm JHWH über Karl Barth zu den Menschenbildern der Social Media.

Costanza verbindet das Phänomen der so genannten Telepräsenz oder Fernanwesenheit, also der Nähe zweier oder mehrerer Menschen in einem Chat ohne physische Nähe, mit Wolfhart Pannenbergs Definition von "Personsein". Eine Person sei per definitionem "nicht vollständig durchschaubar", weshalb die Haltung des Vertrauens notwendig sei. Fernanwesenheit sei aber auch ein Prädikat des Wirkens Gottes, weshalb sie als "eine von vielen kleinen Transzendenzen" ausgelegt werden könne, die den lebensweltlichen Alltag auf die eine große Transzendenz hin durchsichtig werden ließen - als Einübung in religiöses Leben und als theologische Analogie.

Christina Costanza/Christina Ernst (Hg.): Personen im Web 2.0. Edition Ruprecht, Göttingen 2012, 226 Seiten, Euro 36,90.

Stephan Kosch

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