Ende der edlen Einfalt

Dient die Besinnung auf die christlichen Fundamente der Statik eines künftigen Europas?
Die Spuren sind unverkennbar. Foto: Rolf Zöllner
Die Spuren sind unverkennbar. Foto: Rolf Zöllner
Europa, das war einst der Raum, in dem die Glocken zum Gottesdienst riefen. Heute geht es um das "Projekt Europa", das aus Europa in aller Vielfalt eine Friedensgemeinschaft machen will. Was nützt es da, sich auf christliche Wurzeln zu besinnen?

Wenn ein Reisender in alter Zeit sich von seiner Heimat entfernte, geriet er bald in die Fremde. Die war nicht überall gleich fremd: Zuerst verstand der Reisende noch die Leute, dann, wegen des andersartigen Dialekts, schon weniger, schließlich gar nicht mehr. Und doch bemerkte und registrierte er, ob er sich noch im eigenen Kulturkreis bewegte - ohne den Begriff auch nur zu kennen: Er erkannte es daran, ob Kirchen den Mittelpunkt der Dörfer ausmachten, ob sich die Kirchtürme über die Dächer der Städte erhoben. Er erkannte es an den Klostermauern, an den Priestern, den Bettelmönchen,?den Kruzifixen am Wege. Am Glockengetön, das zum Gottesdienst rief. Gewiss, es konnte sein, dass man dort, wo man hingelangt war, einen anderen Ritus feierte, dass man nicht sicher sein konnte, ob die Leute wirklich noch, indem sie einer anderen Kirche angehörten, den eigenen Glauben teilten - das katholische Polen lag nicht nur nach Meilen näher als das orthodoxe Russland. Aber eines blieb klar: Der Reisende bewegte sich in der Christenheit - das Wort lässt sich bis ins Althochdeutsche, bis in die Zeit Karl des Großen, verfolgen. Erst da, wo der Halbmond regierte, endete das Irgendwie-noch-Vertraute, begann das Fremde, das oft nicht nur als feindlich empfunden wurde, sondern es tatsächlich war.

Mit einem Wort: Dass es ein christliches Europa gab, war evident, eine Sache der Anschauung.

Gab es noch ein anderes Europa, auf das sich heute etwa die Politiker berufen können, die die Fixierung auf eine christliche Vergangenheit endlich abschütteln wollen? Wo liegt Europa? Geographisch handelt es sich um das äußerste westliche ausgefranste Ende Asiens. Dass dieser Kontinent überhaupt den Namen Europa erhielt, geht auf die griechische Mythologie zurück: Der alte Zeus stellte, in der Gestalt eines Stiers, unter anderen der schönen Europa nach. Aphro-dite war es zu verdanken, dass deren Name schließlich auf den Kontinent überging.

Griechenland und Rom - die Ahnen Europas

Viel anzufangen wusste man mit dem Europabegriff über viele Jahrhunderte nicht. Wurden tatsächlich einmal staatsübergreifende Gemeinsamkeiten beschworen, bezog man sich auf den christlichen Glauben. Vom "Abendland" war vorerst nicht die Rede, es findet sich erst - im Plural: "Abendländer" - als Übersetzung für "Okzident" 1529 bei dem Reformator und Historiker Kaspar Hedio. Das christliche Abendland im emphatischen Sinne gar war eine Erfindung der Romantik.

Wer nach den Wurzeln Europas gräbt, stößt unweigerlich auf das alte Griechenland und das alte Rom. Sie sind als Ahnen Europas geradezu von pompöser Unbezweifelbarkeit. Kratzt man ein wenig an ihr, erinnert etwa daran, dass die griechischen Demokratien durch Sklavenhalterei gestützte Oligarchien waren, dass das Römische Reich Menschenschlachtungen zwecks Volksbelustigung als nötig ansah, verweist also darauf, dass Vorbilder nicht in reinweißer Marmorkühle zu haben sind, mag das darüber hinwegtrösten, dass die christlichen Nacheiferer, auch wo sie von "edler Einfalt und stiller Größe" phantasierten, es nie zur Makellosigkeit gebracht haben.

Doch es war natürlich der griechische Geist, dem da nachgeeifert wurde. Er aber ist nicht erst in der Renaissance als Wurzel Europas identifiziert worden, sondern hat schon in Gestalt des Hellenismus Einfluss auf das frühe Christentum genommen und war als Aristotelismus das ganze Mittelalter über Anreger für die Scholastik.

Zwei attraktive Damen: "Ecclesia und Synagoge"

Rom also und Griechenland und das Christentum. Was aber ist mit dem Judentum? Aus ihm ist schließlich das Christentum entsprungen wie Athene dem Haupte des Zeus. Vielleicht taten sich deshalb die Christen mit ihm sehr viel schwerer als mit den heidnischen Vorbildern. Nicht, dass sie ihre Herkunft vergessen hätten: In nicht wenigen Domen und Kirchen finden sich steinerne Plastiken - berühmte in Straßburg und Bamberg -, die das Christen- und das Judentum gegenüberstellen, als "Ecclesia und Synagoge", allegorisch verkörpert durch zwei attraktive Frauen. Die Dame Ecclesia schaut selbstgewiss in die Welt, wohingegen die Augen der Synagoga verbunden sind: Die Juden, hieß das, sind blind gegenüber der Botschaft Jesu Christi und der Tatsache, dass er der Messias ist, den sie so lange erwartet hatten. Kirchlicher Antijudaismus also. Doch ließe sich aus dem Subtext dieser Bildnisse auch ein gewisses Rechtfertigungsbedürfnis der Kirche gegenüber den Juden herauslesen, denn immerhin, beide Frauen sind gleich jung und gleich schön, trotz des dargestellten Triumphes der einen von beiden.

Es gibt auch weniger respektvolle Darstellungen, abwärts bis zu Bildwerken von grobianischer Unflätigkeit, nämlich den "Judensäuen"; eine findet sich an der Stadtkirche Wittenberg, der Predigtkirche Martin Luthers.

Doch ohne Zweifel kann, wer vom Christentum als Wurzel Europas spricht, vom Judentum nicht schweigen. Ungeklärt muss in diesem Rahmen freilich bleiben, welchen Einfluss das Judentum, neben der Tatsache, dass das Christentum aus ihm erwuchs, auf die geistige Gestalt Europas ausgeübt hat in all den Jahrhunderten, in denen es sich gegen feindlich gesonnene Christen behaupten musste.

Die mittelalterliche Kirche war viele Jahrhunderte bestimmt durch sehr widersprüchliche Impulse: hemmungslose Machtgier, Prunksucht, tiefe Frömmigkeit, Askese, Ausbrüche wilder Glaubensekstase, unablässige Kriege, Epidemien. In keinem Menschenleben gab es die Illusion der Sicherheit. Daneben die Furcht vor der drohenden ewigen Verdammnis - wer war schon imstande, die Ansprüche an ein heiligmäßiges Leben zu erfüllen? Verschärft wurde diese Furcht dadurch, dass zwischen dem einfachen Gläubigen und der himmlischen Begnadigungsinstanz die ganze Hierarchie des Klerus stand.

Foto: akg-images
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Römischer Tempel ...

Foto: epd
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In dieser Hinsicht bedeutete die Reformation eine Revolution. Sie war freilich kein Ein-Mann-Martin-Luther-Stück. Doch Luther war es, der den Zugang zu einem langen Weg zur geistigen Freiheit eröffnete (wir Deutschen wissen durch historische Schuld, dass neben ihm auch Abgründe lauern). So hob er die "Rechtfertigung allein aus dem Glauben" und die "Priesterschaft aller Gläubigen" ins Bewusstsein: Alle Menschen konnten plötzlich wissen, dass sie unmittelbar zu Gott waren. Die "Freiheit eines Christenmenschen" verband Glaubensfreiheit und soziale Verantwortung. Die Lehre von den zwei Regierweisen Gottes begrenzte den so lange durch den Papst verkörperten Anspruch auf geistliche Herrschaft auch in irdischen Dingen. Auch, wenn die Zwei-Regimente-Lehre lange als geistliche Sanktionierung des Untertanengeistes missbraucht wurde - sie hat doch auf lange Sicht den Glauben an das Gottgewollte von Herrschern und Herrschaftsverhältnissen unterhöhlt.

Es ging um das Seelenheil

Das Unglück der Reformation war, dass sie sich nicht wenigstens im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation flächendeckend durchsetzen konnte. So geriet die Übersichtlichkeit der konzentrischen Kreise, in der sich das Fremde um das Vertraute anlagerte, ins Durcheinander. Plötzlich konnten sich schon die Nachbarn als Fremde entpuppen oder die Untertanen des Nachbarfürstentums zu solchen gemacht werden. Und dabei ging es um das Seelenheil, um die absolute Wahrheit. Sich von ihr nur das Geringste abhandeln zu lassen, galt als Sünde, nicht weniger als schon die Duldung einer nicht mehr reinen, anderen Wahrheit.

Kein Wunder, dass auf diesem Boden der Fanatismus ins Kraut schoss, und dies umso mehr, je mehr Elemente des Aberglaubens in den Glauben eindrangen. Das schrecklichste Beispiel dafür ist der Hexenwahn. Im ganzen Mittelalter war er mehr eine unterirdische und nur ab und zu aufflammende explosive Giftspur, im 15. Jahrhundert aber führte sie zu einem Flächenbrand; ungezählte Frauen und Männer wurden auf alle erdenkliche Weise gefoltert und zu Tode gebracht.

Es erscheint wie ein Wunder, dass neben diesem finsteren Wahnsinn der erwähnte Weg der Freiheit weiter beschritten wurde, das ganze Barockzeitalter über, ab 1670 kann man schon vom Zeitalter der Aufklärung sprechen. Fürs erste ging es um die Befreiung der Köpfe und Gemüter, denn dass die Reformation diese im Eifer der Glaubenskämpfe so ganz bewirkt hätte, lässt sich nicht sagen.

Plötzlich erschien es, als entweiche durch geöffnete Fenster lang angestaute Stickluft, als dringe das Licht einer helleren Zukunft ein. Doch in aufbruchstrunkenen Zeiten wollen nicht alle mitgehen, und das führt zu scharfen Kontrasten: Aufklärerische Theologen erklärten die Wunder Jesu mit den Mitteln der Vernunft, Voltaire wollte die Infame, die Kirche, zerstören, Lessing und Goeze stritten sich um die Toleranz, La Mettrie erklärte den Menschen sogar für eine Maschine... am Ende erschien die Französische Revolution nur als die überfällige Konsequenz aus all diesem Gären.

Die große Zumutung der Aufklärung lag aber weniger darin, dass in ihr die Möglichkeit des Atheismus als Alternative zur Religion formuliert wurde, sondern in dem, was man die "aufklärerische Kränkung" nennen könnte, die Zumutung, zugunsten der Toleranz bei der Gestaltung des sozialen Lebens vom eigenen Wahrheitsanspruch abzusehen.

Europa als politisches Projekt

Wer heute von Europa spricht, meint das Europa als politisches Projekt. Sein Ziel ist es, aus den europäischen Völkern eine Gemeinschaft mit einer gemeinsamen Identität zu formen. Auf diesem Weg ist man weit vorangekommen, auch wenn die gegenwärtige Krise einen Rückschlag bedeutet.

Welthistorisch ist dieses Projekt ohne Beispiel. Imperien, in denen viele Völkerschaften unter einer Herrschaft lebten, hat es viele gegeben. Selten sind sie freiwillig zusammengeblieben. Die Frage bleibt: Wird es gelingen, Europa zu einer Einheit zu machen, ohne dass Herrschaftsmechanismen gegenüber demokratischer Selbstbestimmung die Oberhand gewinnen, ohne nivellierende Gleichmacherei?

Völker und Nationen sind keine Urelemente, sie unterliegen einem ständigen Wandel. Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass all die von ihnen gepflegten Identitätsmythen von einer künftigen europäischen Identität verschlungen werden. Letztere ist vielmehr nur denkbar, wenn sie den Raum für reale Verschiedenheiten bietet. Nicht edle Einfalt, sondern lebendige Vielfalt lautet das Motto. Dazu braucht es auch der Gemeinsamkeiten, die schon als solche empfunden wurden, als der gewöhnliche Modus Vivendi in Europa noch der Konflikt war.

Es sei noch einmal wiederholt: Wenn es überhaupt einen gemeinsamen Nenner in der Vergangenheit Europas gegeben hat, der sinnfällig das Leben bestimmt hat, dann war es das Christentum. Etwas, was wir Europa nennen, lässt sich historisch nur ausmachen in dem, was man christliche Lebenswelt nennen darf. Sie war auch die Voraussetzung für die Offenheit gegenüber griechischen und römischen Einflüssen und also dafür, dass überhaupt von einer geistigen Gestalt Europas die Rede sein kann.

Es ist allerdings nicht zu verkennen, dass viele Menschen in Europa, auch viele Politiker, in dieser Geschichte unnötigen Ballast erblicken, den man, wenn man ihn schon nicht einfach über Bord werfen kann, doch wenigstens in Sonntagsreden von maximaler Aussageallgemeinheit verbannen sollte.

Sie möchten Europa ganz auf die Ideen der Aufklärung bauen, die sie nicht als Bestandteil und Frucht des christlichen Europas ansehen, sondern als radikalen Bruch mit ihm, beseelt von einem neuen Fortschrittsoptimismus, der, wie einstmals der kommunistische, sich der Idee verschreibt, ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit sei nötig und möglich.

Unentbehrliches Geschichtsbewusstsein

Dennoch: Zwischen den säkularistischen Europa-Werkleuten und denen, die liberal-christlich gesinnt sind, ist der Graben bei weitem nicht so tief wie der zu den "Fundamentalisten" aller Couleur, die mit ihrem Glauben an den Superioritätsanspruch ihrer eigenen Wahrheit wie Fossilien aus einer vergangenen Sedimentschicht der Geistesgeschichte erscheinen. Unheimlicher als sie sind die wirklich Radikalen aller Lager. Zum Glück sind sie sich untereinander selten einig, weil das Sich-nicht-einig-Sein ihr Markenzeichen und Identitätsstärkungsmittel ist, einig sind sie sich bestenfalls in ihrem Hass auf alle Liberalen, die sie für Laue und also für Verderber halten.

Ein Europa im Werden kann nicht darauf verzichten, eine Weltanschauung, eine Religion, eine Wertlehre (an dem Begriff liegt nicht viel), zu fördern, um ihr zu allgemeiner Anerkennung zu verhelfen. Klug wäre es, wenn sie auf wenige Hauptsätze - Demokratie, Achtung der Menschenrechte - begrenzt bliebe. Denn Werte schweben nicht in der Luft guter Vorsätze, sondern ruhen auf Fundamenten, die tief in der Geschichte gründen. Die ethischen Verhaltensweisen, die in der Geschichte des Christentums, zu der auch die Aufklärung gehört, eingeübt wurden, wirken auch noch da, wo von einem bewussten Glauben nicht mehr die Rede sein kann.

Gerät die Statik des Gebäudes ins Wanken, wenn die Fundamente geleugnet oder auch nur zu einer unbeachtlichen Antiquität erklärt werden? - Immerhin würde so eine Logik freigesetzt, die es nahelegt, das radikal Neue durch noch Neueres zu überbieten. Stabilität ist damit nicht zu erreichen. Geschichtsbewusstsein ist nicht nur kulturelles Ornament, sondern unentbehrlich, um die Herausforderungen, die der Bau eines künftigen Europas stellt, sachgerecht anzugehen - etwa die, den Islam als konstruktives Element für dieses Bauwerk nicht nur auszuloben, sondern es dahin zu bringen, dass er es ernstlich wird.

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Helmut Kremers

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