Kinder des Grauens

Kongo: Ausgebeutet und von Kriegen zerfressen
Die 21-jährige Love Nziavake war auf dem Weg auf ihr Feld, als sie von einem Unbekannten vergewaltigt wurde. Foto: Jens Grossmann
Die 21-jährige Love Nziavake war auf dem Weg auf ihr Feld, als sie von einem Unbekannten vergewaltigt wurde. Foto: Jens Grossmann
Gut zehn Jahre nach dem Völkermord in Zentralafrika haben sich Rebellen im Dschungel verschanzt. Sie terrorisieren die Bevölkerung. Schutzlos ausgeliefert sind ihnen vor allem die Frauen. Jeden Tag finden neue Vergewaltigungsopfer Zuflucht in einem Hospital in Butembo. Ein Ortstermin ?im Kongo mit den Journalisten Andrea Kümpfbeck und Jens Grossmann.

Sein Köpfchen verschwindet fast ganz in der blau-weiß geringelten Strickmütze. Rosalie Kavira hält ihren kleinen Sohn eng an sich gedrückt. Sie hat ihn erst vor wenigen Tagen zur Welt gebracht. Und ihm den Namen Benedict gegeben - was so viel heißt wie "der Gesegnete". Dabei ist die Geburt von Benedict - er ist ihr siebtes Kind - für Rosalie Kavira alles andere als ein schönes, ein gutes oder gar ein gesegnetes Ereignis. Die 30-Jährige streichelt dem Kleinen zärtlich über den Kopf. "Er ist ein Rebellenkind", sagt sie. Und dass sie erzählen will, was ihr vor neun Monaten angetan wurde. Denn die Welt soll wissen, was die Frauen im Kongo Grausames erleiden müssen. Tag für Tag. Auch heute noch - mehr als zehn Jahre nach dem offiziellen Ende des letzten Bürgerkrieges in dem zentralafrikanischen Staat, der etwa sechsmal so groß ist wie Deutschland.

Das Land ist eine Ruine

Die Gewalt flammt immer wieder auf im Ostkongo, von Frieden, Freiheit und Sicherheit sind die Menschen in dieser krisengeschüttelten Ecke des Landes weit entfernt. Erst vor wenigen Tagen sind wieder tausende Menschen vor den Kämpfen zwischen Rebellengruppen und der Armee ins Nachbarland Uganda geflohen. Eine Flucht vor Mord und Totschlag, vor niedergebrannten Dörfern, geplünderten Feldern, vor Männern in Uniform.

Nirgendwo auf der Welt werden so viele Frauen vergewaltigt wie im Ostkongo. Das belegt eine Statistik der Vereinten Nationen. Jeden Monat werden hier von 1000 Frauen 67 Opfer massiver sexueller Gewalt.

Nirgendwo auf der Welt wurde ein Land über Jahrzehnte hinweg derart ausgebeutet und von Kriegen zerfressen. Nirgendwo auf der Welt gibt es so wenig Moral, Mitleid und Anstand. Das Land ist eine Ruine, das Überleben der Menschen eine endlose Improvisation.

Foto: Jens Grossmann
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Das Krankenhaus Fepsi wurde im Jahr 2000 von fünfzehn kämpferischen Frauen gegründet.

5,4 Millionen Menschen sind in den vergangenen zwanzig Jahren an dem Krieg und seinen Folgen gestorben.

Und das, obwohl - oder besser: weil es nirgendwo auf der Welt so viele Diamanten, so viel Gold, so viele wertvolle Rohstoffe gibt wie in den beiden Provinzen Nord- und Süd-Kivu an der Grenze zu Ruanda und Uganda. Genau hier, im undurchdringlichen Dschungel, der aus der Luft wie ein riesiger Brokkoli aussieht, haben sich die Nachfolgeorganisationen der Hutu-Rebellen verschanzt, die 1994 in Ruanda den Völkermord verübt hatten. Heute kontrollieren sie die rohstoffreichen Gebiete des Kongos und terrorisieren die Bevölkerung.

Kein Wasser und Strom

Das Krankenhaus "Centre Hospitalier Fepsi" in Butembo ist der einzige Ort in den beiden Landkreisen Lubeno und Beni mit rund zwei Millionen Einwohnern, an dem vergewaltigte und oft grausam zugerichtete Frauen Hilfe finden - medizinisch und psychologisch. Butembo ist eine Stadt mit 700.000 Einwohnern, die größte im Ostkongo und gleichzeitig die am schlechtesten entwickelte: Es gibt keine Wasser- und keine Stromversorgung. Am Abend brummen für zwei Stunden die Generatoren, dann legt sich Dunkelheit über die Lehmhütten und die Buckelpisten aus Schlaglöchern, die sich Straßen nennen.

Zwei, drei, manchmal vier verzweifelte Frauen sind es im Schnitt, die jeden Tag an die Tür des Hospitals klopfen, erzählt die Ärztin Gertrude Tamba Vira, die das Krankenhaus leitet. Mehr als 5.600 hat sie in den vergangenen zehn Jahren gezählt. Und jede Geschichte, jedes einzelne Schicksal ist niedergeschrieben in einem der dicken, blauen Schulhefte, die sich in dem Zimmer stapeln, über dem das Schild "Anmeldung" hängt. Doch viele der Geschichten sind zu grausam, um je veröffentlicht zu werden.

Foto: Jens Grossmann
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Die Ärztin Gertrude Tamba Vira (29) hilft bei 60 bis 80 Geburten im Monat.

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Fünf, manchmal acht Frauen teilen sich ein Krankenzimmer.

Die Umstände der Vergewaltigung eines zweijährigen Mädchens zum Beispiel, die Übergriffe auf eine 80-Jährige oder die dokumentierten Massenvergewaltigungen, bei denen die Frauen auf den Dorfplatz geschleppt und dann vor den Augen ihrer Familien von dreißig, manchmal fünfzig Rebellen vergewaltigt werden - bevor der letzte den Schaft seiner Kalaschnikow in Altöl taucht, um die Frau abschließend zu "reinigen".

Viele überleben die grausame Prozedur nicht, andere schleppen sich mit zerfetzten Genitalien ins "Centre Hospitalier Fepsi". Wie hoch die Dunkelziffer ist, weiß Dr. Gertrude Tamba Vira nicht. Sehr wohl aber weiß sie, dass in allen Dörfern verstoßene Frauen mit verstümmeltem Unterleib leben, stigmatisiert durch die Vergewaltigung - und so ein zweites Mal zum Opfer gemacht werden. Denn im Kongo hat jeder Mann das Recht, seine geschändete Frau im Stich zu lassen.

Jede vierte Geburt ist das Ergebnis einer Vergewaltigung

In den Krankenzimmern, die sich fünf, manchmal acht Frauen teilen, ist es düster. Moskitonetze hängen von den Decken. Einige Frauen sind hochschwanger, sie warten auf die Geburt. Andere, die gerade ihr Kind zur Welt gebracht haben, sind eigentlich noch viel zu jung, um Mutter zu sein. Sechzig bis achtzig Geburten betreut Gertrude Tamba Vira jeden Monat. Ein Viertel davon, sagt sie, ist das Ergebnis einer Vergewaltigung. "Das ist eine schwere Situation für die Frauen", sagt die 29-jährige Medizinerin. "Denn jedes Mal, wenn sie ihr Kind sehen, erleben sie die Vergewaltigung noch einmal." Doch die Frauen haben keine Wahl: Abtreibung ist gesetzlich verboten.

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Marie Dolorose (dritte von links) ist eine der Gründerinnen des Frauenprojekts.

Rosalie Kavira hat ihren Sohn Benedict angenommen. "Er kann doch nichts dafür", sagt sie und schlägt die wärmende Decke enger um den Kleinen. Ihre einzige Sorge: Benedict wird - wie ihre anderen sechs Kinder auch - wohl nie zur Schule gehen können. Es fehlt das Geld. Daran werden auch die Ziege und die paar Dollar Startkapital, die ihr die Fepsi-Frauen mit auf den Heimweg geben, nichts ändern können.

Das Projekt Fepsi ("Femmes Engagées pour la Promotion de la Santé Integrale" - "Frauen engagieren sich für die Gesundheitsförderung") wurde im Jahr 2000 von fünfzehn kämpferischen Krankenschwestern gegründet. Die Frauen konnten es nicht mehr ertragen, dass eine Gesellschaft, dass die ganze Welt wegschaute. Drei Jahre später haben sie - mit Unterstützung der Deutschen Welthungerhilfe - das "Centre Hospitalier Fepsi" eröffnet, das heute 63 Betten hat, 57 Angestellte und 125 Vertrauensleute, die Fepsi in den Dörfern bekannt machen.

Die Verrohung und Brutalität der Zivilgesellschaft

Rosalie Kavira stillt den kleinen Benedict auf der harten Holzbank vor dem Raum, an dem ein Zettel hängt mit dem Hinweis "Psychologische Behandlung". Eine einfache, rostige Liege steht in dem Zimmer, ein wackliger Schreibtisch, ein leeres Regal. An der Wand hängt ein buntes Plakat, das zwei lachende weiße Babys zeigt. "With You everything is fun" steht darauf: "Mit Dir ist alles lustig." Unter diesem Plakat erzählt Rosalie Kavira ihre Geschichte, die eine von vielen ist. Sie ist auf ihrem Feld an jenem Abend vor neun Monaten. Tagsüber hat sie sich um die Bohnenstauden gekümmert. Mit ihrer 13-jährigen Tochter Giselle und den Söhnen Message und Aristote will sie in ihrer kleinen Hütte übernachten, denn der Weg zurück in ihr Dorf ist weit. Es ist 22 Uhr, die Jungen schlafen schon, als drei Männer an die Tür klopfen. Sie halten ihr eine Kalaschnikow an den Kopf, die man überall im Kongo mit zwei geladenen Magazinen für 35 Dollar bekommt. Es sind Rebellen der "Demokratischen Kräfte zur Befreiung Ruandas", kurz FDLR. Das erkennt Rosalie Kavira daran, dass sie Ruandisch sprechen.

Foto: Jens Grossmann
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Jede Frau wird in dem kleinen Labor des Krankenhauses untersucht.

Foto: Jens Grossmann
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Marie Dolorose macht die Laboruntersuchungen.

Die Männer fordern Geld, das die 30-Jährige nicht hat. Darum soll Rosalie sterben. Bis einer der Männer die Kinder entdeckt. "Er hatte Mitleid", sagt sie. Sie darf leben, doch die Männer vergewaltigen sie vor den Augen der Tochter. Einer nach dem anderen.

Während des Bürgerkriegs wurden Vergewaltigungen als Kriegswaffe eingesetzt, um die Familie - und damit die Seele der Gegner - zu treffen. Die UN haben die Taten 2006 zwar offiziell zum Kriegsverbrechen erklärt, geholfen hat das nichts. "Denn inzwischen", sagt der Psychologe Joel Kasereka Sivakowa, "sind die Brutalität, die Verrohung und die Gesetzlosigkeit in die Zivilgesellschaft übergegangen."

Früher, sagt er, trug der typische Vergewaltiger Uniform und eine Waffe: Er gehörte einer Rebellengruppe an oder der kongolesischen Armee. Heute ist der typische Vergewaltiger der Nachbar, der Onkel, der Bruder. Oder der einstige Kindersoldat, der nichts anderes kennt als Hass, Grauen und Gewalt.

Keine Strafe für Vergewaltiger

Jeder weiß, dass einen Vergewaltiger in einem Staat, in dem es keine funktionierende Justiz gibt, keine Strafe erwartet. Zwar ist für Vergewaltigung eine Haftstrafe von fünf bis zwanzig Jahren vorgesehen. In der Praxis aber, erzählt die Juristin Defrose Muson Gora, die zwischen den Krankenzimmern vier und fünf in einem schmalen Büro sitzt, kommen die Männer ohne Prozess davon. Wird tatsächlich einmal ein Täter festgenommen, kauft er sich frei: Für ein paar Dollar steht nachts die Zellentür offen.

Eine Krankenschwester führt Love Nziavake den Gang entlang. Die 21-Jährige kann kaum laufen, sie wirkt wie betäubt. In sich zusammengesunken setzt sie sich neben Rosalie Kavira auf die Bank, den Blick starr auf den Boden gerichtet. Die Zuckerrohrhändlerin war am Tag zuvor auf dem Weg von Butembo hinaus aufs Feld von einem Unbekannten ins Gebüsch gezogen worden. Ihr Peiniger war etwa dreißig Jahre alt, ein Zivilist, und er hatte eine Waffe, erzählt Love Nziavake leise. Der einzige Satz, den er ihr zuzischte: "Heute bist du dran."

Foto: Jens Grossmann
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Die Stadt Butembo ist mit ihren 700.000 Einwohnern die größte im Ostkongo.

Im Radio hatte sie von den Fepsi-Frauen gehört, eine erste Untersuchung hat Love Nziavake hinter sich. In dem einfachen Labor, dessen modernstes Gerät ein Mikroskop ist, hat man ihr Blut abgenommen. Eine Krankenschwester gibt ihr einen Becher Wasser und die "Pille danach". Später wird sie noch ein Anti-AIDS-Mittel bekommen, das innerhalb von 48 Stunden eingenommen sein muss. Psychologe Kasereka Sivakowa holt die junge Frau ins Behandlungszimmer. Ob sie sich vorstellen kann, warum ein Mann vergewaltigt, will er von ihr wissen. "Um das Leben einer Frau zu zerstören", sagt Love Nziavake - und schlägt die Hände vors Gesicht.

Gesundheitsministerin: "Es gibt keine Vergewaltigungen im Kongo"

Der Psychologe Joel Kasereka Sivakowa hört den Frauen zu, Stunden um Stunden, seit Jahren schon. Er versucht ihre verletzten Seelen zu heilen und mit einfachen gymnastischen Übungen auch die geschundenen Körper. Er ist der einzige Psychologe an der Klinik, einer von etwa einer Handvoll im Ostkongo. Ganz bewusst haben die Fepsi-Frauen einen Mann für diese Aufgabe gewählt: "Um den Frauen zu zeigen, dass es auch andere, gute Männer gibt", erklärt Gertrude Tamba Vira. Ein Plan, der aufgegangen ist.

Wirklich ändern können die Fepsi-Mitarbeiterinnen die Situation in ihrem Land nicht - solange die Gesundheitsministerin, wie kürzlich auf einer Menschenrechtskonferenz in Europa, behauptet, "Es gibt keine Vergewaltigungen im Kongo", und solange Präsident Kabila von "wenigen Einzelfällen" spricht.

Text: Andrea Kümpfbeck / Fotos: Jens Grossmann

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