Haydns Schöpfung tanzen

In einem Tanzprojekt machen Jugendliche religiöse Inhalte beweglich
Eine perfekte Choreographie: Die Hände der Schülerinnen heben sich wie empor sprießende Grashalme in der Schöpfung. Foto: Peter Hübbe
Eine perfekte Choreographie: Die Hände der Schülerinnen heben sich wie empor sprießende Grashalme in der Schöpfung. Foto: Peter Hübbe
Rund 180 Jugendliche tanzten in Minden (Westfalen) Haydns "Schöpfung". Seit 2008 kooperieren Kirchgemeinde, Kulturbüro und Schulen im "Community Dance Projekt Minden" und bringen Jugendliche unabhängig von religiöser und sozialer Herkunft zusammen. Dabei geht es auch darum, neue Ausdrucksformen für religiöse Inhalte zu finden. Der Journalist Thomas Krüger und der Fotograf Peter Hübbe besuchten Proben und Premiere.

Es ist der dritte Tag der Schöpfung: Gott hat Wasser und Land getrennt, das Meer, die Berge und die Flüsse geschaffen. "Leise rauschend gleitet fort im stillen Tal der helle Bach", besingt die Arie des Erzengels Raphael das Werk Gottes. Blau gekleidete junge Tänzerinnen und Tänzer wogen zur Orchestermusik wie Wellen hin und her und schwingen blaue Stoffbahnen.

Im Hintergrund, für das Publikum nicht sichtbar, warten die Schülerinnen vom Mindener Ratsgymnasium gespannt auf ihren Auftritt. Das Licht erlischt, im Dunkel verteilen sich die Mädchen auf dem Tanzboden.

Vertrauen ist die Basis für Erfolg

Noch am Mittag des 27. April, bei der Generalprobe in der Kampa-Halle, hat sich Miguel Angel Zermeño gefragt, ob wohl alles klappen wird. Ein halbes Jahr lang ist der Bonner Tänzer und Choreograph jede zweite Woche ins ostwestfälische Minden gekommen, um mit 180 Schülerinnen und Schülern aus allen weiterführenden Schulen der Stadt das Oratorium "Die Schöpfung" von Joseph Haydn als Tanzstück einzustudieren. Jetzt ist er da, der "magische Moment", wie Zermeño sagt. Wo den Erwachsenen in Regie, Technik und Organisation die Nervosität anzumerken ist, sind die jungen Leute auf den Punkt gesammelt und konzentriert. "Man kann den Kindern und Jugendlichen vertrauen", weiß er.

Foto: Peter Hübbe
Foto: Peter Hübbe

Begleitet werden sie von zweihundert Chorsängern der Mariengemeinde und dem siebzigköpfigen Jungen Philharmonischen Orchester Niedersachsen.

"Vertrauen aufbauen" ist für den aus Mexiko stammenden Tanzpädagogen die Basis für den Erfolg des "Community Dance Projekts Minden", das von der evangelischen St. Marien-Kirchengemeinde, dem städtischen Kulturbüro und den Schulen gemeinsam getragen wird. Vertrauen darauf, dass jede und jeder etwas beitragen kann zu dem großen Ganzen: "Community Dance" bedeutet sinngemäß "Jede/r kann tanzen" - unabhängig davon, welcher sozialen Schicht und welcher Religion er angehört oder auf welche Schule sie geht. Gymnasiastinnen wie Tabea und Edorina arbeiten hier an der gleichen Sache wie Muhamedin und Lucas, die eine Förderschule mit Schwerpunkt Lernen besuchen.

"Es bringe die Erde Gras hervor", singt der Erzengel Gabriel - ganz allmählich sprosst Leben aus dem Dunkel, grüne Halme winden sich empor. Auf der Bühne sind es die Hände der am Boden liegenden Rats-Schülerinnen, die sich langsam heben, immer höher, einander umspielen, umtanzen, sich wie im Wind beugen. Die Beleuchtung macht die Illusion perfekt.

Edorina, Tabea und die anderen aus dem Gymnastik- und Tanzkurs der Jahrgangsstufe zwölf haben jeden Dienstag und oft auch an Wochenenden geübt. Die beiden Achtzehnjährigen sind tanzerfahren: Tabea lernte als Kind Ballett und bekam über das Cello-Spiel Zugang zur klassischen Musik, Edorina nahm mit Hip-Hop an Wettbewerben teil, hört ansonsten eher die Charts oder Rhythm & Blues. "Aber man sollte ja auch andere Musikrichtungen kennen lernen", meint sie - die zweihundert Jahre alte Musik von Haydn hat sie jedenfalls nicht abgeschreckt.

Vorbehalte aufbrechen

Rückblende: Sechs Wochen vor der Uraufführung ist Probe in der Kuhlenkampschule. Aus den Lautsprechern erklingt zunächst nicht die "Schöpfung", es dröhnen stattdessen Pop-Rhythmen. Warmmachen ist angesagt, vierzehn Jungen schwenken unter der Regie von Miguel Angel Zermeño die Arme, strecken und dehnen ihre Körper, springen in die Luft. Die Förderschule, seit Beginn von "Community Dance Minden" mit von der Partie, hat als einzige eine reine Jungengruppe für das Tanzprojekt zusammengestellt. Der fünfzehnjährige Muhamedin war bereits mehrmals dabei.

Foto: Peter Hübbe
Foto: Peter Hübbe

Während der Aufführung gestalten Malerinnen aus einem Kunstleistungskurs Bilder zu den Schöpfungstagen ...

Foto: Peter Hübbe
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... die später auf dem Bühnenboden liegen.

Auch wenn das Oratorium für ihn wie "Opa-Musik" klingt, an die man sich erst gewöhnen muss: Die Bewegung in der Gruppe macht ihm Spaß. Ebenso wie Lucas, dreizehn Jahre alt, der einfach "mal gucken" wollte, "wie das so ist". Inzwischen kann er sich gut vorstellen, nächstes Jahr wieder mitzumachen. Insgesamt stellen Jungen fast ein Viertel aller Tänzerinnen und Tänzer. "Wir wollen die Vorbehalte aufbrechen, dass Tanzen nur etwas für Mädchen ist", sagt Zermeño. Seine Inszenierung verbindet Elemente des klassischen Balletts, bei dem es eher um grazile Bewegungen geht, mit Auftritten, in denen Jungen Kraft und Akrobatik ausleben können. So krabbelt etwa die Gruppe aus der Kuhlenkampschule am fünften Tag der Schöpfung als Krokodile und Tausendfüssler über die Bühne. Sich selbst sieht Zermeño als Identifikationsfigur für Jungen, die tanzen wollen: "Ich kann ebenso ein fliegendes Blatt spielen wie einen starken Stier - der Körper hat viele Möglichkeiten", erklärt er. Es geht darum, religiöse Inhalte auch mit dem Körper, mit Bewegung darzustellen.

Foto: Peter Hübbe
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Auf der Bühne finden die Darsteller neue Ausdrucksformen für religiöse Inhalte, jenseits verkopfter Gottesdienste.

Foto: Peter Hübbe
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Sie verbinden Elemente des klassischen Balletts ...

Foto: Peter Hübbe
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Bereits Mitte der Neunzigerjahre suchte die St. Mariengemeinde nach neuen Ausdrucksformen jenseits verkopfter Gottesdienste. Das Buch des von den Kirchentagen her bekannten Schweizer Professors Walter Hollenweger "Erfahrungen der Leibhaftigkeit - Interkulturelle Theologie" inspirierte Gemeindepfarrer Frieder Küppers und seine Frau Cordula, damals Sportlehrerin, heute stellvertretende Leiterin des Ratsgymnasiums. Zum 50. Todestag Dietrich Bonhoeffers 1995 schrieb Hollenweger ein "Requiem für Bonhoeffer" als Theaterstück - Gemeinde und Schule führten es in einer getanzten Version in der Kirche auf. Das Wagnis wurde zum Durchbruch, an den man mit Aufführungen der Oratorien "Maria" von Wedemeyer, "Jakob" und der "Misa Criolla" anknüpfte.

Ausgezeichnet als "Grenzgänger"

Den Impuls, die Zusammenarbeit auf eine breitere Basis zu stellen, lieferte der britische Choreograph Royston Maldoom, Begründer der weltweiten Community Dance-Bewegung, als er mit 250 Berliner Jugendlichen aus sozialen Brennpunkten und den Berliner Philharmonikern Strawinskys "Das Frühlingsopfer" aufführte. Der Film "Rhythm is it" machte 2004 seine Ideen weit bekannt. Die Zusammenarbeit von Kirchengemeinde, Kulturbüro und Schulen im "Community Dance Projekt Minden" begann 2008 mit der getanzten "Carmina Burana". Die Evangelische Kirche in Deutschland würdigte 2011 die mustergültige Kooperation mit ihrem Kulturpreis "Grenzgänger". Anlass war das Verdi-Requiem. Das Chor-, Orchester- und Tanzprojekt mit zweihundert Schülerinnen und Schülern wurde unter anderem beim Dresdner Kirchentag vor großer Kulisse am Elbufer aufgeführt.

Foto: Peter Hübbe
Peter Hübbe

Ein halbes Jahr lang studierten 180 Schülerinnen und Schüler der Stadt das Oratorium als Tanzstück ein.

Mit der "Schöpfung" inszenierte Miguel Angel Zermeño nun erneut ein Werk mit religiösem Anspruch. Der Choreograph, katholisch getauft, aber auch von der indianischen Kultur seiner Heimat geprägt, versteht die christliche Schöpfungsgeschichte als eine von vielen Mythen über die Entstehung der Welt. "In meiner Inszenierung spreche ich über den Menschen, über unsere Welt unabhängig von der Religion", erzählt er. Im Tanz entwickelten die jungen Leute selbst schöpferische Qualitäten, so Zermeño.

Pfarrer Küppers hat in den beteiligten Schulen Unterrichtsstunden zur Schöpfungsgeschichte gestaltet. Dabei haben die Tänzerinnen und Tänzer nicht nur aufgefrischt, "wann was kommt" an den sieben Tagen. "Als Muslimin habe ich gemerkt, dass ich mich noch nie damit beschäftigt hatte, wie das im Koran beschrieben wird", sagt Edorina. "Es gibt viele Gemeinsamkeiten", stellt sie fest. Tabea hat gelernt, dass durch den Raubbau des Menschen an der Erde "nicht alles so gut und schön ist", wie Haydn es im 3. Teil der "Schöpfung" mit Adam und Eva im Paradies darstellt.

Foto: Peter Hübbe
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Der Bonner Tänzer und Choreograph Miguel Angel Zermeño.

Foto: Peter Hübbe
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Zermeño inszenierte das Stück und leitete die Jugendlichen an.

Die Inszenierung sollte auch zum "Nachdenken über die Bewahrung oder Zerstörung der Schöpfung" anregen, so Kantor Andreas Mitschke, der bei den Aufführungen die zweihundert Chorsänger der Mariengemeinde und das siebzigköpfige Junge Philharmonische Orchester Niedersachsen dirigierte. Die Mindener betteten das Oratorium in eine Veranstaltungsreihe ein, die in Gottesdiensten, theologischen Vorträgen, einer Kunstinstallation und einer Diskussion mit Bundespolitikern die Gefährdung der Schöpfung beleuchtete. Und den zu idyllischen Schlussteil des Oratoriums ersetzten sie durch das zeitgenössische Stück "The Unanswered Question" von Charles Ives.

Ein Funken Hoffnung

Der Kontrast könnte kaum größer sein. Soeben jubilierten die Chöre "Vollendet ist das große Werk ... Halleluja!", tanzten die Schülerinnen in weißen Kostümen paarweise zum Lob der Erschaffung des Menschen. Nun intoniert eine Trompete immer wieder ein fragendes Motiv, die Streicher reagieren nicht, einige Bläser äffen die Frage nach und antworten zunehmend dissonant. Auf dem Boden liegen große Bilder zu den Schöpfungstagen, die Malerinnen aus einem Kunstleistungskurs während der Aufführung gestaltet haben. Wieder ziehen Tänzerinnen ein, nun aber in Schwarz und jede für sich, mit Smartphone oder Tablet, Kopfhörer im Ohr - da ist keine Harmonie, kein Miteinander, sie treten auf den Bildern herum. Die Frage der Trompete bleibt unbeantwortet: Für die Schöpfung ist es wegen der Ignoranz der Menschen "5 vor 12", will Regisseur Zermeño klar machen. Doch am Ende lässt er den Zuschauern einen Funken Hoffnung und schließt die neunzigminütige Aufführung mit Takten des Sonnenaufgangs aus Haydns "Schöpfung".

Foto: Peter Hübbe
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Kurz vor Beginn der Premiere sind die jungen Leute auf den Punkt konzentriert.

Foto: Peter Hübbe
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2.500 Menschen sahen die beiden Vorstellungen in Minden.

2.500 Menschen haben die beiden Vorstellungen in Minden gesehen, eine Woche später wohl noch einmal doppelt so viele in Hamburg auf dem Kirchentag - stehende Ovationen waren der Lohn für die Tänzerinnen und Tänzer, ihre Lehrerinnen und Lehrer, Musiker, Chöre und Solisten. Unmittelbar nach der Premiere kann Tabea vom Ratsgymnasium den Erfolg noch gar nicht richtig fassen: "Wir fühlen uns jetzt als eine Gruppe - mit allen Schulen zusammen. Und alle klatschen für uns."

Text: Thomas Krüger / Fotos: Peter Hübbe

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