Treffen in den Cevennen

Französische Protestanten versammeln sich jedes Jahr in der "Wüste"
Versammlung unter Bäumen: Assemblée 2012. Foto: Andreas Meier
Versammlung unter Bäumen: Assemblée 2012. Foto: Andreas Meier
Andreas Meier Die französischen Protestanten mussten die längste Zeit ihrer Geschichte um ihre Existenz kämpfen, mal gegen staatliche Unterdrückung, mal dagegen, schlicht in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Seit 1911 versichern sie sich mit einer "Versammlung in der Wüste" (Assemblée du désert) ihrer Identität. Andreas Meier hat sie im vorigen Jahr besucht, am 1. September werden sich die Protestanten Frankreichs wieder treffen.

Deutsche Protestanten konnten sich früh mit politischen Obrigkeiten verbünden. Anders die evangelischen Christen im französischen Königreich: Ihre zumeist unabhängig voneinander organisierten Gemeinden übernahmen selten katholische Kirchen; sie setzten ihnen ihre neuen, zumeist schlichten "temples" entgegen. Französische Protestanten hatten lange um ihre Anerkennung als Religionsgemeinschaft zu kämpfen. 1559 fand die erste Nationalsynode der reformatorischen Gemeinschaft statt.

In den "Hugenottenkriegen" des 16. Jahrhunderts kämpften die Protestanten um ihre Existenz. Zwar behaupteten sie sich trotz der berüchtigten Bartholomäusnacht 1572, aber ihr späterer Anführer, der König von Navarra, musste erst katholisch werden, um 1594 als Heinrich IV. den Thron Frankreichs besteigen zu können: "Paris ist eine Messe wert", wird als sein Ausspruch überliefert.

Dieser erste Bourbone auf dem Königsthron sicherte seinen früheren Glaubensgenossen im Edikt von Nantes 1598 bestimmte Rechte zu, die für ihre Sicherheit sorgten, sie aber keineswegs zu gleichberechtigten Untertanen machten. Das Edikt nennt Protestanten nicht Protestanten, sondern Angehörige "der angeblich reformierten Religion" ("ladite Religion prétendue reformée").

Dennoch wussten sie ihre Rechte zu wahren, sie wurden zu einem Machtfaktor und fast zu einem Staat im Staate. Doch ihre politische Macht wurde unter Heinrichs Nachfolger Ludwig XIII. und seinem ersten Minister Richelieu gewaltsam gebrochen - der Fall ihrer stolzesten Stadt, La Rochelle, im Jahre 1628, war das Fanal. Ludwig XIV. hob schließlich das Edikt von Nantes 1685 auf. Alle Franzosen sollten der katholischen Kirche angehören. Evangelische Pfarrer wurden des Landes verwiesen. Viele Protestanten weigerten sich, Neukatholiken zu werden und flohen, etwa nach Preußen. In den wenig zugänglichen und kargen Cevennen allerdings leisteten die Evangelischen Widerstand, "Camisarden" wurden sie wegen ihres Bauernhemdes genannt. Rund dreitausend von ihnen hielten etwa zwanzigtausend königliche Soldaten in Schach.

Kampf und philosophisches Gespräch

Geflohene Camisarden berichteten von ihrem Kampf vor allem in England und den Niederlanden und entwickelten im philosophischen Gespräch mit den dortigen Aufklärern ihre Vorstellungen von staatlicher religiöser Toleranz. 1748 veröffentlichte der aus den Cevennen stammende Protestant La Baumelle seinen Briefroman "Der tolerante Asiate" ("L’Asiatique tolérant"), in dem er der Willkürherrschaft in Frankreich den Spiegel vorhält. 1763 schrieb er im Auftrag der um Anerkennung als französische Untertanen kämpfenden Camisarden ein "Ersuchen der französischen Protestanten an den französischen König" ("Requête des protestants français au roi français"). Einen Staat uniform zu gestalten, sei unsinnig, schrieb er, tolerierte religiöse Vielfalt dagegen verhindere Kriege.

Heute findet das jährliche Treffen französischer Protestanten in den Cevennen in der Nähe von Anduze statt - immer unter freiem Himmel, um an die geheimen Gottesdienste ihrer Vorfahren zu erinnern. Die Camisarden hatten sich mit den Stämmen Israels auf dem Weg "durch die Wüste" Sinai verglichen, die sich, wie sie selbst, in Gottes Obhut wussten. Heute wird die "Assemblée du désert" durch einen Aufzug von rund zwanzig evangelischen Pfarrern eröffnet. Jedes Jahr "präsidiert" ein anderer von ihnen bei dem sich anschließenden Gottesdienst.

Im letzten Jahr predigte Laurent Gagnebin, Pfarrer in Genf, Chefredakteur der 1913 gegründeten evangelischen Monatszeitschrift "Evangelium und Freiheit. Denken und Glauben in aller Freiheit" (www.evangile-et-liberte.net). Er sprach über Paulus’ Sätze im Römerbrief "Ich schäme mich nicht des Evangeliums" und fragte, wen ein Mensch auf der Straße auf die Frage nach ernstzunehmenden Christen unter modernen Christen nennen würde: "Martin Luther King, Albert Schweitzer, das Ehepaar, das die Heilsarmee gründete (William und Catherine Booth) - vermutlich." Und, resümierte er, Jesus würde dieser Auswahl zustimmen. Denn nach dessen Worten (Johannes 13,15) sind Jesu Schüler an der wechselseitigen Liebe "und nicht an Lehre, Liturgie und Glaubensbekenntnis zu erkennen". In reformierter Gepflogenheit "setzte der Gesang der Gemeinde die Predigt fort" - mit Luthers Lied "Ein feste Burg ist unser Gott".

Jean-Jacques Rousseau

Nach dem Gottesdienst hielt der Historiker und Rousseau-Biograph Bernard Cottret einen Vortrag über Jean-Jacques Rousseau. "Ich bin ein Christ gemäß den Evangelien; ich bin kein Schüler von Priestern, sondern von Jesus Christus", hatte der an den Erzbischof von Paris geschrieben. Rousseau, so Cottret, sei ein lebendiges Beispiel für die "Universalisierung des Anliegens, für das die Camisarden kämpften". Der Lebensweg des Philosophen spiegle auch in Sachen Religion seinen immer revoltierenden und unsteten Geist wider: Der als reformierter Christ in Genf Aufgewachsene war, wie er sagte, zum "Glauben meiner Väter" zurückgekehrt, also katholisch geworden. Das stürzte ihn in einen doppelten Konflikt - einerseits mit der kirchlichen Orthodoxie, andererseits mit dem Skeptizismus des "Jahrhunderts der Aufklärung". Dessen Vorkämpfer um Voltaire fanden Rousseaus Teilnahme am Abendmahl einfach "lächerlich".

Doch es sollte nicht der letzte Konfessionswechsel Rousseaus gewesen sein. Rousseau und Thérèse Levasseur, die ihm schon drei Kinder geboren hatte, versprachen sich 1768 in einem abgelegenen Ort der Region Grenobles nach protestantischem Ritus ehelich miteinander leben zu wollen - ein Bürgermeister und ein Offizier waren Zeugen. Solche Trauungen "au désert" erlaubten den Protestanten neben ihren Versammlungen, ihrem Glaubensleben trotz aller obrigkeitlicher Verfolgung Gestalt zu geben.

"Jean Guitton", der heroische Verteidiger La Rochelles. Gemälde, anonym, 17. Jahrhundert. Foto: Musée d’Orbigny Bernon
"Jean Guitton", der heroische Verteidiger La Rochelles. Gemälde, anonym, 17. Jahrhundert. Foto: Musée d’Orbigny Bernon
Anduze am Südrand der Cevennen. Foto: Szeder László, Free Software Foundation
Anduze am Südrand der Cevennen. Foto: Szeder László, Free Software Foundation

Erst das unter Ludwig XVI. erlassene Toleranzedik von 1787 machte protestantische Hochzeiten legal. Die von vielen Protestanten begrüßte Revolution schrieb zwei Jahre später zwar die Gleichberechtigung der "citoyen" (Bürger) in den "Menschen- und Bürgerrechten" fest, bekämpfte aber schließlich im revolutionären Terror jede Religion.

Unter Napoleon konnten die Protestanten wieder aufatmen; er schloss mit dem Vatikan ein Konkordat und erließ am 18. Germinal des Jahres X (8. April 1802) das "Gesetz in Betreff der organisierten (katholischen, reformierten und lutherischen) Gottesdienste in der einen und unzertheilbaren Republik", das auch in vielen Territorien Deutschlands zur Anwendung kam, weswegen es auch in deutscher Sprache erschien.

Nicht alles Gold

Aber auch, wenn viele Protestanten Napoleon als Befreier priesen - nicht alles, was da glänzte, erwies sich für sie als Gold. Zwar war ihnen endlich Gleichberechtigung gewährt; evangelische Pfarrer wurden wie katholische vom Staat bezahlt. Doch die staatliche Organisation der Gemeinden schrieb eine Mindestgröße von sechstausend Seelen vor, oft unerreichbar, da keine Gemeinde die Grenzen der Departements überschreiten durfte. Auch wurde die störende demokratische Organisation der Synoden kassiert. Paradoxerweise wurde also der Entfaltungsraum der evangelischen Minderheit durch die neue staatliche Organisation eher eingeschränkt. Hinzu kam es zu Unregelmäßigkeiten, indem etwa die staatlichen Statistiken über Religionszugehörigkeit, die über Anstellung und Honorierung der Pfarrer entschieden, zuungunsten der Protestanten gefälscht wurden.

Eine Karikatur Delaportes von 1827 spießt die religiöse Ungleichgewichte unter Karl X., der 1824-1830 Frankreich regierte, auf: Der Papst thront machtbewusst, die rechte Hand auf den Kopf eines Mohammedaners, die Linke auf dem eines Juden gestützt, sein linker Fuß steht auf dem Kopf eines griechisch Orthodoxen und die Rechte auf dem eines amerikanischen Quäkers, der sich auf eine Bibel stützt.

Im Frankreich des 19. Jahrhunderts waren es dann vornehmlich Quäker, Methodisten, Baptisten und andere sozial aktive erweckte evangelischen Christen, also heimgekehrte Nachfahren der seit 1560 geflohenen Protestanten, die das protestantische Kirchenleben prägten. In Konkurrenz zu den - protestantischen - Gemeindepfarrern riefen sie Versammlungen unter freiem Himmel zusammen. So wollten sie an die heroisch verklärte Verfolgungszeit anknüpfen.

Spuren der Vergangenheit

1852 gründeten liberale französische Protestanten die "Gesellschaft für die Geschichte der Protestanten Frankreichs" (SHPF). Sie beschäftigte sich intensiv mit den Spuren der Vergangenheit. Um 1880 wurde beschlossen, das Haus des Camisardenführers Pierre Laporte dit Roland (1680-1704) als Museum einzurichten und hier Gegenstände aus der Zeit zwischen 1685 bis 1787 auszustellen.

Die SHPF knüpfte an die regionale Erinnerung an die Kämpfe im 18. Jahrhundert an, welche die Region beinahe entvölkert hatten, als zur ersten Assemblée du désert am 24. September 1911 um das Museum eingeladen wurde. Zu Fuß, auf Karren und in Autos kamen Tausende, viele mit Nationalfahnen: "Welch‘ unvergessliches Spektakel, welche Gefühle. Wie sehr musste gelitten werden, um die Freiheit zu erkämpfen", resümiert ein Bericht. Frank Puaux, der Präsident der SHPF, betonte in seiner Rede auf der von Besuchern umlagerten Kanzel: "Resister (Widerstehen) ist die Seele unserer französischen Reformation", die Cevennen erweckten die Erinnerung "an die riesigen Opfer, die unsere Vorfahren erbrachten". Durch Klärung historischer Zusammenhänge habe seine SHPF Kontakt mit der französischen Seele aufgenommen, "diese heilige Verbindung, welche unsere Gegner seit Jahrhunderten für immer gebrochen meinten".

Seit 1911 beschließt der Gesang der "Cevenole", der "Marseilleise huguenot", die Versammlung. Sie stammt von Baptist Rupen Saillens (1885-1942) und verbindet nationale, regionale und religiöse Motive.

Heute bezieht die Miniminorität französischer Protestanten ihre Lebendigkeit daraus, dass sie alle aus Glaubensgründen weltweit Zerstreuten französischer Herkunft als französische Protestanten umschließt.

Dieses Selbstbewusstsein geht auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zurück. 1918 präsidierte ein Gesandter von 25?000 evangelischen US-Kirchen der Assemblée: Révérend Charles MacFarland. Er wurde als Bote aus dem "Land der Freiheit" begrüßt. Diesem evangelischen Kirchengesandten aus den USA, Frankreich mächtigstem Weltkriegsalliierten, war es sogar gelungen, vor-übergehend die französische laizistische Kirchenferne außer Kraft zu setzen: Der Präsident der Republik empfing den Kirchenmann in Paris, bevor der zur Assemblée fuhr.

Unwillig, Pluralität anzuerkennen

Sind die Protestanten heute wirklich in der französischen Gesellschaft angekommen?

Gewiss, die jährliche "Wüstenversammlung" vereint die etwa zehn- bis fünfzehntausend Besucher in dem Gefühl, nicht mehr die bedrängte oder auch nur geleugnete Minderheit zu sein. Aber auch in scheinbaren Nebensachen zeigt sich, dass die protestantische Minderheit gern übergangen wird: Eine Doktorarbeit - die Autorin Sylvie Bernay ist 1965 geboren -, die sich mit der Rolle der "Kirche von Frankreich in der Zeit der Judendeportationen 1940-1944" beschäftigt, unterschlägt kurzerhand, dass die evangelischen Teilnehmer der Assemblée du désert im Jahr 1941 Hunderte von verfolgten Juden in Privatquartieren versteckten und - zusammen mit Katholiken - die Cevennen wieder einmal zu einem Asylgebiet für Verfolgte machten.

Für die Historikerin und Expertin für Fragen religiöser Toleranz Valentine Zuber ist der Unwille, Pluralität gesellschaftlich, religiös und politisch anzuerkennen, typisch für die Franzosen, die einem "katholischen Ethos" anhängen, um "Harmonie und Einheit als unverzichtbares Gut der ‚ältesten Tochter der Kirche‘" zu sichern. Hier liege die Aufgabe der Protestanten: nämlich "gesellschaftlich den Pluralismus zu ermöglichen, der für die zeitgemäße Entwicklung der Gesellschaft in demokratischer Gestalt notwendig ist".

Und das Reformationsjubiläum in vier Jahren? Die französische Kirchenhistorikerin Marianne Carbonnier-Burkhard, Paris, stellt schlicht fest: "Franzosen verbindet emotional nichts mit dem Thesenanschlag Luthers". Der 31. Oktober 2017 ist nicht der fünfhundertste französische Reformationstag.

Information

"Musée du désert". Le Mas Souberayn, Mialet, 30140 Anduze, Telefon 0033/ 4 66 85 02 72. Das Museum liegt 7 km westlich von Anduze, zu erreichen auf der Landstraße Richtung St. Jean-du-Gard, Bushaltestelle Luziers. Am 1. September 2013 trifft sich die nächste "assemblée".

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