Öffentlich sagen, was gilt

Gespräch mit dem Berliner Theologen Wilhelm Gräb über alte Bekenntnisse und die Frage einer Übernahme des Augsburger Bekenntnisses durch die EKD
Wilhelm Gräb. Foto: Humboldt-Universität
Wilhelm Gräb. Foto: Humboldt-Universität
Wilhelm Gräb, der vom Hochrhein stammt, ist Professor für Praktische Theologie und Direktor des Instituts für Religionssoziologie und Gemeindeaufbau an der Humboldt-Universität zu Berlin. Der 64-Jährige lehrt auch an der Theologischen Fakultät der südafrikanischen Universität Stellenbosch.

zeitzeichen:

Herr Professor Gräb, die Bedeutung der Bekenntnisschriften für die reformatorischen Kirchen sieht man schon daran, dass sie auch in ihrem Namen auftauchen. So nennt sich die lutherische Kirche Österreichs, Evangelische Kirche A.B., also Augsburgischen Bekenntnisses, und die reformierte, Evangelische Kirche H.B., Helvetischen Bekenntnisses. Halten Sie es für sinnvoll, dass die Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts noch im 21. Jahrhundert so wichtig genommen werden, dass Pfarrerinnen und Pfarrer bei ihrer Ordination darauf verpflichtet werden?

Wilhelm Gräb:

Ich halte es für sinnvoll, dass die Bekenntnisse des 16. Jahrhunderts als Richtschnur für das, was evangelisches Christentum ist, anerkannt bleiben.

Aber diese Bekenntnisse enthalten doch eine Reihe von Aussagen, die viele Protestanten so oder gar nicht mehr teilen, zum Beispiel die Bejahung des gerechten Krieges oder eine extreme Polemik gegen den Papst und die römisch-katholische Kirche.

Wilhelm Gräb:

In den Bekenntnisschriften begegnet uns aber auch die Tradition, die uns Protestanten bindet und verpflichtet und von anderen Formen des Christentums unterscheidet. Natürlich sind die Bekenntnisse des 16. Jahrhunderts interpretationsbedürftig, aber sie sind auch interpretationsfähig.

Wäre es nicht sinnvoller, gleich neue Bekenntnisse zu formulieren, statt die alten mühsam und im Streit zu interpretieren?

Wilhelm Gräb:

Auch wenn wir neue Bekenntnisse schaffen, müssen wir uns darauf verständigen, wie wir das Ursprungszeugnis des christlichen Glaubens, das wir in der Bibel finden, interpretieren. Und wir müssen zu derjenigen Interpretation des Ursprungszeugnisses des christlichen Glaubens finden, die für uns als jeweilige Kirchengemeinschaft heute verpflichtenden und bindenden Charakter hat. Nach evangelischer Auffassung sind Bekenntnisse, und das möchte ich betonen, nicht der Grund des Glaubens. Dieser liegt vielmehr darin, dass ein Mensch dem Evangelium begegnet und darauf antwortet. In den Bekenntnissen verschafft sich dieser Glaubensvollzug einen je bestimmten, den einzelnen Glaubenden aber auch an seine Kirchengemeinschaft bindenden Ausdruck.

Sie betonen, dass in den Bekenntnisschriften die Tradition begegnet, die Protestanten bindet und verpflichtet. Das heißt im Idealfall: Wenn Pfarrerinnen und Pfarrer auf die Bekenntnisse der Reformationszeit verpflichtet werden, müssen sie sich immer wieder mit der eigenen Tradition auseinandersetzen.

Wilhelm Gräb:

Genau. So kann es zu einer existentialen Interpretation der Bekenntnisschriften kommen. Dann dienen sie denjenigen, die sich auf diese Tradition einlassen beziehungsweise einer bestimmen evangelischen Kirche angehören, als Vorlage, um zu klären, was das Selbstverständnis und den Lebensinhalt eines evangelischen Christen, einer evangelischen Christin ausmacht und woraufhin sie ihr Leben letztlich ausrichten. Wenn ich das den Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts auf dem Wege ihrer Interpretation entnehmen kann, werde ich sie mit Gewinn lesen und auch als Pfarrer oder Pfarrerin kein Problem damit haben, dass ich auf die Bekenntnisschriften verpflichtet bin. Aber ich hätte große Vorbehalte, wenn ich alle ihre inhaltlichen Aussagen, zum Beispiel die über das Sühnopfer Christi, einfach nachsprechen und in ihrer Gegenständlichkeit eins zu eins übernehmen müsste.

Pfarrerinnen und Pfarrer haben Theologie studiert und können daher die Bekenntnisschriften interpretieren und übersetzen. Aber nun werden ja auch Laien, die in eine Synode gewählt werden, auf die Bekenntnisschriften verpflichtet.

Wilhelm Gräb:

Ich meine, auch sie bekommen so eine Richtschnur für die Auslegung der Heiligen Schrift an die Hand. Denn in den Bekenntnisschriften wird deutlich: In der Rechtfertigungsbotschaft haben wir die Summe des Evangeliums. Gott nimmt uns bedingungslos an, deshalb sind wir davon befreit, immer was leisten und rechthaben zu müssen. Das Evangelium von der Rechtfertigung des Sünders ist die Richtschnur, die uns beim Lesen der Bibel orientiert. Und in der Betonung der Rechtfertigungslehre stimmen die reformatorischen Bekenntnisse ja überein, so unterschiedlich sie in vielem auch sind.

Wenn wir die Bekenntnisschriften nicht einfach nachbeten, sondern interpretieren, schließt das doch aber auch ein, dass man zugibt, ja erklärt, dass die eine oder andere Aussage der Bekenntnisschriften falsch ist, oder?

Wilhelm Gräb:

Es gibt da kein Wahr oder Falsch. Es geht vielmehr um das Mehr-oder-weniger-angemessen-Sein dessen, was den evangelischen Glauben ausdrückt. Glaube ist nach evangelischem Verständnis in erster Linie ja nicht ein Fürwahrhalten von metaphysischen Tatbeständen, die objektiven Geltungsanspruch erheben, sondern der Glaube ist der Vollzug einer existentiell-religiösen Selbstauslegung. Ich verstehe mich als evangelischer Christ von Jesus Christus her, orientiere mich an seinem Leben und seiner Botschaft. Christus hat mir Gott als den gezeigt, der mich ins Dasein gerufen hat, aus reiner Liebe und Gnade, der bedingungslos zu mir hält und in dem ich mich auf Ewigkeit hin geborgen wissen kann. Die Bekenntnisschriften ermöglichen ein solches Gottes- und Selbstverständnis, indem sie es in der Mitte der Schrift verankern. Sie schärfen ja ohnehin die reformatorische Grundeinsicht ein, dass nicht sie selbst, als zeitbedingter Ausdruck des Glaubens, dessen Basis sind, sondern, dass gilt: allein Jesus Christus, allein aus Gnade, allein aus Glauben und allein die Schrift. Ich muss also nicht alles für wichtig erachten, was sonst noch in den Bekenntnisschriften steht und nicht auf diesen Punkt des evangelischen Rechtfertigungsglaubens zu bringen ist.

Dass die römisch-katholische Messe eine "vermaledeite Abgötterei" ist, wie die Antwort des Heidelberger Katechismus auf Frage 80 nach dem "Unterschied zwischen dem Abendmahl des Herrn und der päpstlichen Messe" lautet.

Wilhelm Gräb:

Und dergleichen. Aber wie gesagt, wenn wir die Bekenntnisschriften existenzial interpretieren, auf unsere Person, unser persönliches Christsein beziehen, können sie uns helfen, uns und unseren Glauben besser zu verstehen. Wir lernen mit ihnen, dass der evangelische Glaube als auf Christus blickender Rechtfertigungsglaube nicht an gegenständlichen Inhalten hängt, sondern der existenzielle Vollzug einer bedingungslos in Gott gründenden Daseinsgewissheit ist.

Ist die Bekenntnisbildung im 16. Jahrhundert, sagen wir mit dem Konkordienbuch von 1580, abgeschlossen? Oder geht sie weiter? Ist zum Beispiel die Barmer Theologische Erklärung, die die Synode der Bekennenden Kirche 1934 abgegeben hat, ein Bekenntnis?

Wilhelm Gräb:

Ich habe da ein weites Herz. Die Barmer Theologische Erklärung hat in der dramatischen Situation der Bedrohung der Kirche durch eine völkische Irrlehre das Bekenntnis zu Jesus Christus als einziger Richtschnur in der Auseinandersetzung mit einer widergöttlichen Ideologie hervorgehoben. Sie kann uns sensibilisieren, in unserer Zeit und in Zukunft auf solche Ideologien zu achten und ihnen zu widersprechen.

Gibt es dafür ein Beispiel?

Wilhelm Gräb:

Wir befinden uns in der Bundesrepublik glücklicherweise zur Zeit nicht in einer solchen Situation, in der der Status Confessionis ausgerufen werden müsste. Das war ganz anders während der Rassentrennung in Südafrika, der Apartheid, die von der dortigen niederländisch-reformierten Kirche religiös begründet und gerechtfertigt wurde.

In der Schweiz haben einige Landeskirchen im 19. Jahrhundert die Verpflichtung auf die Bekenntnisschriften der Reformationszeit abgeschafft. Und in der Kirche von England spielen die 39 Artikel von 1571 nur eine geringe Rolle. Braucht eine Kirche denn überhaupt ein Bekenntnis?

Wilhelm Gräb:

Auch die römisch-katholische Kirche hat keine Bekenntnisschriften, dafür aber den Papst. Mit anderen Worten, gerade eine evangelische Kirche, die nicht hierarchisch geleitet wird, in der nicht Papst und Bischöfe bestimmen, was christlich ist oder nicht, braucht einen Rahmen, in dem der Glaubensdiskurs geführt werden kann. Der Theologe Friedrich Schleiermacher hat 1830 in einer Predigt zum Jubiläum des Augsburger Bekenntnisses von 1530 gesagt, entscheidend sei nicht gewesen, was in diesem Bekenntnis alles im Einzelnen bekannt worden sei. Entscheidend sei vielmehr gewesen, dass die Evangelischen den Altgläubigen und dem Kaiser gegenübergetreten sind und deutlich gemacht haben, wie sie das Christentum auffassen. Eine Kirche ist doch arm dran, wenn sie nicht öffentlich sagen kann, was für sie gilt. Dabei geht es nicht um Uniformität. Es geht nicht darum, mit einer Stimme zu sprechen. Im Gegenteil! Man muss ja die Bekenntnisschriften interpretieren, und das führt zu Vielfalt. Aber nur wenn es für die evangelische Kirche einen Rahmen wie die Bekenntnisschriften gibt, wird gewährleistet, dass sie in einer Gesellschaft, die religiöser Individualismus und Pluralismus kennzeichnet, unterscheidbar und das ihr Wesentliche kenntlich bleibt.

In den Landeskirchen, deren Gottesdienst der Form der Messe folgt, und das sind in Deutschland die meisten, mit Ausnahme der württembergischen Landeskirche und der Evangelisch-Reformierten, spricht die Gottesdienstgemeinde jeden Sonntag das Apostolische Glaubensbekenntnis, das Apostolikum. Halten Sie es für sinnvoll, ein Glaubensbekenntnis, das sich so um das 9. Jahrhundert ausgebreitet hat, nach wie vor, auch im 21. Jahrhundert noch zu sprechen?

Wilhelm Gräb:

Aber natürlich. Es ist doch völlig unvorstellbar, dass wir in einem Gottesdienst lediglich individuelle Glaubensformulierungen zu Wort kommen lassen, woher sie auch immer kommen. Das Apostolikum gehört nun einmal seit bald zweitausend Jahren zum Grundbestand der liturgischen Ordnung des Messgottesdienstes der westlichen Kirche und stellt das rituelle Grundelement eines gemeinsamen Glaubensausdrucks dar. Natürlich gilt für das Glaubensbekenntnis im Gottesdienst dasselbe wie für die Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts: Es ist Glaubensausdruck, nicht Glaubensgrund. Die Formulierungen, die das Apostolische Glaubensbekenntnis enthält, erlauben das Mitsprechen und sei es auch, in dem man einfach über sie hinweg spricht, ohne sich über einzelne Formulierungen den Kopf zu zerbrechen. Ich weiß, dass das viele tun. Aber ich halte es für ein Defizit an religiöser, ja theologischer Bildung, wenn Leute meinen, sie müssten das, was das Apostolikum zum Beispiel über die Jungfrauengeburt aussagt, als Behauptung einer biologischen Tatsache verstehen. Das wäre ein komplettes Missverständnis, denn es geht hier doch nicht um Biologie, sondern um Glauben und damit um den Vollzug unseres Uns-Selbst-Verstehens. So gesehen heißt "geboren von der Jungfrau Maria": Wir verstehen Jesus als einen Menschen, der einzigartig war, vollkommen, bis zum Tode am Kreuz mit Gott verbunden, sich mit ihm eins wissend - so dass alle, die an Jesus Christus glauben, zu solchen Menschen werden können, die sich bedingungslos in Gottes Liebe gegründet und gehalten wissen.

Aber warum kein anderes, neues Glaubensbekenntnis? Luther hat doch auch ein Glaubenslied geschrieben mit dem Ziel, das gesprochene Apostolikum gegebenenfalls zu ersetzen.

Wilhelm Gräb:

Aber das können wir ja auch machen. Luthers Glaubenslied oder das von Rudolf Alexander Schröder tritt im Gottesdienst immer wieder an die Stelle des Apostolikums. Und natürlich gibt es in der ganzen Welt Kirchen, in denen die Gottesdienstgemeinde weder das Apostolikum noch ein anderes formuliertes Glaubensbekenntnis spricht. Aber in unseren Landeskirchen beziehen wir uns nun einmal auf ein tradiertes Glaubensbekenntnis und entwickeln von dort aus unseren individuellen Glaubensausdruck. Natürlich spricht nichts gegen ein neues Glaubensbekenntnis. Aber in einer Zeit hochgradiger Individualisierung kann ich mir nicht vorstellen, wie wir zu einem neuen gemeinsamen Ausdruck unseres Glaubens sollten finden können.

Warum brauchen wir denn überhaupt ein gemeinsam gesprochenes Glaubensbekenntnis im Gottesdienst? Im oberdeutschen Predigtgottesdienst, wie er in der württembergischen Landeskirche seit der Reformation üblich ist, ist das doch auch nicht die Regel. Ja, eigentlich ist doch der ganze Gottesdienst, alles, was in ihm laut wird, ein Bekenntnis.

Wilhelm Gräb:

Ich finde ein gemeinsam gesprochenes Glaubensbekenntnis nicht entscheidend. Aber es ist nun einmal ein Symbol, ein Zeichen für die Zugehörigkeit zu einer Glaubensüberlieferung und einer Glaubensgemeinschaft. Und ich wüsste nicht, welches Element im Gottesdienst das so deutlich anzeigt wie das gemeinsam gesprochene Glaubensbekenntnis. Ich kann mich doch als Gottesdienstbesucher, unabhängig davon, in welcher Stimmung ich mich befinde, was ich gerade fühle und denke und woran ich zweifle, in diesen Klangteppich, der sich über den Kirchenraum ausbreitet, hineinlegen und von ihm getragen fühlen. Aber wie gesagt, es geht auch hier nicht darum, einfach etwas nachzubeten und die Aussagen des Bekenntnisses als Aussagen über Tatsachen zu verstehen. Es geht vielmehr darum, dass ich das Glaubensbekenntnis existenzial interpretiere, so dass ich mich in meinem Glauben, das heißt: in meinem Selbstverständnis, besser verstehe. Um was es geht, hat keiner besser verdeutlicht als Martin Luther, wenn er im Kleinen Katechismus seine Auslegung des ersten Artikel des Apostolikums so beginnen lässt: "Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat, samt allen Kreaturen." Die Worte "ich" und "mich" machen deutlich: Wer mit dem Apostolikum Gott als den Schöpfer des Himmels und der Erde bekennt, macht keine gegenständliche Aussage über die Entstehung der Welt, sondern deutet seine Existenz, versteht sich als Menschen, den Gott ins Dasein gerufenen hat und liebt.

Das heißt, es gibt in den Katechismen des 16. Jahrhunderts, dem Kleinen Luthers und dem Heidelberger, Aussagen, die sind so großartig, ja genial formuliert sind, dass sie auch von Konfirmanden im 21. Jahrhundert noch gelernt werden sollten.

Wilhelm Gräb:

Ich würde das am liebsten immer noch tun. Das gilt gerade auch für die erste Frage des Heidelberger Katechismus. Hier wird, und das ist großartig, auf den Punkt gebracht, dass es im Glauben eigentlich um nichts anderes geht, also um das, was mir selbst meinen letzten Trost im Leben und im Sterben ausmacht - also von woher und woraufhin ich mich letztlich verstehe. Dass es um eine tröstliche Angelegenheit geht, die in gläubigem Vertrauen zu erfassen ist, ein Trost, der auch noch im Sterben trägt - damit ist eigentlich alles gesagt. Es geht im Christentum eben nicht um das Fürwahrhalten von historischen Ereignissen und dogmatischen Wahrheiten, sondern um eine Trostbotschaft, die Ewigkeitsgeltung hat, und zwar für mich - sofern ich mich ihr vertrauensvoll überlasse. Der Heidelberger Katechismus stellt zu Beginn seiner Ausführungen immer eine Frage. Und Luther fragt im Kleinen Katechismus auch: "Was heißt das?" Und das bedeutet doch, er nötigt den Leser zu einer ihn selbst, ihn persönlich herausfordernden Interpretation des Bekenntnisses.

Davon waren die Konfessionalisten des 19. Jahrhunderts aber weit entfernt. Sie machten doch aus den reformatorischen Bekenntnisschriften, zu denen auch die Katechismen gehören, Lehr- und Glaubensgesetze.

Wilhelm Gräb:

So ist es. Deshalb sehe ich die liberale Theologie, die genau das nicht tut, sondern zwischen Glaubensgrund und Glaubensausdruck unterscheidet, und dabei den Glaubensausdruck als interpretationsbedürftig ansieht, näher bei den Reformatoren. Ebenso den alten Pietismus Philipp Speners, mit seiner Vorordnung des Lebens vor der Lehre, der Betonung der Wichtigkeit der persönlichen Glaubensüberzeugung, des persönlichen Glaubensbekenntnisses und Glaubensausdrucks.

Es wird diskutiert, ob die EKD das Augsburger Bekenntnis übernehmen soll, also eine Evangelische Kirche in Deutschland A.B. wird. Was halten Sie von diesem Vorschlag?

Wilhelm Gräb:

Ich bin skeptisch, was die Erweiterung der theologischen Zuständigkeits- und Machtbefugnisse der EKD anbelangt. Sicher ist es sinnvoll, wenn sie die Landeskirchen administrativ entlastet. Und unsere Medienöffentlichkeit verlangt nach Leitungsfiguren, die auf der nationalen Ebene für den deutschen Protestantismus sprechen können. Für mich als Praktischen Theologen gibt es pragmatische, kirchenverwaltungstechnische Gründe dafür, dass die EKD bestimmte Aufgaben wahrnimmt. Dafür braucht sie kein Bekenntnis. Ich bin eher dafür, dass man die konfessionellen Differenzierungen des deutschen Protestantismus, der verschiedenen Landeskirchen und ihre Zugehörigkeit zu konfessionellen Weltbünden, stärkt. Bei meinen vielen Kontakten mit Südafrika beobachte ich, wie wichtig die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen ist, indem sie zum Beispiel - auch durch Begegnungen - Verbindungen zwischen den reformierten Kirchen Deutschlands und Südafrikas schafft.

Das zeigt, dass die reformatorischen Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts auch international wichtig sind, und im Zuge der Globalisierung im Grunde immer wichtiger werden, weil sie Kirchen über nationale Grenzen hinweg miteinander verbinden, lutherische in Deutschland und Lateinamerika, reformierte in den USA und Korea und so weiter.

Wilhelm Gräb:

Das gemeinsame Bekenntnis hat, wenn wir global denken, auf der internationalen Ebene eine sehr viel größere Bedeutung, als es sie für die EKD gewinnen könnte, zumal diese ja eben aus lutherischen, unierten und reformierten Landeskirchen besteht und doch wohl bestehen bleiben wird. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sich die Lutheraner auf ein Augsburger Bekenntnis einlassen würden, das auch die Reformierten akzeptieren können, zum Beispiel die Confessio Augustana Variata, die Philipp Melanchthon verfasst und Johannes Calvin unterschrieben hat.

Das Gespräch führten Kathrin Jütte und Jürgen Wandel am 26. November in Berlin.

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Wilhelm Gräb

Wilhelm Gräb ist Professor für Praktische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.


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