Der Verfasser Heinz Schilling, Frühneuzeithistoriker an der Humboldt-Universität zu Berlin, ist durch langjährige Forschungen ausgewiesen. Eine große Beschreibung ist geglückt. Gleich zu Beginn wird in die Neue Welt ausgegriffen, und das Ende beschreibt neben Martin Luthers Tod das demütige Sterben Kaiser Karls V. Der reiche Fundus der Quellen findet eine angemessen behutsame Auswertung. Anmerkungen und Literatur sind an den Schluss gerückt. Zumeist ist der neueste Stand der Forschung berücksichtigt. Die Darstellung stützt sich dabei lieber auf Fakten als auf literarische und theologische Zusammenhänge, was allerdings nicht ganz ohne Einbußen abgeht. Die Disposition erfolgt in übersichtlichen Blöcken, wenn auch gelegentlich eigenwillig.
Zügig gelangt man durch die komplexe Bildungsgeschichte nach Wittenberg, der sächsischen Residenzstadt, und der Reformuniversität. Die spätmittelalterlichen und katholischen Reformen überholt Luthers Ablehnung des Ablasses verbunden mit der Befreiungserfahrung seines Glaubens. Einzelheiten wären hier wohl noch stärker zu pointieren gewesen. In dem Konflikt wird Luther zum gewieften Publizisten und harten Polemiker. Der Reformator hat sich gegenüber Papst, Kirche, Kaiser und Reich zu behaupten. Der Auftritt vor dem Reichstag in Worms markiert einen Höhepunkt, aber auch eine Weichenstellung, das Bekenntnis des Kaisers fällt gegen Luther aus.
Schon von der Wartburgzeit an ist der Beginn der "Kärrnerarbeit" Luthers als Publizist und Übersetzer angesetzt. Gegen die "falschen Brüder" musste die Deutungshoheit gesichert werden. Luther wird dabei ausdrücklich nicht als Revolutionär, sondern als Reformer verstanden. Als Tragik gilt, dass sich Luther gegenüber den Bauern nicht vermitteln konnte. Er setzte denn auch auf die Obrigkeit, geriet dabei freilich ins Zwielicht. Ausführlich wird auf die damals eingegangene Ehe sowie die Familie und den Haushalt unter der Führung von Luthers Frau eingegangen.
Eindeutig verdienstvoll ist, dass eine komplette Lutherbiographie geboten wird, bei der auch die oft vernachlässigte zweite, gefüllte Lebenshälfte Würdigung findet. Diese ist ambivalent zwischen Prophetengewissheit und zeitlichem Scheitern bewertet. Schauplatz ist zumeist Wittenberg als Kathedralstadt Luthers oder Zentralkanzlei des Protestantismus, vor allem auch als Ort seiner unermüdlichen Predigttätigkeit und seines akademischen Lehrens. Bei der dringenden Aufgabe der Kirchenordnung vermag sich Luther nur teilweise durchzusetzen. Die anstehenden großen Kontroversen hätten sich in ihrem inneren Kern wohl noch schärfer erfassen lassen. Gegenüber Erasmus soll Luther eine pessimistische Anthropologie vertreten haben. Die gegen Zürich verteidigte Realpräsenz Christi im Abendmahl war eben ein Essential seines Glaubens. Gegenüber der großen Religionspolitik optiert Luther von der Coburg aus bereits für die Konfessionskirche und gegen Religionsgespräche und Konzil. Anlässlich der Fragen von Bündnis und Widerstand kommt Luthers theologisches Verständnis von Politik, sodann auch das von Wirtschaft und Gesellschaft zur Entfaltung. Der Dichter Luther hätte wohl mehr Aufmerksamkeit verdient. Sehr genau beschrieben werden schließlich an ihrem Ort die Wahrnehmungen von Türken und Juden als endzeitliche Bedrohungen und die schlimmen Reaktionen darauf.
Der Epilog summiert Luthers Anteil in Scheitern und Erfolg am Ende des Universalismus. Von ihm wurde die Reformation "gebündelt" und als ihr Ergebnis gelten die Konfessionskirchen und -kulturen. Als Gewinner erscheint der Staat. In der Welthaftigkeit des Glaubens wird ein Beitrag zur Moderne gesehen. Ob Luther bei all dem wirklich Rebell war, lässt sich fragen.
Heinz Schilling: Martin Luther. Verlag C. H. Beck, München 2012, 714 Seiten, Euro 29,50.
Martin Brecht