Über das Kölner Beschneidungsurteil wurde im vergangenen Jahr mit Eifer und Leidenschaft in allen Medien und auf allen intellektuellen Niveaustufen debattiert. Welchen Reim soll man sich auf diese Vorgänge machen?
Kinderschutzbund und Kinderärzte, aber auch religionskritische Vereine haben selbstverständlich das Recht, sich öffentlich gegen die Beschneidung von minderjährigen Jungen auszusprechen. Sie dürfen das selbstverständlich auch vehement tun und ihre Argumente zuspitzen. Und sie haben auch das Recht, eine Vorlage für ein Beschneidungsverbotsgesetz zu erarbeiten und den Gesetzgeber dazu zu bewegen, ein solches zu erlassen.
Dazu ist es aber bisher nie gekommen, weil ihnen ein Landgericht in Köln zuvorkam und über Nacht die Beweislast zu Gunsten der Beschneidungsgegner umkehrte.
Bis zum Kölner Urteil hätten die Beschneidungsgegner eine Gesetzesinitiative starten können. Aber sie hätte nur wenig Aussicht auf Erfolg gehabt. Denn welches Parlament hätte ein solches Gesetz erlassen wollen? Die rechtlichen und politischen Hürden wären für jeden politisch denkenden Menschen erkennbar so hoch gewesen, dass eine solche Initiative aus Mangel an Aussicht auf Erfolg rasch erledigt gewesen wäre. Außenpolitiker hätten vor einer Isolierung Deutschlands gewarnt und Integrationspolitiker vor der Diskriminierung religiöser Minderheiten. Und Familienpolitiker hätten an das Gebot der Verhältnismäßigkeit erinnert und darauf hingewiesen, dass die staatlichen Maßnahmen zum Schutz von Kindern dann auch auf rauchende und trinkende Eltern ausgedehnt werden müssten, ganz zu schweigen von einer dann erneut drohenden Debatte über den straffreien Schwangerschaftsabbruch: Soll die Beschneidung im Namen des Kindeswohls verboten, die Tötung eines ungeborenen Kindes aber straffrei bleiben?
Vertreter der Religionsgemeinschaften hätten eine solche Initiative als Verstoß gegen das Recht auf Religionsfreiheit gewertet. Und Frauenärzte hätten darauf hingewiesen, dass eine Beschneidung ein späteres Infektionsrisiko von Frauen vermindere. Kein Parlament hätte es sich leisten können, diese Einwände zu ignorieren. Wäre also alles mit rechten Dingen zugegangen, dann wäre ein Beschneidungsverbot zwar in den Feuilletons und juristischen Fachzeitschriften diskutiert worden, hätte aber niemals den Bundestag beschäftigt.
Die Beschneidungsdebatte konnte ihre Dynamik nur entwickeln, weil Richter am Landgericht Köln ein Urteil fällten, das man - ohne sich unziemlicher Richterschelte schuldig zu machen - als politisches Urteil bezeichnen kann. Denn die Richter haben ihre Kompetenzen weit überschritten und die Grenze zwischen richterlicher Gesetzesanwendung und eigenmächtiger Gesetzgebung nicht hinreichend beachtet.
Es gab und gibt in Deutschland kein Gesetz, das die Beschneidung verbietet. Deshalb wurden seit der Einführung des Strafgesetzbuches in Deutschland 1872 Millionen von Beschneidungen ohne jede staatliche Beanstandung vollzogen. Und sowohl Paragraph 1 des Strafgesetzbuches als auch Artikel 103 des Grundgesetzes stellen fest: Ohne ein Gesetz darf keine Strafe verhängt werden.
Der Arzt, um den es in Köln ging, hatte die Beschneidung nach allen Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt. Die Staatsanwaltschaft hätte also von seiner Verfolgung absehen müssen, wenn sie nicht den Verdacht der Verfolgung Unschuldiger auf sich ziehen wollte.
Erfundenes Verbot
Das Gericht unterstellte dem Arzt einen Verbotsirrtum. Und es sagt damit sinngemäß: Der Arzt konnte trotz reiflicher Überlegung und unter äußerster Anspannung seines Gewissens, ja selbst nach Einholung rechtlichen Rates nicht erkennen, dass seine Handlung rechtswidrig ist. Und in der Tat: Wie soll ein noch so gewissenhafter Arzt ein Verbot erkennen, das nirgendwo kodifiziert ist?
Das Landgericht berief sich für das von ihm erfundene Verbot auf eine "wohl herrschende Meinung in der Literatur". Da aber juristische Meinungen nicht geeignet sind, eine Tat strafrechtlich zu billigen oder zu missbilligen, sondern dafür der Gesetzgeber tätig werden muss, kann die Begründung des Gerichts nur höchste Verwunderung auslösen.
In der deutschen Öffentlichkeit entstand der falsche Eindruck, bei einer strikten Anwendung deutscher Gesetze sei die Beschneidung verboten. Und so war mit einem Mal die Rechtfertigungspflicht umgekehrt. Die Beschneidungsgegner befanden sich nicht mehr in einer aussichtslosen Minderheitenposition. Und diejenigen, die Beschneidungen seit Jahrtausenden üben, standen plötzlich unter dem Verdacht, Kinderschänder zu sein.
Mit dem ihr eigenen Gespür für politische Angemessenheit nahm Bundeskanzlerin Angela Merkel sofort Stellung und stellte fest, Deutschland könne sich nicht zur "Komikernation" machen und müsse mithin die Zulässigkeit einer medizinisch fachgerechten Beschneidung von Jungen so rasch wie möglich gesetzlich regeln.
Die Beschneidungsdebatte ist für die religionspolitische Lage in Deutschland symptomatisch. Schon vor dem Kölner Urteil glaubten religionsferne Säkularisten, dass sie den säkularen Staat auf ihrer Seite haben. Die Religiösen im Lande sollten zwar als minderbemittelt und unaufgeklärt toleriert werden, aber doch nur innerhalb der Schranken, die die "Fortschrittlichen" definieren.
Es ist das große Missverständnis vieler religionsferner und religionsfeindlicher Kreise, dass sie die religiös-weltanschauliche Neutralität des säkularen Staates so deuten, als sei dessen Grundlage eine säkulare Weltanschauung. Aber gerade das ist nicht der Fall: Der säkulare Staat eröffnet vielmehr allen Religionen und Weltanschauungen die Möglichkeit, ihren je eigenen Beitrag zur demokratischen Willensbildung zu leisten.
Eine Unterscheidung zwischen "Säkularisten" und "Säkularen" legt sich daher nahe. Der Säkulare weiß: Seine religionsabstinente Weltanschauung besitzt vor dem Gesetz die gleiche Geltung wie die religionsaffine Weltanschauung eines Juden, Buddhisten oder Christen. Denn weder Weltanschauungen noch Religionen können Anspruch auf eine staatlich privilegierte Geltung erheben. So wenig religiöse Menschen der kleinen radikalen Minderheit von Fundamentalisten darin folgen, dass ihre Sicht der Dinge unter Berufung auf eine Heilige Schrift absolute Geltung besitzt und totalitär durchgesetzt werden muss, so sehr sollten sich säkular gesinnte Bürgerinnen und Bürger vor der säkularistischen Falle hüten. Die besteht darin, die eigene Weltanschauung zur staatlich approbierten zu erklären, die gegen religiös begründete Weltdeutungen quasi mit Staatsgewalt durchgesetzt werden muss.
Das fällt besonders jenen Altachtundsechzigern schwer, die fest daran geglaubt hatten, Religion sei unter den Bedingungen der Moderne ein anachronistisches Restproblem. Mit ihm müsse man sich intellektuell schon deswegen nicht mehr beschäftigen, weil es bald verschwinden werde. Für sie ist die Einsicht in das weltweite Wachstum der Religionen mit der narzisstischen Kränkung verbunden, sich im Blick auf öffentliche Bedeutung und politische Kraft des Religiösen gründlich geirrt zu haben.
Weil zum geschichtsphilosophischen Irrtum auch noch religionstheoretische Ahnungslosigkeit hinzutritt, rettet man sich in den alarmistischen und kulturkämpferischen Warnruf vor der Gefährlichkeit der Religionen. Aber auch diese Strategie wird diese Leute nicht vor der Einsicht bewahren können, dass sie mit den Religiösen in einem Boot sitzen. Auch eine religionsferne Weltanschauung ist nur eine Weltanschauung, die mit den Religionen das gemeinsame Schicksal teilt, auf Gewissheiten zu beruhen, die als solche nicht beweisbar sind. Religiöse wie Areligiöse sind einander also Anerkennung ebenso schuldig wie Rechtfertigung.
Antijüdische Hetze
Diejenigen, die sich selbst Fortschrittlichkeit zuschreiben, setzen ihre Positionen ungern dem historischen Vergleich aus und der kritischen Frage, ob ihre Mentalitäten und Diskurse sich nicht möglicherweise aus Traditionssträngen speisen, die nicht tradiert werden sollten. Das Entsetzen jüdischer Deutscher im Beschneidungsstreit über Karikaturen und Textbeiträge, die alle Kennzeichen einer längst vergangen geglaubten antijüdischer Hetze aufweisen, sollten alle an der Debatte Beteiligten ernst nehmen. Dies umso mehr, als in den vergangenen Jahren im Umgang der nichtjüdischen Deutschen mit den Juden ein merkwürdiges Phänomen zu beobachten ist, das Martin Walser in seiner Paulskirchenrede 1998 als einer der ersten identifizierte. Die Erinnerung an die Shoah ist fester Bestandteil des zivilreligiösen Selbstverständnisses der Bundesrepublik geworden. Die von Deutschen ermordeten Juden sind in Schulbüchern, Gedenkstätten und bei jährlich wiederkehrenden Staatsakten präsent. Der Kontakt mit heute lebenden Juden ist hingegen spärlich.
Das staatlich organisierte, öffentliche Schuldbekenntnis führt auch zu einem weit verbreiteten Unbehagen, das Walser mit seiner Klage über "Drohroutine" und "Pflichtübung" und "Moralkeule" und "jederzeit einsetzbare Einschüchterungsmittel" zum Ausdruck brachte.
Dieses Unbehagen hat sich in den vergangenen Jahren verstärkt. Und so lässt sich die Heftigkeit der Debatte über die Beschneidung auch mit dem sozialpsychologischen Begriff der "Schuldabwehr" erklären. Die Erleichterung vieler nichtjüdischer Deutscher darüber, auch bei den Juden etwas "Schlechtes" - in Fall der Beschneidung Kindesmissbrauch - gefunden zu haben, war deutlich spürbar.
Besorgniserregend war aber vor allem der eklatante Mangel an religiöser Bildung. Wie kann man ernsthaft einen Gegensatz zwischen dem Kindeswohl und der Aufnahme des Kindes in den Bund mit JHWH aufmachen? Selbstverständlich dient nach jüdischem Selbstverständnis die Beschneidung eines männlichen Säuglings seinem Wohl. Was für ein reduktionistisches Verständnis von Kindeswohl muss man haben, wenn dieser Zusammenhang nicht evident ist?
Das Argument, der weltanschaulich neutrale Staat dürfe die Selbstinterpretation der jüdischen Familien nicht beachten, sondern lediglich "säkulare" Argumente wie die körperliche Unversehrtheit akzeptieren, verkennt, dass sich der Staat dann nicht mehr weltanschaulich neutral verhielte, sondern einem kruden Materialismus anhinge. Urteile in religiösen Angelegenheiten müssen gerade die besondere Perspektive der diese Religion Ausübenden berücksichtigen.
Die Kirchen haben sich aus dieser Debatte nicht nur aus Solidarität mit ihren Vätern im Glauben herausgehalten. Denn die Argumentation der Beschneidungsgegner zielt auch auf die christliche Taufpraxis. Wenn nämlich der Akt der Aufnahme in eine Religionsgemeinschaft aus Gründen des Kindesschutzes bis zur Religionsmündigkeit aufgeschoben werden soll, wie die Beschneidungsgegner fordern, müsste das für alle Religionsgemeinschaften gelten. Und dann stünde die Praxis der Kindertaufe nicht nur theologisch unter Druck, sondern auch politisch.
Große Gefahren drohen den Kirchen hier allerdings nicht. Denn Artikel 7 des Grundgesetzes verbürgt das Recht auf religiöse Kindererziehung - und das sogar noch mit staatlicher Unterstützung.
Staatlich geförderte religiöse Bildung scheint freilich nicht nur für die Kinder religiöser Eltern zunehmend wichtiger zu werden. Das Kölner Urteil zeigt, dass man auch nicht mehr selbstverständlich von religionstheoretisch gebildeten juristischen Eliten ausgehen kann. So fehlte den Kölner Richtern jede Sensibilität und jedes Verständnis für die Traditionen der in unserem Land beheimateten Religionsgemeinschaften. Dabei muss man doch von jedem, der ein öffentliches Amt bekleidet, grundlegende Kenntnisse der Geschichte und kulturellen Wirkungen von Judentum, Christentum und Islam fordern.
Die Zivilisierung der Religionen und Weltanschauungen durch Bildung kann nur dann erfolgreich sein, wenn zumindest die politischen Eliten von ihr Gebrauch machen. Es sollte jedenfalls nicht so weit kommen, dass jemand auch noch ein Verbot der christlichen Taufe wegen des Verdachtes auf "waterboarding" fordert. Und christliche Beschneidungsgegner sollten sich stets vor Augen halten: Für Paulus kommt die Taufe einer Beschneidung des Herzens gleich. Und damit ist der Eingriff in die Identität eines Kindes im Christentum ungleich größer als im Judentum.
Rolf Schieder
Rolf Schieder
Rolf Schieder ist Professor für Praktische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.