Die Körpersprache der Kirche

Wie Gesten und Berührungen die Kerngedanken der Reformation vermitteln
Foto: epd/Angelika Warmuth
Foto: epd/Angelika Warmuth
Die lutherische Reformation ist eine Weltbürgerin geworden. Aber was kann sie mit nach Hause bringen von ihrer Reise durch die Kontinente? Diese Frage behandelte Martin Junge, Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes, auf der jüngsten Generalsynode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands. Wir geben seinen Vortrag in gekürzter Form wieder.

Nicht allein Kirchen der Reformation, sondern Kirchen im fortwährenden Reformationsprozess", lautet einer der drei Leitsätze, an denen wir im Lutherischen Weltbund (LWB) unsere Vorbereitungen für das Reformationsjubiläum ausrichten. Lutherische Reformation als Ausdruck einer kontinuierlichen Erneuerung der Kirche also, die es bereits vor und auch nach dem 16. Jahrhundert gegeben hat - und natürlich auch weiter geben wird. Darum soll es gehen.

Dieser Ansatz erklärt auch den zweiten Leitsatz unserer Herangehensweise an das Reformationsjubiläum: Wir wollen dieses Reformationsjubiläum in ökumenischer Verantwortung begehen. Für uns im LWB heißt dies, dass die Kirchen der Reformation in ihrer Rückschau auf das 16. Jahrhundert nicht die neueren ökumenischen Entwicklungen übersehen oder gar ausblenden. In demselben Jahr, in dem sich das Reformationsjubiläum zum fünfhundertsten Mal jährt, wird der internationale Dialog zwischen Lutheranerinnen und Lutheranern auf der einen und Katholikinnen und Katholiken auf der anderen Seite gerade einmal fünfzig Jahre alt. Es wäre tragisch, wenn eine Rückbesinnung auf die Ursprünge der Reformation die neueren Entwicklungen im Bereich der ökumenischen Verständigung nicht mit ins Blickfeld nähme. So zum Beispiel die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, die die Katholische Kirche und der LWB im Jahr 1999 unterzeichnet haben. Wir können nicht hinter dieses wichtige Dokument zurückfallen.

Der dritte Leitsatz, der die Herangehensweise des LWB an das Reformationsjubiläum prägt, führt mich zum Hauptthema meines Beitrages: Wir sehen es als einen besonderen Auftrag des Lutherischen Weltbunds, die globale Dimension der lutherischen Reformation einzubringen.

Die lutherische Reformation ist mittlerweile eine Weltbürgerin geworden. Sie hat die Welt umreist und hat in allen Kontinenten Fuß gefasst und Wurzeln geschlagen. Kirchen sind entstanden, in denen die reformatorische Botschaft kulturell verortet, weiterentwickelt und um neue, eigene Perspektiven ergänzt wurde. Es wird eine anspruchsvolle Aufgabe für das fünfhundertste Reformationsjubiläum sein, die lutherische Reformation in dieser globalen Dimension wahrzunehmen und lokale Kirchen in ihrer Kontextualität und jeweiliger Inkulturation für diese globale Perspektive zu öffnen.

Ende der Unberührbarkeit

Die lutherische Reformation ist heute ein globales und ein polyzentrisches Gebilde mit den unterschiedlichsten Prägungen und Ausdrucksformen. Die Frage lautet somit nicht allein, was aus den historischen Zentren der Reformation, Deutschland mit eingeschlossen, in die weite Welt ausgewandert ist. Mindestens so spannend ist die Frage, was denn wieder einwandert nach so einer ausgedehnten, fortwährenden Weltreise, und wie das, was anderswo neu gelernt wird, den theologischen und praktischen Diskurs der Kirchen der Reformation heute prägt und bereichert.

Es soll an dieser Stelle also um Reformation und Inkulturation gehen. Dabei möchte ich allerdings noch vorausschicken, dass die Reformation im abgelegenen Wittenberg des 16. Jahrhunderts bereits selbst ein massiver Inkulturationsprozess war. Luthers theologische Einsicht der Vorherrschaft der Gnade ist ja ganz maßgeblich auf den nordafrikanischen Kirchenvater Augustin zurückzuführen. Von Thagaste nach Rom oder von Hippo nach Wittenberg - das hört sich mindestens so abenteuerlich an wie von Wittenberg nach Tegucigalpa, von Minnesota nach Manila oder von Uppsala nach Chennai. Evangelium und Kultur - die Frage stellt sich nicht erst ab dem Moment, in dem Kirchen in den überraschendsten Gegenden der heutigen Welt anzutreffen sind!

So zum Beispiel in Chennai, Indien. Die lutherische Reformation hat dort ihr eigenes, unverwechselbares Profil entwickelt. Denn sie hat sich bei den Dalits verortet, der Kaste der Unberührbaren. Dadurch haben die Dalits ein unerwartetes "extra nos" erlebt: Entgegen aller Erwartungen, Konventionen, Regeln und Gesetze wurden sie berührt. Im Taufakt, in der diakonischen Zuwendung, aber auch im mutigen Einsatz einiger Missionare für die Rechte und Würde der Dalits ist ihnen der Wahrheitsgehalt des Evangeliums in eindrücklicher Weise erfahrbar, greifbar gemacht worden. Im Abendmahl greifen sie es mit ihren Händen, wie tief sich Gott in ihren Leib begibt. Die radikale, bedingungslose Zuwendung Gottes, ein Kernanliegen der Kirchen in reformatorischer Tradition, wurde für diese Menschen zur identitätsstiftenden und befreienden Botschaft. Nicht allein durch die reformatorisch verstandene Verkündigung, sondern insbesondere durch die Körpersprache, mit der die Kirche den Menschen begegnet ist. Die Körpersprache der Kirche - sie spricht tatsächlich. Manchmal mehr als Worte!

Ihre befreiende Erfahrung haben indische Theologinnen und Theologen reflektiert und dabei ein ganz neues Denkmuster entwickelt, um die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus zu interpretieren. Aufgrund ihrer Erfahrung der Unberührbarkeit ist die Menschwerdung in Jesus Christus Gottes ureigener Weg, um der eigenen Unberührbarkeit zu entkommen. Gott konnte und wollte nicht den Schmerz und die Beziehungslosigkeit der Unberührbarkeit erdulden; Gott suchte und fand den Weg aus der Unberührbarkeit, indem er in Jesus Christus Mensch wurde. Und begründet und beseelt damit den Exodus aus der erlebten Unberührbarkeit der Dalits.

Ich finde diesen Gedanken faszinierend. Das Ereignis der Inkarnation wird fernab aller philosophischen Kategorien verarbeitet - insofern nämlich die Inkarnation Gottes soziologisch nachbuchstabiert wird. Die darin enthaltene Anfrage an die klassische Theologie ist nach wie vor kolossal: nicht nur, indem sie diese neue hermeneutische Hilfsdisziplin anbietet. Ebenso bedeutend ist die weitaus enger gefasste Verbindung zwischen Verkündigung und Diakonie, wie sie von Kirchen des sogenannten Südens seit Jahrzehnten gelebt und gefordert wird. Aber auch die betont politische Lesart der befreienden Botschaft Jesu Christi ist ein wichtiger Beitrag. Sie hilft uns, die traumatischen Erfahrungen der frühen Reformation mit sogenannten "Schwärmern" und dem Bauernkrieg aufzuarbeiten und die Verhältnisbestimmung zur Obrigkeit neu zu überlegen.

Vergeblich würde man mich nach dem Buch fragen, in dem diese Gedanken entfaltet werden. Denn ich habe diese Gedanken der Inkarnation in einem Gruppengespräch gehört, im Freien, unter einem mächtigen Baum. Dieses Bild beschreibt dann auch eine der schwierigsten methodologischen Herausforderungen, die es in einer polyzentrischen Gemeinschaft von Kirchen zu überwinden gilt: Während nämlich einige Inkulturationsprozesse schriftlich reflektiert werden, werden andere narrativ verarbeitet. Welche Kommunikationsprozesse und -hilfsmittel stehen denn überhaupt zur Verfügung, um diese unterschiedlichen Herangehensweisen im theologischen Diskurs zu überbrücken? Gibt es überhaupt Wege, um die implizite Asymmetrie zwischen schriftlicher und narrativer Herangehensweise aufzuheben?

Man braucht allerdings gar nicht in exotische Fernen zu reisen, um sich der innovativen Kraft der Inkulturationsprozesse der lutherischen Reformation bewusst zu werden. Manche Erfahrungen und Weiterentwicklungen liegen nämlich hier, direkt vor ihrer Haustür. Ich beziehe mich auf die Erfahrungen von Minderheitskirchen. Sie haben Wertvolles gelernt und können darum Wertvolles weitergeben. Kirchen in Minderheitssituation haben es gelernt, sich abseits von sozialen Konventionen zu verorten, zum Beispiel wenn es darum geht, Amtshandlungen anzubieten. Ja, sie haben gelernt, zur Taufe als lebensentscheidendes Ereignis einzuladen! Sie setzen das ABC des christlichen Glaubens nicht mehr voraus, sondern bieten es an.

Einerseits beschreiben diese Kirchen die Dialektik zwischen Staat und Kirche neu, indem sie sich viel stärker als bislang üblich im zivilgesellschaftlichen Bereich verorten. Dadurch werden wichtige Lernprozesse angeboten, insbesondere für Kirchen, die aufgrund einer Säkularisierungsdynamik und sich multikulturell und multireligiös stärker ausdifferenzierenden Gesellschaften neu aufstellen müssen. Dies geschieht meistens, indem sie sich von staatlichen Strukturen losmachen, wie zum Beispiel gegenwärtig bei den skandinavischen Mitgliedskirchen des LWB.

Dann aber kommt es in vielen dieser Minderheitskirchen zu neuen Ausformulierungen der Verhältnisbestimmung zwischen dem ordinierten Amt und dem allgemeinen Priestertum aller Gläubigen. Und schließlich bieten diese Kirchen auch wertvolle missions- und pastoraltheologische Impulse an. An dieser Stelle ist zu fragen: Sind eigentlich die Fertigkeiten, die die (lutherischen) Kirchen in den Gebieten der ehemaligen DDR als Minderheitskirchen dort entwickelt haben, heute noch identifizierbar, so dass sie sich als Ressourcen anbieten? Als Wissensvorsprung für Kirchen, die nun auch im Westen mit rasanten Säkularisierungsprozessen zu tun haben, mit massivem Substanzverlust an Grundwissen christlichen Glaubens, oder sich mit Ideologien religiöser Dimensionen auseinanderzusetzen haben?

Ein letzer Punkt, den ich zur weiteren Reflexion anbieten möchte, ist die Frage des Abendmahls und wie dieses in anderen Kontexten verstanden, begangen und erlebt wird. Ich erinnere mich an meine eigene Zeit als Pfarrer in Chile, wo ich in einer sehr armen, marginalisierten Gemeinde gedient habe. Der Friedensgruß vor dem Abendmahl - der wollte gar nicht enden! Jeder einzelne musste gegrüßt, umarmt, geküsst werden. In Gruppen standen Gemeindeglieder zusammen und erzählten und lachten miteinander, zwinkerten sich schelmisch zu ... Ich musste mich dann als Pfarrer oft diskret in Erinnerung rufen und darauf hinweisen, dass der Friedensgruß ja eigentlich nur ein liturgisches Element auf dem Weg zum Abendmahl ist.

Bald begriff ich aber, dass für diese Menschen, die so nachhaltig von täglicher Ausgrenzung, Ausschluss und Marginalisierung gezeichnet sind, das Abendmahl zu einem Fest der Inklusion, der bedingungslosen Annahme und der Überwindung von Strukturen der Marginalisierung geworden ist. Natürlich musste dann jeder einzelne begrüßt werden. Menschen, denen sonst aber auch wirklich gar nichts geschenkt wird, erfassen intuitiv das unermessliche Geschenk im Abendmahl. Die Gruppe der auf Erden Verdammten ist zugleich die Gemeinschaft der von Gott Angenommenen! Die Abendmahlsfeier ist Vorgeschmack einer eschatologischen Wirklichkeit, Unterpfand der Verheißung, wonach es weder Griechen noch Juden, weder Mann noch Frau geben wird - wie es der Apostel Paulus im Galaterbrief beschreibt.

Dieses Beispiel führt wieder an die Erfahrungen der indischen lutherischen Kirchen heran. Hier tritt erneut diese Körpersprache zum Vorschein, die so viel mitteilt über die Kernbotschaft des Evangeliums. "Körpersprache", die in diesem Fall ausgeweitet wird, indem sie den Körper Jesu Christi mit einbezieht, dargereicht in Gestalt von Brot und Wein, der dadurch zum befreienden Fest der bedingungslosen Annahme Gottes über alles Trennende hinweg wird. Natürlich ist dann das Abendmahl ein Fest, in dem gelacht und umarmt wird und aus dem Kraft geschöpft wird, um Zeugen eines Neuanfangs zu werden, der eindeutig auf Gottes Handeln in seiner Welt zurückgeht. Das "simul" der theologischen Anthropologie Luthers überträgt sich dadurch auf das "simul" zwischen den Lebenswirklichkeiten in dieser Welt und den Glaubenswirklichkeiten, wie sie in den Sakramenten mit ungebrochener Klarheit mitgeteilt werden. Kirchen des Südens kennen die eschatologische Spannung des "schon, aber noch nicht", stecken aber die Grenzpfosten ganz anders ab zwischen diesen beiden Dimensionen, indem sie dem "Schon" weitaus mehr Raum anbieten. "Hic et nunc": warum denn eigentlich nicht?

Aus dieser theologischen Perspektive heraus stellt sich natürlich die Frage der fortbestehenden Trennungen am Tisch des Herrn mit erneuter Vehemenz und Dringlichkeit. Denn diese Trennungen sind der theologischen Einsicht und spirituellen Erfahrung, welche die Menschen in Situationen der Marginalisierung und Ausgrenzung als Quintessenz der eucharistischen Feier verstehen und erleben, ja diametral entgegengesetzt. Es macht einfach keinen Sinn für sie, dass dieser einzige Hoffnungsschimmer für die Überwindung struktureller Marginalisierung selbst zu einer Instanz der Trennung wird.

Damit wird für mich auch die große theologische Herausforderung angedeutet, vor die das ökumenische Gespräch gestellt ist: dessen notwendige und dringende Verortung im pastoralen und diakonischen Dienst der Kirche. Das Schicksal konfessionsverbindender Ehen, die das Projekt Familie weiterhin wagen möchten, sich jedoch an getrennten Tischen geistig rüsten müssen, scheint mir dafür ein Paradebeispiel zu sein. Die theologischen Argumente für diese Trennung sind bekannt und nicht unbeachtlich - die Körpersprache jedoch, die ist nicht nachvollziehbar. Inhalt und Gestik klaffen auseinander und hinterlassen eine tiefe, schmerzliche Wunde im Leib Christi. Schon damals, zu Zeiten Jesu, ging es immer wieder um genau diesen Konflikt: zentrale Glaubensinhalte und Gestik. Oft schlug sich Jesus auf die Seite der Gestik, so dass Menschen doch noch die Gemeinschaft mit Gott und untereinander feiern konnten.

Martin Junge

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