Letzte Ausfahrt Franklin Square

Ein wehmütiger Blick zurück: Fünf Jahre Pfarrer auf Long Island
Queens: Hier beginnt Long Island. Dahinter wird es immer kleinstädtischer. Foto: picture alliance/Gavin Hellier/Robert Harding
Queens: Hier beginnt Long Island. Dahinter wird es immer kleinstädtischer. Foto: picture alliance/Gavin Hellier/Robert Harding
Haiko Behrens war Pfarrer einer Evangelisch-Lutherischen Gemeinde auf Long Island, New York - bis die Finanzkrise in den USA auch die Arbeit der Kirchen massiv betraf: Seine Gemeinde konnte sich keinen Vollzeitpfarrer mehr leisten. Heute lebt Haiko Behrens in Hamburg, arbeitet als Sprachtrainer für Business-Englisch und ist auf der Suche nach einer neuen Pfarrstelle.

Ein Hauch von Frühling liegt in der Luft von Long Island, NY. Meine Frau Rie und ich laufen in der lauen Sonntagabenddämmerung mit unserer Beagledame Mona die Franklin Avenue entlang, eine der beiden Hauptstraßen von Franklin Square, unserem Wohn- und Arbeitsort seit April 2007.

Zu unserer Rechten passieren wir das große Backsteingebäude mit dem Kreuz auf dem Dach. "Ascension Lutheran Church" prangt in schwarzen Lettern auf der Außenmauer.

Darunter steht einer dieser typischen kirchlichen Schaukästen, wie man sie wohl überall findet: Dort heißt es: "Worship Sundays 10 a.m.", "God bless our troops" nicht zu vergessen. Mein Name ist schon herausgenommen. Mein Dienst hier ist zu Ende.

Etwas wehmütig laufen wir weiter die Straße entlang. Sonntags sind in Amerika die Läden selbstverständlich bis 21 Uhr geöffnet - Grund genug für heiligen Zorn meiner älteren Gemeindeglieder, die mir versicherten, dass dies "in the Sixties very different" war.

Die Franklin Avenue war sonntags belebt. Es herrschte dichter Autoverkehr, Einkaufende kamen aus den Läden und blieben gerne auf einen kleinen "chat with pastor" stehen.

Auf dieser Straße spielte sich ein Teil meiner Arbeit ab, nur indem ich mit dem Hund spazieren ging. Viele Termine kamen hier zustande, viele kleine Probleme wurden mal eben im Vorbeigehen besprochen; ein Coffee Latte für mich sprang auch heraus, damals, früher.

Früher. Das klingt so nach "vor zwanzig Jahren". Es sind aber nur ein paar Jährchen vergangen. Rie, Mona und ich gehen weiter durch unser altes Revier. Viele der noch vor kurzem auch sonntags offenen Ladenlokale sind geschlossen. Für immer. "For Rent" - zu vermieten - werben Plakate auf verdreckten Fensterscheiben. Der stets verkaufsoffene Sonntag ist hier Vergangenheit. Genauso wie der verkaufsoffene Montag oder Dienstag. Die typisch amerikanische Non-Stop-Betriebskultur hat hier ihr Ende gefunden.

Die Straße ist kaum befahren. Eigentlich könnten wir auf der Straße spazierengehen.

Eine gesamte Ladenfront ist leer. Was übrig blieb, sind ein Gebrauchtwarenhandel, eine "Muckibude" und erstaunlicherweise ein Musikaliengeschäft.

Wir biegen ab auf den Hempstead Turnpike und kommen beim "Deutschen" vorbei. "Der Deutsche" ist ein kleiner, auf deutsch getrimmter Tante-Emma-Laden, in dem ein netter Herr unter den Klängen wunderbarer Weisen wie "Schöne Maid, hast du heut' für mich Zeit" oder "Anneliese, warum bist du böse auf mich" allerlei deutsche Leckereien, sowie Aufschnitt, ja, sogar gelegentlich auch mal einen SPIEGEL feilbietet.

"Der Deutsche" ist natürlich kein Deutscher. Er ist ein Amerikaner aus dem Bilderbuch mit Yankees-Baseballmütze auf dem Kopf und einem breitem Lachen. Er war nie in Deutschland. Er war noch nie im Ausland. Aber er hat Verwandte in Neumünster, die dort eine Großschlachterei besitzen.

In meiner Zeit als Postbote direkt nach dem Studium hatte ich von dieser Schlachterei regelmäßig die zu verschickenden Rechnungen abgeholt oder Post zugestellt. So haben "der Deutsche" und ich hier in New York stets ein Thema. Und so bin ich auch ein ums andere Mal an einen SPIEGEL gekommen, der sonst knapp zehn Dollar gekostet hätte.

Ich liebe diesen Laden. Es ist zwar alles hoffnungslos überteuert, aber es ist eben auch echte Importware. Gummibärchen für fünf Dollar muss ich nicht haben, und darauf, mich über das das Schicksal von Maria Haertel für acht Dollar via "Heim und Welt" auf dem Laufenden zu halten, verzichte ich.

Aber eine gute Leberwurst auf gutem Graubrot oder ein echter Schinken oder eine vernünftige Bratwurst, das muss sein. Nicht immer, aber ab und zu.

In der Fremde lernt man Kleinigkeiten von zu Hause zu schätzen. Heimat geht durch den Magen.

"Der Deutsche" platzt heraus: "Ich muss schließen. Die Leute haben einfach nicht mehr genug Geld für Luxus-Artikel." Bisher habe er es mehr schlecht als recht geschafft, sich durch Internethandel und entsprechenden Versand seiner Ware über Wasser zu halten, nun geht es nicht mehr.

Sein Sohn mache ihm Sorgen. Er habe gerade seinen Uniabschluss gemacht, mit Auszeichnung, und knapp 100.000 Dollar Studienschulden. Er bekommt keinen Job, der finanziell genug abwirft, um den Kredit abzubezahlen. Drei kleine Jobs habe sein Sohn, Kellner in zwei Restaurants - und nachts ist er bei einem Sicherheitsdienst. Mit dem Lohn kann er gerade mal die Zinsen bedienen.

Sein Sohn wohnt in einer WG. Mehr ist nicht drin. Sechs Monate hat er noch Zeit, die erste Rate zu bezahlen. Wenn er es nicht schafft, droht ihm der Privatbankrott, er müsste noch mal von vorne anfangen, obwohl er doch noch gar nicht angefangen hat.

Einmal sei sein Sohn bei seinem Sicherheitsdienstjob zusammengeschlagen worden. Die Krankenhausrechnung belief sich auf 14.000 Dollar. Versichert ist er nicht. "Das soll der amerikanische Traum sein?" "Der Deutsche" schaut mich anklagend an. Wir nicken betroffen und verabschieden uns.

Wir treffen Sabine. Eine echte Schwäbin. Inhaberin eines Bioladens, ein Gemeindeglied von mir. Sie kam vor knapp dreißig Jahren in die USA, aber die Schwäbin in ihr ist lebendig wie eh und je. Auch ein Stück geschäftstüchtiges Kleverle gehört dazu. "I han viele G'schäfte gemacht" ist ihr Kehrreim. Für sie bin ich "Pfarrerle". Wenn ich mich mit ihr unterhalte, verstehe ich ihr Englisch besser als ihr Deutsch. "Gaine Sau gaufft mehr Biobroduggte. Des isch vorbei, i mach mei Laden zu. Wisch es gauffe?" Nein, das will ich natürlich nicht.

Sabine schaut mich aus ihren grünen Augen unter ihren feuerroten Haaren an: "I kann von meim Schopp die Rent net me uffbringe. I will noch was vun Lebe habe' und nett mit siebzig Bleidde mache' dun."

"Und reicht deine Rente?" frage ich vorsichtig. "Ja, weischt, i hin no a Business in Schtuttgatt - direkt bei de Drein Schtaschion." " A ja, was denn", frage ich interessiert. Sie windet sich sichtlich. "Ha no, Pfarrerle, i hoff i komm net i d' Höll - i han a Schwulendisko." Rie und ich müssen dann doch laut loslachen.

Noch einmal in meiner Kirche

Wir gehen weiter und kommen an der katholischen High School vorbei - eine der besten privaten High Schools in New York State, wie es hieß. Am Ende des Schuljahres ist hier Schluss - die Schule muss schließen, viele Eltern können das Schulgeld von 5000 Dollar pro Halbjahr und Kind (exklusive Unterrichtsmaterial) nicht mehr bezahlen.

An das Gebäude der High-School schließt sich die riesige katholische Kirche an, daneben liegt die Rectory, das riesige Pfarrhaus, welches neben dem Monsignore bis vor kurzem noch fünf weitere Priester beherbergt hat. Der Monsignore ist ein Freund von mir; wir haben gemeinsam mit dem Ortsrabbi manches Weißbier geleert. Das katholische Pfarrerkollegium entpuppte sich als eine sehr lustige Männer-WG und nach dem gemeinsamen Dinner herrschte vor dem Bierkelch zwischen den Katholiken und dem Lutheraner traute Einigkeit. Jetzt wohnen neben dem Monseniore nur noch zwei Priester in dem riesigen Haus.

Auch bei den Katholiken in New York State hängt, wie fast überall in den USA, der finanzielle Haussegen schief. Einige Bistümer haben Bankrott angemeldet. Die Missbrauchsproblematik tat ihr übriges - aber die Krise nur darauf zu schieben wäre zu kurz gegriffen. Übrigens: Auch die Synagoge ist geschlossen. Die verbleibende jüdische Gemeinde, gerade mal 39 Leute, mieten sich jetzt für ihre Gottesdienste in verschiedenen Kirchen ein - wenn die Kollekte stimmt und die Miete bezahlt werden kann.

Schließlich sind wir wieder zu Hause. Ich gehe noch einmal in "meine" Kirche. Langsam gehe ich durch das Kirchenschiff dieser wunderschönen Steinkirche mit gotisch nachgeahmten Deckenelementen. Fünf Jahre stand ich hier jeden Sonntag zweimal, wenn ich deutschen Gottesdienst hatte, auch manchmal dreimal auf der Kanzel. Ich gehe in den Altarraum. Hier sang im Jahr 2008 die Kantorei meiner deutschen Heimatgemeinde aus Elmshorn. Erinnerungen werden wach.

In Amerika kommt der Pastor oder die Pastorin nicht einfach aus der Sakristei, hier gibt es stets eine Procession, aber erst nach The Confession of Sins und der Absolution, die vom Pfarrer, der im hinteren Teil des Kirchenschiffs vor der Eingangstür steht, im Wechsel mit der Gemeinde gesprochen wird.

Das Kreuz vorweg, getragen von einem Konfirmanden oder einer Konfirmandin zieht der Chor ein, dahinter kommt der Pfarrer mit dem Assistant Minister. Der Pfarrer schreitet zum Altar, verbeugt sich, es folgt darauf die Salutatio "The grace of our Lord Jesus Christ, the Love of God and the Power of the Holy Spirit be with you all".

Die Tür zu meinem Büro liegt neben dem Altar. Ich verbeuge mich kurz unversehens, schließe die Tür auf und gehe zu meinem Schreibtisch, der bald nicht mehr von mir besetzt sein wird. Auf dem Tisch liegt ein Dokument - "Severance Agreement" steht darauf. Es folgt wieder die trinitarische Salutatio ..., eine Menge Zahlen, ein bisschen Text, noch mehr Zahlen, dann der wichtigste Satz: "Reverend Behrens ist leaving the congregation on good terms", will heißen, es gab keinen Streit. Es folgt die Unterschrift des New Yorker Bischofs, meiner Kirchenvorstandsvorsitzenden und die meinige. Es ist mein Auflösungsvertrag. Meine Gemeinde ist nicht mehr in der Lage, einen Vollzeitpfarrer zu finanzieren. Finanzielle Rückschläge in Form ausbleibender Zinsen aufgrund riskanter Geldanlagen in ungesunder Kombination mit zunehmender Kirchenferne der jüngeren Generation auch in den USA, Arbeitslosigkeit, Wegzug und, nicht zuletzt, der Tod vieler Gemeindeglieder, haben die Rücklagen meiner Gemeinde nahezu aufgebraucht. Ich muss gehen.

Viele meiner Kollegen sind in einer ähnlichen Situation. Alleine in meiner "conference" (Kirchenkreis), der aus neun Gemeinden besteht, sind inklusive meiner Gemeinde zur Zeit drei Kirchen aus finanziellen Gründen komplett ohne pastorale Versorgung, vier haben eine/n Teilzeit-und nur drei eine/n VollzeitpfarrerIn.

Der Bischof spricht von der Notwendigkeit der Reduzierung der Gemeindeanzahl auf dem Gebiet der Synode (Long Island, Staten Island, die fünf Boroughs von New York City, sowie zwei Counties nördlich davon) von 208 auf 150.

So wie immer mehr leere Ladenlokale "for rent" sind, gibt es immer mehr leere Kirchen "for sale". Und doch empfinden wir Pfarrer und Pfarrerinnen alle das Gleiche: Wir verlassen unsere Posten zu einer Zeit, in der wir eigentlich am Nötigsten gebraucht werden.

Wenn wir jedoch ohne Entlohnung weitermachen würden, müssten wir uns allerdings hauptsächlich in anderen Feldern gewerblich betätigen - und die, die uns brauchen, würden weiterhin zu kurz kommen. Feierabendpastor? Aber vielleicht läuft es darauf hinaus.

Und jetzt? Bewerbungen laufen in alle Welt. Ich bin zum jobsuchenden Jet-Setter geworden, ohne regelmäßige Arbeit wie mehr als 16 Millionen andere gut ausgebildete Amerikaner. Ich verlasse das Büro, schließe ein letztes Mal die Tür ab, drehe mich zum Altar und verneige mich leicht vor dem Kreuz. Gelernt ist gelernt. Und es scheint, als ob mir Christus am Kreuz amerikanisch zumurmelt: "I am here, taking care of you, man. You are on good terms."

Haiko Behrens

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