Glaubensjoch oder ewige Wahrheit?

Viele Schweizer Landeskirchen haben die Bekenntnisse im 19. Jahrhundert abgeschafft
Die St. Peterskirche in Zürich. Foto: dpa/Gaetan Bally
Die St. Peterskirche in Zürich. Foto: dpa/Gaetan Bally
Die Bindung an die Bekenntnisschriften und das Sprechen des Glaubensbekenntnisses im Gottesdienst ist in evangelischen Kirchen der Schweiz bis heute umstritten. Warum das so ist, schildert der Aargauer Pfarrer Rudolf Gebhard, der über den Apostolikumsstreit in der Schweiz promovierte.

Was glaubt ihr denn eigentlich?", werden evangelisch-reformierte Schweizer in Deutschland oft gefragt. Ja, Ratlosigkeit macht sich breit, wenn wir in ökumenischen Gesprächen unsere Bekenntnisgrundlagen darlegen sollen. Denn wie kaum anderswo in der weltweiten Christenheit hat sich in den reformierten Kirchen der Deutschschweiz seit dem 19. Jahrhundert die Forderung der Liberalen nach Lehr- und Bekenntnisfreiheit radikal durchgesetzt. Allerdings wird seit einigen Jahrzehnten diskutiert, inwiefern und inwieweit unsere Landeskirchen bekenntnisfreie Kirchen sind und sein können. Und die Debatte ist wieder neu entflammt.

Wie konnte es in der Schweiz zur Bekenntnisfreiheit kommen, und welche theologischen und gesellschaftlichen Faktoren spielten dabei eine Rolle? In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden zunächst die Verpflichtungen auf die reformatorischen Bekenntnisschriften, vor allem das Zweite Helvetische Bekenntnis, gelockert oder gar gestrichen, die Pfarrer bei ihrer Ordination und Synodale bei Antritt ihres Ehrenamtes eingehen mussten und die in den Verfassungstexten der Kirchen standen. Dies geschah ohne viel Aufsehen.

Das Apostolische Glaubensbekenntnis blieb fortan das einzige Bekenntnis. Es war im Gottesdienst, besonders bei Taufe und Abendmahl, für die Gemeinden wie für die Pfarrer bindend vorgeschrieben. Dies erklärt aber nur zum Teil die Heftigkeit und Verbissenheit der Angriffe auf das Credo, die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzten. In den Auseinandersetzungen ging es letztlich um das Selbstverständnis der Kirche in einer sich umgestaltenden Gesellschaft, um die Vermittlung des Glaubens angesichts von naturwissenschaftlicher Weltanschauung, technischem Fortschrittsoptimismus, Individualisierung und Säkularisierung und immer wieder auch um die konkreten Inhalte des Bekennens.

Anstoß erregte besonders der dritte Artikel des Apostolikums: "Ich glaube an die heilige christliche Kirche." In ihm sahen liberale Theologen einen Ausdruck des Frühkatholizismus. Hier werde die "Heilsanstalt Kirche" zur Vermittlerin des Heils zwischen Gott und Menschen gemacht und der Heilige Geist der kirchlichen Hierarchie untergeordnet. Aber auch die christologischen und trinitarischen Aussagen stießen auf Kritik. Jungfrauengeburt, Auferstehung und Himmelfahrt seien Dogmen, die der modernen Weltanschauung widersprächen und historisch geschulten Zeitgenossen nicht mehr zugemutet werden könnten. Sie gehörten ins "supranaturalistische Weltbild" der Antike, das durch eine "abnorme Sinnlichkeit" geprägt gewesen sei. So widerspreche der Satz von der Höllenfahrt Christi "der ganzen kopernikanischen Weltanschauung, allen Errungenschaften der Naturwissenschaft, der Philosophie und dem gesunden Menschenverstand" diametral.

Nebst einem Zuviel gebe es im Credo auch ein Zuwenig. Die Kritiker vermissten gerade das, was zum Wesen des Protestantismus gehört. Weder von der Rechtfertigung allein aus Glauben sei die Rede noch von der Schrift als einziger Richtschnur des Glaubens. Auch fehlten jeder Hinweis auf das Leben und die Verkündigung Jesu, die Botschaft der Bergpredigt und der Gleichnisse und das Spezifische evangelischer Ethik und Anthropologie.

Kritiker und Verteidiger des Bekenntnisses sammelten sich in Vereinen und Parteien innerhalb der evangelisch-reformierten Kirchen der Schweiz. Die theologischen Richtungen gaben sich so eine feste Struktur und verbreiteten ihre Ansichten durch eigene Publikationsorgane mit großer Breitenwirkuung.

Im Geiste des Fortschritts

Äußerst kämpferisch traten dabei die "Reformer" oder "Freisinnigen" auf. Sie strebten nichts weniger an als eine neue Reformation im Geiste des Fortschritts und der Freiheit von allem Gewissenszwang. Ihr erklärtes Ziel war es, "die Gotteserkenntnis der neuern Zeit zur allgemeinen Geltung zu bringen. Nicht nur im Interesse des Friedens, sondern auch im Interesse der lebendigen Religion des Herzens haben wir unseren Feldzug gegen die dogmatische Feststellung der Religion eröffnet und werden ihn fortführen, bis der Koloss von seinem tönernen Fußgestell herabstürzt." So fasste 1866 der Solothurner Pfarrer Friedrich Hemmann den Angriff gegen Bekenntnisse und Dogmen in einer Artikelreihe unter dem Titel "Keine Dogmatik mehr!" zusammen.

Große Zustimmung fanden die Reformer auch unter aufgeklärten Laien, insbesondere historisch-kritisch ausgebildeten Lehrern. Über einen von ihnen, Joseph Rüfli aus Langenthal, schüttete 1872 die konservative Zeitung "Der Kirchenfreund" ihren Spott aus: "Das neue Licht fuhr mit Ungestüm in den Kopf eines talentvollen Sekundarlehrers, welchem freilich die Mathematik besser kund ist, als die religiösen Fragen. Mit der ganzen selbstbewussten Oberflächlichkeit des theologischen Dilettantismus [...] versteht Herr Rüfli Probleme übers Knie zu brechen, welche der Denker seit Jahrtausenden stehen lässt."

Den Reformern standen die "Positiven" gegenüber, für die das Kirchesein der Kirche in Gefahr stand. Und sie sahen sich immer mehr in die Defensive getrieben. "Unsere Kirche soll nicht mehr erklären, lehren und bekennen dürfen, dass sie eine bestimmte und gewisse Wahrheit hat. Damit wäre unsere Landeskirche auf die unzweideutigste Weise ihres christlichen Charakters entledigt", erklärten bekenntnistreue Basler Pfarrer 1871.

Zwischen den beiden Extrempositionen suchten die Vermittlungstheologen einen Mittelweg. Ihr oberstes Anliegen war die kirchliche Einheit, für die man sich gerne zu Konzessionen in Glaubensdingen bereit erklärte. Das Bekenntnis war für die Vermittler weniger ein verbindlicher Text für die Gegenwart als vielmehr ein altehrwürdiges Denkmal der Vergangenheit, dem man bloß noch historischen Respekt schuldete.

Mit den Richtungskämpfen verband sich auch nationales Pathos. Die "demokratische Schweiz" wurde selbstbewusst dem "starren Luthertum" Deutschlands gegenübergestellt. So schrieb 1864 der Zürcher Reformtheologe Friedrich Salomon Vögelin: "Dass wir ein freies Volk seien - das ist unser Stolz und unser Ruhm. Auch für die religiöse Freiheit soll unser Vaterland ein Mittelpunkt, eine geistige, und wenn nötig auch äußerliche Zuflucht werden."

Die Verankerung der Glaubens- und Gewissensfreiheit in der revidierten Schweizer Bundesverfassung von 1872 wurde innerkirchlich im Sinne der "Unantastbarkeit der persönlichen und religiösen Überzeugungen durch irgendeine menschliche Autorität" als totale "Bekenntnis- und Lehrfreiheit" interpretiert. "Was wir glauben sollen und wollen, darüber hat jeder von uns selbst zu entscheiden, darüber lassen wir uns nichts vorschreiben", erklärte der Oberaargauer Reformverein 1871.

Und die seit jeher basisdemokratisch orientierten reformierten Kirchen entdeckten die Ortsgemeinde als eigentliche theologische Entscheidungsinstanz. Glaubensfragen wurden immer mehr in die Kompetenz der einzelnen Gemeinden und ihrer Pfarrer gelegt. So hatten sich alle Berner Kirchgemeinden in einer großangelegten Umfrage zum Gebrauch der Liturgie und des Bekenntnisses zu äußern. Und darauf entschied die Leitung der Landeskirche, der Synodalrat, dass ein Obligatorium nicht mehr zeitgemäß sei.

Mit den Forderungen nach individueller und gemeindlicher Freiheit verband sich im schweizerischen Protestantismus eine deutlich antikatholische Stimmung. Reformiert sein hieß vor allem nicht katholisch sein. Der Pfarrer an St. Peter in Zürich, Heinrich Lang, verspottete unter dem Titel "Papst und Päpstlein" seine bekenntnistreuen Kollegen. Wo sich Pfarrer "intolerant und verfolgungssüchtig" gebärdeten, als seien sie kleine Päpste, werde der Protestantismus in seinem Kern verleugnet.

Galt schon das Festhalten an einem verbindlichen Bekenntnis als katholisch, so wurden speziell die Aussagen, die das Apostolikum zur Kirche macht, als unreformiert empfunden. Schon im Jahre 1828 benannte das St. Galler Pfarrkapitel Kriterien, nach denen ein wahrhaft protestantisches Bekenntnis neu zu formulieren sei: Der "wirksame und praktische Glauben" sowie "das Verhältnis Gottes zu den Menschen, dessen hohe Bedeutung, Vervollkommnung und Unsterblichkeit" müssten im Zentrum eines zeitgemäßen Bekenntnisses stehen.

Nach diesen Grundsätzen entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl neuer, kirchlicher und persönlicher Glaubensbekenntnisse. Denn auch den Liberalen war klar, dass Bekenntnisfreiheit nicht mit Bekenntnislosigkeit gleichzusetzen ist. So wurden in allen theologischen Lagern aktuelle Bekenntnisse verfasst, die in gut reformierter Tradition den Geist der Zeit spiegelten. Die meisten folgten aber dem trinitarischen Aufbau des Apostolikums und übernahmen manche Passagen sogar wörtlich. Die Bindung an die Tradition war eben auch bei deren Kritikern groß. Während anstößige Stellen gestrichen wurden, nahmen die empfundenen Leerstellen im Credo, die Rechtfertigungslehre und besonders die ethische Botschaft Jesu, einen wichtigen Platz ein.

Die meisten kantonalkirchlichen Liturgien ersetzten das Apostolikum allmählich durch neuere Bekenntnisse oder leiteten es durch unverbindlichere, historisierende Formeln ein. Subtile Änderungen machten aus dem Bekennen ein bloß historisches Erinnern. Man sagte nicht mehr: "Bekennet mit mir den christlichen Glauben", sondern: "Vernehmet die Worte, mit denen seit altersher die christlichen Kirche ihren Glauben bekannt hat."

Ein Kuriosum und Unikum der Schweizer Kirchengeschichte stellte die Entwicklung im Kanton Thurgau dar. Die Synode hatte eine Liturgie verabschiedet, in der das Apostolikum durch ein neues Bekenntnis ersetzt wurde. Und dies wurde als obligatorisch für alle Gemeinden erklärt. Somit war es verboten, das altkirchliche Bekenntnis weiterhin im Gottesdienst zu verlesen. Und das führte ab 1874 zu einer Zerreißprobe für die Kantonalkirche. Die Bekenntnistreuen warfen nun den Reformern Gewissenszwang und Intoleranz vor, trennten sich von der Landeskirche und gründeten die Freie Evangelische Gemeinde in Emmishofen bei Konstanz. Ihr gehörte auch der spätere Luftschiffbauer Ferdinand Graf von Zeppelin an, der in Emmishofen aufwuchs.

Die Abschaffung der Bekenntnispflicht war eine logische Konsequenz der Individualisierung. Nicht das Bekennen an sich wurde abgeschafft, wohl aber die gemeinsamen und verbindlichen Formeln. Der liberale Berner Theologe Ernst Friedrich Langhans brachte es auf den Punkt, wenn er meinte, "dass es in unseren Kirchen gerade so viele Glaubensbekenntnisse gibt, als es denkende Köpfe und aufrichtig religiöse Herzen gibt".

Das liberale Erbe des 19. Jahrhunderts prägte die Schweizer Kirchen in der Folgezeit. Aber während des deutschen Kirchenkampfes und als Reaktion auf die Barmer Bekenntnissynode von 1934 forderten Theologen aus dem Umfeld Karl Barths, auch die Schweizer Kirchen müssten wieder bekennende Kirchen werden. In seiner Kirchenkunde des Kantons Zürich von 1954 betonte Gotthard Schmid dagegen, dass Bekenntnisfreiheit nicht Freiheit vom, sondern stets Freiheit im Bekenntnis sei.

Eine eigentliche Rückkehr zu den Fragestellungen und ungelösten Problemen des 19. Jahrhunderts trat erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts ein. Einerseits wurde im ökumenischen Dialog deutlich, wie nötig es für eine Kirche ist, ihre Glaubensgrundlagen präzise zu formulieren und nach außen zu vertreten. Andererseits forderten der weltanschauliche Pluralismus und die religiöse Individualisierung die Kirchen heraus, ihr Profil klarer zu akzentuieren und den Glauben nach innen wie nach außen darzulegen.

Anders als das Gesangbuch der Evangelisch-Reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz von 1952, in dem ein expliziter Bekenntnisteil fehlt, wurden ins Gesangbuch von 1998 eine ganze Reihe altkirchlicher, reformatorischer und moderner Bekenntnistexte und -lieder aufgenommen. Und bei Revisionen von Kirchenverfassungen wurde in neuester Zeit bekenntishaften Präambeln große Aufmerksamkeit geschenkt. Das zeigt zum Beispiel die Revision der Kirchenordnung der aargauischen Landeskirche von 2010. Und in der Zürcher Landeskirche lief ab 1998 ein "Projekt Bekenntnis" mit dem Ziel, dem liturgischen Bekennen im Gottesdienst einen neuen Stellenwert zu verschaffen. Einerseits sollte das Apostolikum wieder vermehrt in den Gottesdienst integriert werden, andererseits wurden die Gemeinden ermutigt, durch moderne Paraphrasen des Credos dem Glauben eine neue Sprache zu verleihen. Und auf gesamtschweizerischer Ebene wurde auf das Calvinjahr 2009 hin ein Werkbuch mit Bekenntnissen herausgegeben, um in den Gemeinden den Prozess des Bekennens neu in Gang zu bringen. Der Wunsch nach einem einheitlichen, verbindenden Bekenntnis ist bisher zwar nicht erfüllt worden, aber das Gespräch über Glaubensfragen hat neue Impulse erhalten. Denn Freiheit im Bekenntnis will geübt sein, und das aktuelle Bekennen ist für jede Generation eine neue Herausforderung.

Literatur

Rudolf Gebhard: Umstrittene Bekenntnisfreiheit. Der Apostolikumstreit in den Reformierten Kirchen der Deutschschweiz im 19. Jahrhundert. Theologischer Verlag, Zürich 2001, 564 Seiten, Euro 36,-.

Reformierte Bekenntnisse. Ein Werkbuch. Theologischer Verlag, Zürich 2009, 172 Seiten, Euro 16,80.

Rudolf Gebhard

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