Der Gott der feldgrauen Männer

zeitzeichen-Serie (II): Die evangelische Theologie und der Erste Weltkrieg
Heinrich Vogeler: "Das Leiden im Kriege", 1916. Foto: akg-images
Heinrich Vogeler: "Das Leiden im Kriege", 1916. Foto: akg-images
Evangelische Theologen bildeten hinsichtlich ihrer Kriegsbegeisterung keine Ausnahme unter den deutschen Intellektuellen. Doch jene wich im Laufe des Krieges zunehmend einer Rückbesinnung auf die Botschaft Jesu Christi - so Sebastian Kranich, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Systematische Theologie der Universität Heidelberg, im zweiten Teil unserer Reihe "Theologie im Zwanzigsten Jahrhundert".

Im August 1914 kannte der Kaiser keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche. Diese verabschiedeten ihre Soldaten in einem Blumenmeer und schenkten ihnen so viel Schokolade, dass das Rote Kreuz um die Gesundheit der Männer fürchtete. Selbst in Berliner Hinterhöfen hing die Nationalflagge. Der Theologe Karl Barth meinte: In Deutschland seien "Vaterlandsliebe, Kriegslust und christlicher Glaube in ein hoffnungsloses Durcheinander" geraten. Bis hin zur Zeitschrift "Christliche Welt" des linksliberalen Politikers und Theologen Martin Rade beobachtete er eine uniforme "Kriegstheologie".

Doch war die Begeisterung für den Krieg wirklich so groß? Lagen Theologie und Predigt tatsächlich auf einer Linie? Der Leipziger Pfarrer Georg Liebster etwa berichtete zunächst nur über vereinzelte kriegsbegeisterte junge Männer. Bei der Mobilmachung konstatierte er tiefe Erschütterung und trübste Stimmung. Erst nach den ersten deutschen Siegen heißt es bei ihm: "Sogar die Mahnung zur Milde und Menschlichkeit wird einem beinahe übel genommen. Jedes Verständnis für Jesus, für Demut, Feindesliebe ist im religiösen Kriegsfuror erloschen."

Widersprüchliches Bild

Dieses widersprüchliche Bild wird durch die Forschung der letzten Jahre bestätigt: Auf Extrablätter wartende Menschenmengen, spontane patriotische Kundgebungen von Studenten und wohlhabenden Bürgern, große Antikriegsdemonstrationen sozialdemokratischer Arbeiter, panische Massenaufläufe vor Lebensmittelgeschäften und Banken in den Grenzgebieten - all das war Ausdruck einer emotionalen Hochspannung. Mit der Kriegserklärung, mehr noch mit den ersten Siegen, entlud sich diese Spannung in einem Gemeinschaftsgefühl, das auch den Gegner umfassen konnte: Um die ersten französischen Kriegsgefangenen mit Blumen und "Liebesgaben" zu empfangen, drängten tausende Frauen auf die Bahnhöfe.

Für Heeresführung und konservative Presse war das unerträglich. Arbeiteten sie doch an einem eindeutigen Propagandamythos, dem "Geist von 1914". Dabei kamen ihnen Intellektuelle zu Hilfe, die ihr subjektives Gemeinschaftserleben als Einheitserlebnis des Volkes deuteten und zu einem wirksamen Narrativ kollektiver Identität machten. Zu ihnen gehörte auch der Theologe und Philosoph Ernst Troeltsch, der 1915 behauptete: "Unter diesem ungeheuren Druck schmolz das deutsche Leben zu jener unbeschreiblichen Einheit des Opfers, der Brüderlichkeit, des Glaubens und der Siegesgewißheit zusammen, die das gewaltige Erlebnis jenes unvergeßlichen August war und es noch bis heute ist."

Herd und Scholle

Parallel zum Geschehen auf den Schlachtfeldern tobte ein Kultur- und Geisteskrieg zwischen den klugen Köpfen der kriegführenden Nationen. Den Auftakt dazu bildete von deutscher Seite der von 93 Gelehrten unterzeichnete "Aufruf an die Kulturwelt": "Glaubt, daß wir diesen Kampf zu Ende kämpfen werden als ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven, eines Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle" - so endete dieser Appell, der den Militarismus bejahte und Deutschland in einem berechtigten Verteidigungskrieg wähnte. Letzteres war subjektiv meist ehrlich gemeint. Adolf von Harnack, zu dieser Zeit Generaldirektor der Königlichen Bibliothek, etwa empfand Englands Kriegseintritt als Verrat an der gemeinsamen Kultur. Britische Intellektuelle wiederum wollten Deutschland von Obrigkeitsstaat, Militarismus und Denkern wie Nietzsche oder Treitschke befreien.

In geistigen Dimensionen modellierte auch Leonhard Ragaz in Zürich den Krieg. Der religiöse Sozialist beschrieb einen welthistorischen Kampf zwischen konservativ-patriarchalisch-nationalistischem Luther- und demokratischen Reformiertentum. Ragaz' Landsmann Karl Barth kam ihm darin nahe. In Bezug auf das Marburger Religionsgespräch von 1529 äußerte er: "Noch nie ist mir so klar gewesen wie jetzt, wie Recht Luther hatte, als er unserem Zwingli das Wort vom 'andern Geist' sagte." Die Deutschen, so Barth weiter, zögen Gott in diesen Krieg hinein, als ob sie sich "mitsamt ihren großen Kanonen als seine Mandatare fühlen dürften". Für Barth offenbarte der Krieg die Bosheit der menschlichen Natur. Die Schweiz hingegen müsse ein Gleichnis des Reiches Gottes sein und mit ihrer Neutralität das Evangelium predigen. Ein anderes Gleichnis dieses Reiches stellte für Barth die sozialistische Bewegung dar: Gott sei "einseitig ein Gott der Niedrigen", heißt es in seinem 1919 erschienenen Römerbriefkommentar, den er ab 1916 niedergeschrieben hatte.

"Bankrott der Christenheit"

Doch verstellen diese geistig-kulturellen Grabenkämpfe nach außen den Blick auf innere Differenzen. Die "Vereinigung von Potsdam und Bethlehem" (Friedrich Naumann) konnte in Deutschland nur scheinbar gelingen. Schon vor dem Krieg gab es unterschiedliche Positionen zu Frieden und Krieg. Immerhin 395 Theologen unterzeichneten 1913 einen Aufruf "Für den Völkerfrieden", wobei fast ein Drittel aus Elsaß-Lothringen stammte. Der Verfasser des Aufrufs, Walter Nithack-Stahn, hielt unermüdlich Vorträge. Wenige Tage nach Einweihung des Völkerschlachtdenkmals sprach der Berliner Pfarrer auch im Saal der Alten Handelsbörse in Leipzig. Hier bezeichnete er den Krieg als "Barbarei" und wünschte, das neue Denkmal möge "das Grabmal des Dämons des Krieges" werden. Als bei Kriegsbeginn auf Anordnung um den Sieg der deutschen Waffen gebetet wurde, weigerte sich der Leipziger Pfarrer Georg Liebster, bei diesem "Schlag gegen die Jesusreligion" mitzutun. Seinen Freunden in der "Sächsischen Evangelisch-Sozialen Vereinigung" schrieb er: "Der Streit der Menschen darf nicht ins Heiligtum getragen werden. Ich stehe betend vor Gott. Neben mir steht betend ein Franzose. Ich wüsste gar nicht, wie ich es fertig bringen sollte, in dessen Gegenwart, Gott um den Sieg zu bitten."

Solche Selbstbehauptungen der christlich-religiösen Sphäre fanden freilich wenig Beifall, liefen sie doch der herrschenden Kriegslogik zuwider. Auch Rade, wie Liebster Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft, musste das erfahren. Als er im September 1914 den Krieg als "Bankrott der Christenheit" beurteilte, da der Glaube in den Dienst nationaler Interessen gestellt würde, erhob sich unter den Lesern der "Christlichen Welt" heftiger Widerspruch. Über sechshundert kündigten ihre Abonnements. Zu den Kritikern Rades gehörte auch Troeltsch. Dieser konstatierte allerdings bereits im Juni 1915 ebenfalls ein Versagen der Kirchen: Sie hätten - gegen Realpolitiker und Kriegsphilosophen - am Gebot der Feindesliebe festhalten und sagen müssen, dass von der Welt des Glaubens eine Kraft der Versöhnung in die irdische Welt ausgeht.

Kriegsspiele im Jünglingsbund

Die Wurzeln für das Versagen von Kirchen und Christenheit sind indes schon vor Kriegsausbruch zu suchen. War doch die Friedens- und Verständigungsbewegung vergleichsweise schwach gegenüber militaristischen und nationalistischen Orientierungen. So beförderte die evangelische Jugendarbeit eine staatstreue und kämpferische Gesinnung. Durchaus typisch waren groß angelegte Kriegsspiele, wie sie zum Beispiel der Westdeutsche Jünglingsbund 1910 mit sechstausend "künftigen Vaterlandsverteidigern" unter "tatkräftiger Unterstützung seitens der Militärbehörden" durchführte. Eine "blaue Armee" bei Ratingen hatte die Aufgabe, die Rheinüberquerung einer von Düsseldorf-Derendorf kommenden "roten Armee" zu verhindern. Das Bundesblatt berichtete weiter: "Mit jauchzendem Hurra stürmten die Armeen gegeneinander, sich gegenseitig mit Pfeilen überschüttend." Etwas von dieser Stimmung, gemischt mit verdrängender Begeisterung, prägte auch die ersten Militärtransporte. Ein Geistlicher notierte: "Die Leute reden vom Krieg, als ginge es ins Manöver." Die Ernüchterung folgte oft rasch. Unter dem Eindruck eines Verwundetentransports hielt ein Soldat fest: "Nachdem sich unser Zug wieder in Bewegung setzte, hörte man kein Lied mehr singen."

Mental vorbereitet auf den Krieg waren auch die Mitglieder des elitären christlich-akademischen Schwarzburgbundes, in dem das Ideal des kriegerischen und ethisch verantwortungsvollen Mannes gepflegt wurde. Der spätere Lutherforscher Paul Althaus fand hier "Strammheit und Jugendkraft", eine "Gemeinschaft echter Art" sowie Bereitschaft zum Selbstopfer für Volk und Vaterland. Der Kriegsalltag, den Althaus als Feldprediger in Lodz erlebte, widersprach dann zwar seinem ethisch fundierten Männerideal. Dennoch hielt er an diesem Ideal fest. Ja, er übertrug es auf einen "Gott der feldgrauen Männer", der Ausgangspunkt seiner theologischen Theoriebildung und theozentrischen Predigt wurde: Demnach lenkt ein souveräner und majestätischer Machtgott als gewaltiger Herr der Geschichte die Geschicke von Menschen und Völkern. Dem Einzelnen begegnet er als Richter, der die Hingabe an seinen Kriegswillen fordert. Auch Jesus zeichnet für Althaus der "Wille zur Macht aus". Nur ist dessen Mittel - die bezwingende Liebe - ein anderes. Von diesem Gott für furchtlose Helden, die sich mit "Mannhaftigkeit" zu dessen Gabe - dem "deutschen Volkstum" - bekennen, führt eine Linie zur Lehre vom Volk als Schöpfungsordnung, die der Erlanger Professor im Widerspruch zur dialektisch-theologischen Christozentrik entwarf.

Bis der Sieg entscheidet

Doch stand Althaus als Feldprediger in Lodz erst am Anfang seiner Karriere und hatte als Vordenker der deutsch-völkischen Bewegung und Verfechter eines Siegfriedens nur regionalen Einfluss. Politisch weit einflussreicher war der Berliner modern-positive Theologe Reinhold Seeberg als Wortführer der intellektuellen Annexionisten. Die im Streit um die Kriegsziele 1915 von 1347 Repräsentanten des öffentlichen Lebens unterzeichnete "Seeberg-Adresse" für eine aggressivere Kriegszielpolitik machte ihn international bekannt. Seeberg, der eng mit den Verbänden der deutschen Schwerindustrie kooperierte, vertrat eine völkisch zugespitzte Sozialethik. Aus einer angeblich letztlich im Luthertum gegründeten kulturellen Überlegenheit des Deutschtums leitete er das Recht und die Pflicht geistiger wie territorialer Expansion ab. Geist war für ihn primär Wille, da aus bloßer Erkenntnis keine Taten folgen. Begriffe wie "absoluter Geistwille" bilden die Basis seiner Weltanschauung und Dogmatik. Ein antiaufklärerischer Affekt und dynamistischer Zug durchzieht seine Schriften.

Völkisch bis zur Häresie dachte der Theologe Gottfried Traub. Für ihn entsprang aus dem Tod des Soldaten die Auferstehung des Volkes, in dessen Fortdauer es ewiges Leben gäbe. Nächstenliebe sei auf die Angehörigen des eigenen Volkes zu beschränken. Als Benedikt XV. 1917 in einem Friedensappell u. a. die gegenseitige Rückgabe aller besetzten Gebiete vorschlug, schrieb Traub: "Wir gehen nicht nach Rom und nicht nach Stockholm, wir gehen nach Friedrichsruh und auf die Wartburg. Hier holen wir uns die innere Ruhe und Sicherheit und warten mit unserem Kanzler Michaelis, bis der Sieg der deutschen Waffen zu Wasser und zu Land sich voll entscheidet."

Während Traub, Seeberg und Althaus weit über den Krieg hinaus für den deutschnationalen Weg des Mehrheitsprotestantismus standen, griff der Kieler Praktische Theologe Otto Baumgarten den alldeutschen Chauvinismus 1918 als antichristlich an, da "die selbstgefällige, trotzige Verleugnung alles Interesses an der Menschheit, alles Mitleidens unter dem Jammer der Feinde, alles Glaubens an die Möglichkeit der Liebe und Freundschaft der Gegner mit der Grundgesinnung eines Jüngers Jesu unvereinbar ist."

Wandlungen erlebt

Wie Harnack und Troeltsch hatte Baumgarten im Laufe des Krieges eine Wandlung erlebt. Waren die sozialliberalen Protestanten bereits 1915 für eine gemäßigte Kriegszielpolitik eingetreten, so konzentrierten sie sich zunehmend auf innere und demokratische Reformen. Max Weber konstatierte, "'geistreiche Personen'" hätten die "'Ideen von 1914' erfunden". Doch: "Entscheidend werden die Ideen von 1917 sein, wenn der Frieden kommt." Harnack meinte in zwei Denkschriften an den Reichskanzler, die größte Aufgabe sei nicht die Beendigung des Kriegs, sondern die Bewältigung der Nachkriegssituation. Er verlangte daher eine Wahlrechtsänderung, volle Religionsfreiheit, das Koalitionsrecht für Gewerkschaften und prinzipiell eine Ergänzung der deutschen Politik und Kultur mit westeuropäischen Ideen. Nur so könne das deutsche Volk zu "dem in Gott gegründeten Idealismus" durchdringen.

Troeltsch forderte in seiner Kaisergeburtstagsrede 1916 Verantwortung für eine Nachkriegsordnung und suchte in der Geschichte nach Wertmaßstäben für die Zukunft. Seine "Kultursynthese des Europäismus" basiert auf einem gemeinsamen Bestand kultureller Normen, die sich aus hebräischem Prophetismus, klassischem Griechentum, antikem Imperialismus und abendländischem Mittelalter speisen. Auf diese Weise und im Kontrast zum Antihistorismus wollte Troeltsch eine Friedensordnung geschichtsphilosophisch fundieren.

Als der Frieden 1918 wirklich kam, predigte Liebster in Leipzig: "Der stolze Bau des neuen deutschen Kaisertums ist zusammengebrochen wie ein Kartenhaus. Es ist nichts mehr davon vorhanden als die leeren Paläste, auf denen die rote Fahne weht." In dieser unerwarteten Lage gelang es den reformorientierten Protestanten, sich auf den Boden der Republik zu stellen: Rade und Troeltsch saßen 1919 für die linksliberale Deutschen Demokratischen Partei in der Preußischen Landesversammlung. Troeltsch wurde zudem Unterstaatssekretär im Preußischen Kultusministerium. Harnack war als Reichskommissar für Kirchen- und Schulfragen an der Weimarer Nationalversammlung beteiligt. 1927 schrieb er an Rade: "Mehr und mehr sehe ich auch ein, daß den Frieden zu stützen, zu halten, zu verbreiten zu unsern höchsten Aufgaben gehört. 'Collaboratores dei' heißt heute auf allen Gebieten den Frieden zu sichern und zu pflegen."

Theologie des 20. Jahrhunderts (I): Die "liberale Theologie"

Sebastian Kranich

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