Theologin am Ort des Terrors

Warum es wichtig ist, kirchliche Erinnerungsorte zu beleben
Eingang zum Dokumentationszentrum "Topographie des Terrors" in Berlin. Foto: Angelika Hornig
Eingang zum Dokumentationszentrum "Topographie des Terrors" in Berlin. Foto: Angelika Hornig
Marion Gardei arbeitet als Pfarrerin und als Erinnerungsarbeiterin. In der "Topographie des Terrors" in Berlin bietet die Theologin Seminare und Führungen zum Thema "Kirche im Dritten Reich" an.

Eigentlich arbeitet Marion Gardei als evangelische Pfarrerin in der Berliner Kirchengemeinde Dahlem. Doch das ist nur ein Teil ihrer Arbeit. Die Theologin ist mindestens zweierlei: Pfarrerin sowie pädagogische Mitarbeiterin in der "Topographie des Terrors" in Berlin. Seit eineinhalb Jahren verbringt sie die eine Hälfte ihrer Arbeitszeit in Dahlem, die andere im Dokumentationszentrum der "Topographie". Ein ungewöhnlicher Arbeitsplatz für eine evangelische Pfarrerin und eine schauerliche Adresse: die ehemalige Prinz-Albrecht-Straße 8, vormals Anschrift der Gestapo.

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Die 55-Jährige sitzt in dem kleinen Café im Foyer der "Topographie", schwarzer Anzug, blaue Bluse, Perlenkette, vor sich auf dem Tisch Handy und Generalschlüssel. Der wird ihr gleich alle Türen öffnen, wenn ihre angemeldete Besuchergruppe erscheint. Gemeinsam mit einem Kollegen wird sie die Dauerausstellung begleiten und erläutern: "Topographie des Terrors", das heißt es geht um all die Örtlichkeiten, wo die Schreckensinstitutionen des "Dritten Reichs" saßen - "Gestapo, SS und das Reichssicherheitshauptamt in der Wilhelm- und Prinz-Albrecht-Straße". Denn hier auf dem Gelände der "Topographie" befanden sich zwischen 1933 und 1945 die Zentralen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft: die Geheime Staatspolizei mit eigenem Hausgefängnis, die Reichsführung SS mit ihrem Sicherheitsdienst sowie ab 1939 das Reichssicherheitshauptamt. In diesem Hausgefängnis haben auch prominente Kirchenhäftlinge wie Paul Gerhard Braune, Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer eingesessen und gelitten.

Foto: Angelika Hornig
Foto: Angelika Hornig

Mehr als 800.000 Menschen besuchen jährlich die "Topographie des Terrors" in Berlin.

Und hier an diesem kirchlichen Erinnerungsort setzt Marion Gardeis Arbeit an: Sie entwickelt kirchliche Bildungs- und Lernprogramme, organisiert Vorträge, Führungen und Buchvorstellungen - alles unter dem Thema "Kirche im Dritten Reich. Zwischen Anpassung, Widerstand und Verfolgung". Allein vier Seminare bieten sie und andere Mitarbeiter kostenlos für Lehrer oder Pfarrer, für Oberstufenkurse im Fach Religion oder Geschichte an, aber auch für Gruppen der jungen Gemeinde oder Konfirmanden - etwa "Christlicher Widerstand", "Martin Niemöller und die Bekennende Kirche" oder auch über die Diakonie im Nationalsozialismus.

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Heute begleitet sie zwölf Senioren einer Berliner Kirchengemeinde, die sich mittlerweile im Seminarraum drei versammelt haben. "Wie wichtig sind Ihnen Erinnerungen?", fragt Marion Gardei gleich zu Beginn. Eine rhetorische Frage, denn sie fährt fort: Menschen müssen sich erinnern. Ohne das Zurückgreifen auf die eigenen und die gemeinsame Geschichte verliere der Mensch seine Individualität und sei nicht lebensfähig. Sie erläutert, was "Erinnerung" aus wissenschaftlicher Sicht ist und warum es einen Unterschied macht, ob man ein Buch aufschlägt und sich über das Lesen Geschichte aneignet oder ob man mit Zeitzeugen spricht.

Marion Gardei, Jahrgang 1957 und unüberhörbar Berlinerin, ist seit 25 Jahren Pfarrerin. Doch scheint es ihr wichtig zu sein, hier nicht in erster Linie als Pfarrerin wahrgenommen zu werden, sondern als kirchliche Erinnerungsarbeiterin und Christin. Die Zeitzeugen, die das "Dritte Reich" überlebt haben, sterben aus. Was bleibt, sind Erinnerungsorte wie eben diese hier auf dem Gelände der "Topographie des Terrors". Sie waren Synonyme für Bespitzelung, Verhöre und Folter. Von hier aus wurden Terror und Mord gegen Juden, Sinti und Roma und Andersdenkende systematisch geplant.

Foto: Angelika Hornig
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Dokumente und Karten dokumentieren die NS-Schreckensherrschaft. Die "Topographie" ist eine stille Welt.

Foto: Angelika Hornig
Foto: Angelika Hornig

Am Ort der Täter werden auch die verschiedenen Opfergruppen in den Blick genommen.

Allein in Berlin, der damaligen Reichshauptstadt, verfügt die evangelische Kirche über zahlreiche solcher erinnerungsträchtigen Orte und Räume. Der Theologin liegt es am Herzen, dass ihre Kirche an die Verbrechen des NS-Staates erinnert: Die Opfer dürfen nicht dem Vergessen Preis gegeben werden, eigenes Versagen, die eigenen schuldhaften Verstrickungen dürfen nicht unterschlagen werden. Warum? Um daraus für die Zukunft zu lernen. Daran, dass das möglich ist, hält sie fest. Wie bei jedem Seminar und jeder Führung stellt sie ihre Idee der kirchlichen Erinnerungsarbeit vor. Bevor es hinauf in die Dauerausstellung geht, verteilt sie die kirchlichen Seminarangebote und wirbt für die kommenden Veranstaltungen im Frühjahr.

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Es folgt das Dokumentationszentrum. Ein moderner Flachdachbau aus Stahlbeton, im Kontrast zum denkmalgeschützten Martin-Gropius-Bau mit seinem säulengeschmückten Portal und schräg gegenüber dem Abgeordnetenhaus von Berlin im früheren Preußischen Landtag. Vom Foyer aus schauen die Besucher auf die Reste der Berliner Mauer und das ehemalige Reichsluftfahrtministerium, auf der anderen Seite in die Wilhelmstraße und in das so genannte Robinienwäldchen. Ein Zweckbau, der sich dem historischen Ort unterordnet. Aus dem unteren Stockwerk mit seinen Seminar-, Konferenz- und Leseräumen sowie einer große Präsenzbibliothek für das pädagogische Bildungsprogramm, steigen die Besucher nun ein in die Dauerausstellung.

Foto: Angelika Hornig
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Fotos und Einzelschicksale lassen Geschichte lebendig werden.

Foto: Angelika Hornig
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Marion Gardei bietet bei jeder kirchlichen Führung und jedem Seminar eine kurze Information zur Erinnerungsarbeit.

Transparent, sachlich, klar, frei von theatralischen Inszenierungen. Texttafeln, Fotos von Befehlen und Gesetzen, Dokumente und Karten dokumentieren die NS-Schreckensherrschaft. Die "Topographie" ist eine stille Welt. An den EDV-Stationen und vor den Ausstellungstafeln stehen lautlose Besucher. Versunken lesen, hören sie und versuchen zu begreifen. Informationstafeln zeigen die Außen- und Innenräume des NS-Staates: die Befehlsstuben der Verfolgung und Vernichtung, die Opfergruppen, den Widerstand.

Leise führt ein junger pädagogischer Mitarbeiter gemeinsam mit Marion Gardei die Gruppe durch die Dauerausstellung zum Thema "Kirche im Dritten Reich". Die Besucher hören von fast 100 Prozent Kirchenmitgliedschaft in der NS-Zeit, von der Entwicklung einer nationalen Kirche, sowie von Entchristianisierungsversuchen der Nazis, von den Kirchenwahlen 1933 und den "Deutschen Christen" und davon, warum der "Arierparagraph" ein Synodalbeschluss war. Die Zuhörer erfahren von den "Ariernachweisen", deren Grundlage die Kirchenbücher waren. Und von der schleichenden Veränderung des Menschenbildes durch die Nazis, das in die Euthanasie führte.

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Zwei Stunden vergehen im Flug. Heute bleibt keine Zeit mehr für die Arbeit an Originaldokumenten, an Quellen oder für die Analyse von Bildern. Heute ist Marion Gardeis Moderationsgeschick nicht gefragt. Es ist schon spät, langsam wird es dunkel, die Besucher drängen.

Wie wird eine Pfarrerin der berlin-brandenburgischen Landeskirche Mitarbeiterin eines Dokumentationszentrums? Einen kirchlichen Erinnerungsort birgt auch Marion Gardeis Dahlemer Gemeinde. In ihrem Gemeindehaus tagte 1934 die Dahlemer Bekenntnissynode. Und im ehemaligen Pfarrhaus, im Arbeitszimmer von Martin Niemöller an der Pacelliallee, bietet sie seit 2007 gemeinsam mit einem Team aus Ehrenamtlichen Bildungsarbeit für Alt und Jung an, für Menschen, die mehr über die Bekennende Kirche erfahren wollen. Dort erinnert die Gemeinde an den kirchlichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus und an das Engagement der Dahlemer Mitglieder der Bekennenden Kirche.

Foto: Angelika Hornig
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Im Außenbereich informiert eine Dokumentation über die Rolle Berlins als Hauptstadt des "Dritten Reichs".

Foto: Angelika Hornig
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Informationstafeln zeigen die Außen- und Innenräume des NS-Staates.

Foto: Angelika Hornig
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Vorträge, Ausstellungen und Buchvorstellungen organisieren: Die Arbeit von Marion Gardei ist vielfältig.

Als die "Topographie des Terrors" 2010 ihr Dokumentationszentrum eröffnete und nach Bündnispartnern für neue Bildungsarbeit suchte, lag es nah, die erfahrene Theologin für die Mitarbeit zu gewinnen. Sie hatte schon pädagogische Erfahrungen mit dem Thema "Kirche und Widerstand" gesammelt. Ihr war längst klar: Wenn eine Geschichte vergeht, wird sie historisch. Und damit steigt die Gefahr, dass sie zu irgendeinem historischen Faktum wird, im großen Einerlei des historischen Lernpensums untergeht. "Damit wächst unsere Aufgabe, an den historischen Orten Geschichte begreifbar und ergreifbar werden zu lassen", sagt Gardei, die in Berlin und Jerusalem Theologie studiert hat.

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Warum aber ausgerechnet eine Theologin? Sich erinnern, etwas vergegenwärtigen sei ein fester Bestandteil unserer Religion. Schon der größte Teil der Bibel sei gewissermaßen wortgewordene Erinnerungsarbeit. Die Feier des Abendmahls sei auch eine Form des Erinnerns. "Gerade die Religionen haben Formen geschaffen, in denen das vergegenwärtigte Erinnern gelingt. Das müssen wir nun auch in der Pädagogik schaffen", sagt sie.

Fragt man sie, wie sich ihre Theologie durch die Tätigkeit in der "Topographie" verändert hat, dann sagt sie: "Ich predige anders, seitdem ich hier arbeite, elementarer." Und warum? "Wenn man all die Tafeln, Fotos und Berichte täglich sieht, kann man sich gar nicht vor der Frage schützen, was einen in solch einer Situation hilft und trägt? Was macht einen stark in Gefängnissen, vielleicht gar so stark im Angesicht eines Todesurteils oder unter Folter standzuhalten?" Sie versuche heute, mit ihren Predigten den Leuten Mut zu machen, sich bewusst an den biblischen Geboten zu orientieren.

Foto: Angelika Hornig
Foto: Angelika Hornig

Die "Topographie des Terrors" ist ein Lernort und keine Gedenkstätte.

Wie es mit ihrer Arbeit weitergeht? Der Leiter der "Topographie" Andreas Nachama will in diesem Frühjahr gemeinsam mit der Theologin eine Evaluation ihrer Tätigkeit vorlegen. Aber er weiß schon jetzt: In Anbetracht der hohen Nachfrage war es eine gute Entscheidung, das Bildungsprogramm zu erweitern. Doch Grundidee und Hoffnung war, dass die Landeskirche Anteile dieser Pfarrstelle mitfinanzieren würde.

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Das ist bislang nicht geschehen. Obwohl Marion Gardei in ihrer Kirche Ansätze beobachtet, die kirchlichen Erinnerungsorte, die über die Nazizeit Auskunft geben, in ihrer Bildungsarbeit ernster zu nehmen: "Früher waren die Pfarrer, die sich in ihrer Gemeinde um Erinnerungsorte gekümmert haben, ein loser Haufen von Gedenkfritzen, so haben wir uns selber genannt." Inzwischen bilden sie den offiziellen Beirat "Lernen an kirchlichen Erinnerungsorten 1933-45.1989", der zur Generalsuperintendentur des Sprengels Berlin gehört. Generalsuperintendentin Ulrike Trautwein, die in der Landeskirche zuständig für die kirchlichen Erinnerungsorte ist, lässt verlauten, dass sie derzeit auf der Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten sei, um die kirchliche Bildungsarbeit in der "Topographie" über den Mai 2013 hinaus zu finanzieren.

Nein, die Geschichte ist längst nicht zu Ende. Marion Gardei jedenfalls hat an ihren "Topo-Tagen" noch viel vor: In diesem Jahr möchte sie sich verstärkt den kirchlichen Tätern zuwenden und ein Seminar über den Glauben der "Deutschen Christen" entwickeln. Kirchliche Erinnerungsarbeit hier am Ort der Täter.

Seminare in der "Topographie des Terrors" (Magazin-Meldung)

Kathrin Jütte (Text) / Angelika Hornig (Fotos)

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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