Ende der Ausgrenzung

Das Urteil des Bundesarbeitsgerichtes zum "Dritten Weg" wird zu mehr Streikaufrufen führen
Ohne „kirchengemäße Tarifverträge“ wird es nicht gehen: Akten bei der Verhandlung vor dem BAG. Foto: epd/Frank Sommariva
Ohne „kirchengemäße Tarifverträge“ wird es nicht gehen: Akten bei der Verhandlung vor dem BAG. Foto: epd/Frank Sommariva
Das Urteil des Bundesarbeitsgerichtes (BAG) in Erfurt ist von kirchenoffizieller Seite begrüßt worden. Tatsächlich bedeutet das Urteil einen fundamentalen Paradigmenwechsel, meint Hermann Lührs, Mitglied der Arbeitsrechtlichen Kommission der EKD.

Nach dem Erfurter Urteil zum kirchlichen Arbeitsrecht kann die Gewerkschaft ver.di derzeit in so gut wie allen Einrichtungen der Diakonie, der Caritas und der verfassten Kirchen rechtmäßig zu Streiks aufrufen, zum Beispiel, um der Forderung nach Tarifverträgen Nachdruck zu verleihen. Denn für einen Streikausschluss hat das BAG zwei Bedingungen aufgestellt: Die Beschlüsse der Kommissionen müssen für die unter sie fallenden kirchlichen Arbeitgeber verbindlich sein. Es darf keine Ausnahmeregelungen und kein Wahlrecht der Einrichtungen zwischen unterschiedlichen Arbeitsvertragsrichtlinien geben. Zweitens müssen die Gewerkschaften in das Verfahren des "Dritten Weges", also in den Arbeitsrechtlichen Kommissionen, "organisatorisch eingebunden" sein und sich "koalitionsmäßig betätigen" können.

Diese Voraussetzungen sind nirgendwo gegeben. So können die Mitgliedseinrichtungen des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche im Rheinland - um nur ein Beispiel zu nennen - wählen, welche Arbeitsbedingungen sie anwenden wollen. Diese Bedingungen müssen nach der Satzung des Diakonischen Werkes lediglich "in einem kirchengesetzlich anerkannten Verfahren gesetzt" worden sein. In Rheinland-Westfalen-Lippe werden der BAT-KF (den die zuständige Kommission RWL beschließt) und auch in hoher Zahl zum Beispiel die AVR-DW.EKD (die auf der Bundesebene beschlossen werden) angewendet.

Die zweite Anforderung wiegt noch schwerer, denn sie ist nicht umsetzbar, ohne die Struktur der Kommissionen aufzulösen. Dazu muss man wissen: In die meisten Kommissionen können Gewerkschaften keine Vertreter entsenden. Die Arbeitnehmervertreter werden durch Wahlpersonengremien der Beschäftigten bestimmt (das ist überall im katholischen Bereich so) oder durch Zusammenschlüsse betrieblicher Mitarbeitervertretungen. In sechs (evangelischen) Kommissionen werden Arbeitnehmervertreter durch Mitarbeiterverbände delegiert. In diese Kommissionen können Gewerkschaften Vertreter entsenden. Aber auch für sie gilt, dass ihre Vertreter nach den kirchenrechtlichen Bestimmungen niemandem gegenüber rechenschaftspflichtig gemacht werden dürfen. Sie sind als Mitglied der Kommission von Weisungen frei zu halten.

Gewerkschaften hineinholen

Zwar kann man als Kommissionsmitglied auch Gewerkschaftsmitglied sein, man darf aber nicht für die Gewerkschaft in der Kommission verhandeln. Kommissionsmitglieder können der Gewerkschaft gegenüber, der sie angehören, keine Mindestbedingungen für Vereinbarungen garantieren. Sie können in der Kommission überstimmt werden. Arbeitsrechtliche Kommissionen fassen Mehrheitsbeschlüsse durch Abstimmungen aller Mitglieder oder durch Entscheidungen der Schlichtungsinstanz. Durch diese Form ist die gewerkschaftliche Koalition von allen Arbeitsrechtlichen Kommissionen organisatorisch ausgeschlossen.

Deshalb wird es überall dort, wo es Arbeitsrechtliche Kommissionen gibt, rechtmäßige Aufrufe zu Streiks geben. Den einzigen kirchlichen Bereich, der nach dem Erfurter Urteil von Streiks derzeit ausgenommen ist, bilden die Evangelisch-Lutherische Kirche und die Diakonie in Norddeutschland, die "kirchengemäße Tarifverträge" mit den Gewerkschaften abgeschlossen haben. Dort sind nach dem Erfurter Urteil Streiks unzulässig. Das wirkungsvollste Mittel der Kirchen, die Gewerkschaften an Streikaufrufen zu hindern, ist folglich das Angebot, mit ihnen kirchengemäße Tarifverträge abzuschließen. In einer kurzen Formel ausgedrückt: Wollen die Kirchen, Diakonie und Caritas keine gewerkschaftlichen Streiks in ihren Einrichtungen haben, müssen sie die Gewerkschaften in ihre Einrichtungen hereinholen.

Das allerdings bedeutet für die Kirchen nach sechzig Jahren Sonderstellung im kollektiven Arbeitsrecht einen Paradigmenwechsel. Denn diese Sonderstellung bestand eben darin, die DGB-Gewerkschaften ausschließen zu können. Für den Ausschluss auf der überbetrieblichen Ebene zur Regulierung der Arbeitsbedingungen sorgte die Struktur der Arbeitsrechtlichen Kommissionen. Für den Ausschluss auf der betrieblichen Ebene sorgten die Mitarbeitervertretungsgesetze. Man muss wissen: Der eigentliche Unterschied zwischen Betriebsverfassungsgesetz und den kirchlichen Mitarbeitervertretungsgesetzen liegt darin, dass die Gewerkschaften im Betriebsverfassungsgesetz (und auch in den Personalvertretungsgesetzen der öffentlichen Verwaltung) Bestandteil der Betriebsverfassung sind und dort besondere Rechte haben. In den Mitarbeitervertretungsgesetzen sind die Gewerkschaften kein Teil der Betriebsverfassung, sie haben keine Rechte, und sogar der Zutritt kann ihnen unter bestimmten Bedingungen verweigert werden.

Nach dem Erfurter Urteil können die Kirchen den alten Weg der Ausgrenzung nicht fortsetzen, sondern sie müssen sich mit den Gewerkschaften vertragen. Die Kirchen müssen den Gewerkschaften den Zutritt zu den kirchlichen Einrichtungen sichern. Man muss die Mitarbeitervertretungsgesetze ändern. Man muss den Gewerkschaften kirchengemäße Tarifverträge anbieten. Das sind die noch nicht erkannten Imperative des Erfurter Urteils. Das Urteil ist nicht salomonisch, aber man könnte es dialektisch nennen.

Literatur

Hermann Lührs: Die Zukunft der Arbeitsrechtlichen Kommissionen. Nomos-Verlag, Baden-Baden 2010, 279 Seiten, Euro 49,-.

Hermann Lührs

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