Zeitrebellen

Vom Leid der Beschleunigung
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Sensibel spürt Hengsbach die Zeitrebellen auf, die um Zeit für ihr Leben, für Kinder, Beziehungen, Zeit für ihnen liebe Menschen und Zeit für den Sonntag kämpfen.

Wer das Schlusskapitel des Buches zuerst liest, der weiß, welchen Takt der Autor Friedhelm Hengsbach anschlägt: Er spricht vom "Leiden an der Beschleunigung" und von den "Zeitrebellen, die dem Regime der Beschleunigung widerstehen". Allenthalben macht sich eine Beschleunigungsgesellschaft breit, die keine unbewirtschaftete Zeit zulässt. Augenfälliges Zeichen ist der Druck auf den Sonntag, gegen den die Kirchen nahezu erfolglos seit Jahrzehnten vorgehen.

Dabei ist die aktuelle Beschleunigung keineswegs ein Naturereignis wie Regen oder Wind. Sie geht auf den Megaimpuls durch die Finanzmärkte zurück. Sie haben den Druck auf die "Realwirtschaft", auf die Arbeitsplätze übertragen. Die staatlichen Organe haben sich fahrlässig dem Beschleunigungsdruck der Finanzmärkte ausgeliefert und den Staat in einen Wettbewerbsstaat umdefiniert. Es ist eine kaskadenartige Übertragung des Megaimpulses der Finanzmärkte, die bis nach ganz unten den Schwächsten in der Gesellschaft weitergereicht wird. "Die privaten Haushalte sind das letzte Auffangbecken des von den Finanzmärkten angestoßenen Beschleunigungsschubs." Den Beschäftigten wird unter dem Zeitdiktat der Finanzmärkte unbezahlte Arbeit abgepresst, die Privatsphäre franst aus, so dass die Grenzen zwischen Erwerbsarbeit und privatem Leben immer undeutlicher werden. Die Kinder sind am Ende die Leidtragenden, denn sie sind am wenigstens davor geschützt.

Dieser Impuls ist übermächtig geworden. Doch tatsächlich sind die Finanzmärkte nur ein gesellschaftliches Teilsystem, das aber doch die ganze Gesellschaft einem Beschleunigungsschub ausliefert und dort negative und destruktive Wirkungen hervorruft. Die Kirchen wären in ihren Kampagnen für den Erhalt des erwerbsarbeitsfreien Sonntags gut beraten, eben diese Analyse zu beherzigen. Der Kampf um den Sonntag wird dann aus dem Schatten des Sonntags heraustreten. Im Kern geht es nämlich um die demokratische Aneignung des Finanzkapitalismus, der die Arbeit entregelt, die sozialen Sicherungssysteme deformiert, die Haushalte antreibt und auch den Sonntag auffrisst.

Sensibel spürt Hengsbach die Zeitrebellen auf, die um Zeit für ihr Leben, für Kinder, Beziehungen, Zeit für ihnen liebe Menschen und Zeit für den Sonntag kämpfen. Hengsbachs Zeitanalyse mündet in einen Aufruf zu einer zivilen Rebellion. Seine Sympathie gilt den rebellierenden Männern und Frauen, die sich weigern, das übermächtige, mit öffentlichen Mitteln subventionierte Produktions- und Konsumregime zu beflügeln. Wer die Augen öffnet und aufmerksam hinschaut, der sieht: Die Zahl derer wächst, die dem Regime der Beschleunigung widerstehen. Stéphane Hessel hat mit seinem Bändchen Empört euch zahllosen Menschen in ihrem Drang nach Gerechtigkeit einen kräftigen Auftrieb gegeben. Friedhelm Hengsbachs Weckruf Die Zeit gehört uns! steht dem in nichts nach.

Friedhelm Hengsbach: Die Zeit gehört uns. Widerstand gegen das Regime der Beschleunigung. Westend Verlag, Frankfurt/Main 2012, 284 Seiten, Euro 19,99.

Franz Segbers

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