Brüssel statt Babylon

Rund 2000 Dolmetscher sorgen im Dienste der Europäischen Union für Verständigung
Bis zu 500 Sprachkombinationen möglich: Dolmetscher in der EU. Foto: dpa/Maryam Schumacher
Bis zu 500 Sprachkombinationen möglich: Dolmetscher in der EU. Foto: dpa/Maryam Schumacher
23 Sprachen werden in den Institutionen der Europäischen Union gesprochen - und jede einzelne ist auch Amtssprache der EU. Diese Vielfalt von Sprachen ist gewollt, bedarf aber auch eines ausgeklügelten Dolmetschersystems. Sylvia Kalina, Diplomdolmetscherin mit langjähriger EU-Erfahrung und emeritierte Professorin für Dolmetschwissenschaft, beschreibt die täglichen Herausforderungen, vor denen die Sprachjongleure stehen.

Trotz aller Unkenrufe und Kritik - die Europäische Union (EU) funktioniert auch in Krisenzeiten. Die tägliche Arbeit in Brüssel, Straßburg und Luxemburg ist in der Regel gut organisiert. Das ist nicht selbstverständlich, schon allein weil in den Sitzungen des Rates, der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments und der anderen Institutionen nicht weniger als 23 Sprachen gesprochen werden, die in den 27 Mitgliedsstaaten Amtssprachen sind. Für die Verständigung in dieser Sprachenvielfalt arbeiten Konferenzdolmetscher in speziell ausgestatteten Kabinen in täglich etwa sechzig Sitzungen in den großen Konferenzzentren der EU. Zudem begleiten sie EU-Delegationen bei zahlreichen Besuchen in den einzelnen Mitgliedsstaaten.

Das Europäische Parlament und die Europäische Kommission (letztere stellt auch alle Dolmetscher für den Ministerrat und weitere EU-Organe) haben jeweils eine eigene Generaldirektion für den Bereich Dolmetschen und Konferenzorganisation und beschäftigen insgesamt über 1.000 fest angestellte und zum Teil verbeamtete Konferenzdolmetscher. Und doch reichen diese nicht aus, um alle anfallenden Dolmetschleistungen zu erbringen. Deshalb müssen täglich fast noch einmal genauso viele freiberuflich tätige Dolmetscher aus ganz Europa engagiert werden, damit die mehr als 15.000 Sitzungstage pro Jahr auch sprachlich bewältigt werden können.

Alle Amtssprachen der Mitgliedsstaaten sind nämlich auch Amtssprachen der EU. Dies wurde bereits 1958 für die drei Vorläufergemeinschaften der EU festgelegt. Damals waren die Sprachen Deutsch, Französisch, Italienisch und Niederländisch. Bei jeder Erweiterung wurde dieser Grundsatz bestätigt und die Zahl der Amtssprachen nahm entsprechend zu. Auch die Grundrechtecharta der EU vom Jahr 2000 bekräftigt in Artikel 22: "Die Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen."

Dolmetschen im Relais...

Diese Sprachenvielfalt gilt selbstverständlich auch für schriftliche Übersetzungen. Die Übersetzungsdienste der EU-Institutionen sind in eigenen Generaldirektionen organisiert; die EU-Dolmetscher haben im Gegensatz zu den meisten ihrer Kollegen in den Ministerien der Mitgliedsstaaten keine Übersetzungen anzufertigen. Sie nutzen die Übersetzungen von EU-Dokumenten aber als Vorbereitungsunterlagen für ihre Sitzungen und machen von der Verfügbarkeit vieler Dokumente in fast allen Amtssprachen eifrig Gebrauch.

Bei 23 Amtssprachen müssen in jeder Kabine bis zu fünf Dolmetscher, manchmal sogar noch mehr, sitzen, die dann aus möglichst vielen dieser Sprachen direkt in ihre Muttersprache dolmetschen. Bei weniger verbreiteten Sprachen, die von nur wenigen Dolmetschern als Arbeitssprachen beherrscht werden - und das heißt perfekt verstanden werden, auch auf allen Spezialgebieten - wird die Relaistechnik angewendet. Ein Dolmetscher, der beispielsweise in der litauischen Kabine sitzt und dort eigentlich in das Litauische dolmetscht, wechselt, sowie die litauische Delegation sich zu Wort meldet, die Zielsprache und dolmetscht aus dem Litauischen in eine der großen Sprachen, etwa in das Englische oder Französische. Die anderen Sprachkabinen übernehmen diese erste Verdolmetschung, um dann weiter in das Portugiesische, Italienische, Bulgarische oder Deutsche zu dolmetschen. Da in der Regel die Dolmetscher, die in einer Kabine arbeiten, nicht alle Ausgangssprachen abdecken können, wird auf diese Relaistechnik immer wieder zurückgegriffen; die Zuhörer bemerken dies nicht unbedingt, außer vielleicht daran, dass die Relais nehmende Kabine mit noch ein bisschen mehr Verzögerung dolmetscht als sonst.

...und im Doppelrelais

Allerdings ist Simultandolmetschen ohnehin nicht genau gleichzeitig, denn Dolmetscher haben immer einen Zeitabstand zum Redner, da sie erst einen Gedanken oder zumindest einen Teil davon hören und verstehen müssen, bevor sie dolmetschen können.

Manchmal ist sogar ein Doppelrelais erforderlich, so dass zum Beispiel aus dem Ungarischen in das Finnische und von dort in das Englische gedolmetscht wird, und erst die englische Verdolmetschung wird dann von den anderen Kabinen übernommen.

Die hohen Kosten für so viele Dolmetscher - allein bei der Kommission 140 Millionen Euro im Jahr - wurden oft kritisiert und es gab immer wieder Vorschläge, die Zahl der Sprachen zu reduzieren, wie dies bei den Vereinten Nationen der Fall ist. Auch der Europarat in Straßburg praktiziert eine andere Sprachenregelung mit nur zwei Amtssprachen, nämlich Englisch und Französisch, wobei andere Sprachen von den Mitgliedsstaaten bei Bedarf hinzuoptiert werden können. Da die EU aber der kulturellen Vielfalt verpflichtet ist, wird zu deren Verwirklichung auch die Sprachenvielfalt geachtet und gepflegt. Alle Sprachen sind daher gleichberechtigt, und jeder kann seine Muttersprache sprechen, wenn sie eine der Amtssprachen ist.

Muttersprachen im Parlament

Dieser Grundsatz der Gleichberechtigung aller Sprachen wird in den Plenarsitzungen des Europäischen Parlamentes immer voll und ganz verwirklicht. Jeder Abgeordnete kann sich in seiner Muttersprache ausdrücken, was zur Bürgernähe der EU beitragen kann und der Erhaltung der kulturellen Vielfalt in Europa dient. In Arbeitssitzungen von Experten hingegen werden nicht immer alle Sprachen angeboten; so kommt es oft vor, dass für einzelne Sitzungen so genannte asymmetrische Sprachkombinationen angeboten werden, etwa "6 in 3". Dabei wird aus sechs Sprachen gedolmetscht, aber nur in drei von diesen (oft Englisch, Französisch, Deutsch oder Spanisch). Insgesamt gibt es in einer Sitzung, in der alle 23 Sprachen gesprochen und jeweils in alle anderen Sprachen gedolmetscht werden, über fünfhundert Sprachkombinationen, die alle von den Dolmetschern sichergestellt werden müssen.

Die Dolmetscher an den drei Amtssitzen der Europäischen Union arbeiten angesichts der vielen Sprachen und Sprachkombinationen in sehr großen Teams, und alle müssen immer wissen, zu welcher Zeit sie in welchem Saal für welche Sitzung gebraucht werden, welche Ausgangssprachen dabei von welchen Kollegen angeboten werden, in welche Kabine sie sich für ein Relais einschalten müssen, und vieles mehr. Sie müssen absolut pünktlich, verlässlich und verschwiegen sein. Eine gute Teamabsprache ist ebenfalls wichtig, denn die Kabinen hängen voneinander ab, und wenn in einer Kabine etwas schiefgeht, kann die ganze Sitzung dadurch gestört und womöglich unterbrochen werden.

Die Plenarsitzungen des Europäischen Parlaments werden in allen 23 Sprachen, also jeweils das Original und 22 Verdolmetschungen, per Webstreaming ins Internet übertragen. Die Sitzungen der Ausschüsse und Fraktionen hingegen sind nicht öffentlich und werden auch nicht immer in alle Sprachen gedolmetscht. Wenn der Europäische Rat tagt, sind in der Regel alle 23 Kabinen besetzt, doch die vielen und thematisch sehr unterschiedlichen Sitzungen der Kommission und der Ministerräte sind nicht öffentlich. Die Zahl der Sprachen, aus denen und in die gedolmetscht wird, richtet sich nach den jeweiligen Bedürfnissen der Teilnehmer. Mit dem Vormarsch des Englischen, das die früher dominierende französische Sprache abgelöst hat, kommt es auch vor, dass nur zwischen Englisch und einer weiteren Sprache gedolmetscht wird.

Riesiger Apparat

Aus einem zu Beginn des Europäischen Einigungswerkes vergleichsweise kleinen Dolmetscherdienst mit vier Amtssprachen ist inzwischen ein riesiger Apparat geworden, der sowohl die Herausforderungen eines Europas mit seiner Sprachenvielfalt, als auch die Anforderungen, die sich durch den Einzug der neuen Technologien stellen, zu bewältigen hat. Um die zahlreichen Dolmetscher und die für sie erforderlichen Kabinen überhaupt in Sitzungssälen unterzubringen, wird inzwischen daran gedacht, einen Teil der Kabinen in andere Räume oder Gebäude auszulagern, was für die betroffenen Dolmetscher bedeutet, dass sie im Ferndolmetschmodus arbeiten müssen - eine Erschwernis, denn auf einem Bildschirm werden nicht so viele Informationen zum Geschehen sichtbar wie direkt im Saal.

Die verschiedenen Phasen der Beitritte zur EG und später zur EU zwischen 1973 und 2007 und die damit einhergehende Zunahme der Zahl der in Sitzungen gesprochenen Sprachen haben zu einem äußerst hohen Bedarf an Dolmetschern geführt, und die Institutionen finden gar nicht immer so viele Dolmetscher, wie sie benötigen. Die Anforderungen an diese sind extrem hoch. Nach einem Masterabschluss im Konferenzdolmetschen an einer Hochschule und mit möglichst bereits etwas Berufserfahrung meldet man sich, wenn man entsprechende Sprachkombinationen hat, zu einem der Tests an, bei denen die Dolmetschfähigkeit auf Herz und Nieren geprüft wird. Solche Tests finden regelmäßig statt, aber viele Bewerber scheitern an den hohen Anforderungen, so dass die Personaldecke nicht sehr hoch ist - das gilt auch und gerade für die deutsche Kabine. Wer den Test besteht, kann entweder als freiberuflicher Dolmetscher beginnen oder als "permanent" mit einem Zeitvertrag arbeiten. Verbeamtet wird ein Dolmetscher erst, wenn er oder sie nach einiger Zeit der Praxis eine Beamtenprüfung mit deutlich höherem Schwierigkeitsgrad der Dolmetschleistungen und weiteren Prüfungen bestanden hat.

Von Agrar bis Zigaretten

Wer bei den EU-Institutionen arbeiten will, sollte aus mindestens drei Fremdsprachen dolmetschen können. Englisch ist unter den Arbeitssprachen eines jeden Dolmetschers ein "muss", Französisch oder Spanisch oder auch Deutsch sollte dabei sein, aber besonders gefragt sind zusätzlich seltener gesprochene Sprachen wie zum Beispiel Ungarisch oder Slowakisch, wobei es einerseits von Vorteil ist, wenn man viele Sprachen beherrscht, andererseits sind aber die Ansprüche an das Verständnis der jeweiligen Ausgangssprache sehr hoch. Schließlich müssen sowohl Fachkonferenzen zu Themen wie Arzneimittelprüfung, Agrarsubventionen, die Aufmachung von Zigarettenverpackungen, die Bedeutung der digitalen Medien für Europa oder die Vereinheitlichung der europäischen Flugpläne als auch Ansprachen von Europaparlamentariern oder politische Reden von Kommissionsmitgliedern gedolmetscht werden. Hierfür müssen alle Sprachvarianten exzellent verstanden werden, und die Dolmetscher müssen über die aktuellen Entwicklungen der Länder ihrer Sprachen immer auf dem Laufenden sein.

So ist die Zahl der beherrschten Sprachen allein nicht ausschlaggebend; wichtiger ist der Grad ihrer Beherrschung. Und auch die Dolmetschtechnik muss gemeistert werden. In den Plenarsitzungen des Europäischen Parlaments ist das Redetempo der Abgeordneten in der Regel extrem hoch, denn es steht nur eine begrenzte Redezeit zur Verfügung,. Bei solchem Tempo verlesener Manuskripte stellt die erwartete Vollständigkeit Höchstanforderungen an die Dolmetscher. Gelegentlich werden auch Sprachen von Drittländern wie Russisch oder Arabisch angeboten, wenn mit diesen Ländern verhandelt wird.

Da Simultandolmetschen eine höchst anstrengende Tätigkeit ist, sollten Dolmetscher in der Regel nicht mehr als zweimal etwa drei Stunden am Tag in einer Sitzung arbeiten. Denn zum eigentlichen Dolmetschen kommt auch noch Vorbereitungs- und Terminologiearbeit hinzu. Dazwischen gibt es auch noch Zeiten, in denen ganze Dolmetscherteams im Bereitschaftsdienst sind, für den Fall, dass bei Sitzungen eines Ministerrates eine ad-hoc-Gruppe einberufen wird, um ein drängendes Problem zu lösen, oder eine Nachtsitzung anberaumt wird.

Beitrag zum Einheitswerk

Da auch in den Sitzungssälen der EU neue Technologien Einzug gehalten haben, wird nicht mehr nur gedolmetscht, was ein Redner im Saal mündlich in ein Mikrofon spricht; heute werden oft Medien (Präsentationen, Videoclips) eingesetzt, und es gibt Videokonferenzen sowie das bereits erwähnte Ferndolmetschen und gelegentlich sogar Telefongespräche, die zu dolmetschen sind, oder Internet-Chats der Kommissionsmitglieder mit Bürgern der Mitgliedsstaaten. Die bei der EU tätigen Dolmetscher müssen also eine robuste Gesundheit haben, sie müssen flexible, oft nicht genau vorhersagbare Arbeitszeiten akzeptieren und sich in vielen sehr unterschiedlichen Themen schlau machen. Sie sind zwar immer dabei, wenn in Europa wichtige Debatten geführt und Entscheidungen getroffen werden, aber sie sitzen meist in ihren Kabinen weit entfernt von den Delegierten, was bei 27 Mitgliedsstaaten auch gar nicht anders zu bewerkstelligen ist.

Dennoch macht die Arbeit den meisten Dolmetschkollegen, die übrigens mehrheitlich weiblichen Geschlechts sind, durchaus Spaß, denn schließlich arbeitet man für den weltgrößten Dolmetscherdienst und hat tagtäglich mit Europas großen und kleinen Herausforderungen und Problemen zu tun. Dienstreisen führen die Dolmetscher auch über die EU-Grenzen hinaus in alle Länder, mit denen Kontakte bestehen. Auch wenn der einzelne Dolmetscher immer darauf gefasst sein muss, dass eine plötzliche Programmänderung sowohl seine Vorbereitung zunichte macht als auch Umstellungen seiner Tagesplanungen erfordert - alles in allem ist es ein befriedigendes Gefühl, wenn man über Jahrzehnte hinweg seinen kleinen Beitrag zum europäischen Einigungswerk leisten kann.

Sylvia Kalina

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