Nicht in Buchstaben gefangen
Es ist ein hehres Ziel, das Nikolaus Schneider verfolgt: Der EKD-Ratsvorsitzende will mit seinem Ratsbericht die Gemüter im Streit um die EKD-Orientierungshilfe zur Familie beruhigen. Doch für die einen klingt es wie eine unnötige Rechtfertigung, für die anderen wie eine Bestätigung ihrer Kritik. Wenn Schneider vor den Synodalen ausführlich auf den Streit um die Orientierungshilfe eingeht, kann er weder den Erwartungen seiner Kritiker noch seiner Mitstreiter entsprechen. Die eigene Position fällt das Urteil schon im Voraus.
Und das zu Unrecht, denn der Ratsbericht gehört zu den Glanzlichtern der Synodaltagung. In ihm reagiert der Ratsvorsitzende mit einer theologischen Grundierung auf die oft unsachliche und bisweilen persönliche Kritik – auch aus den eigenen Kirchenreihen. Unter dem Motto "Die Heilige Schrift als Maß und Mitte evangelischer Urteilsbildung" stellt er zunächst klar: "Es gehört zum Kern reformatorischer Einsichten, kein Amt und keine Person anzuerkennen, das oder die Gottes Wort in Menschenworten eindeutig und abschließend zu definieren beansprucht." Vielmehr sei evangelische Theologie im Kern das immer neue Hören und das starke Ringen um die rechte Auslegung der biblischen Texte von Christus her. Schneider führt dazu eine klassische Unterscheidung des Theologen Karl Barth ein, nach der das Wort Gottes den Menschen in dreifacher Gestalt entgegen tritt, "als verkündigtes Wort, als geschriebenes Wort, als geoffenbartes Wort". Diese Differenzierung mache deutlich, dass das Wort Gottes weder einfach identisch mit dem Wortlaut der Schrift sei noch mit dem Wort der Verkündigung in der Predigt. Zu Recht weist der Ratsvorsitzende darauf hin, es habe keine Sinn, sich in der Auseinandersetzung um die Orientierungshilfe auf einzelne Bibelstellen zu berufen, ohne hermeneutisch zu reflektieren, was damals gemeint war. Doch Beifall von den EKD-Synodalen bekommt Nikolaus Schneider erst, als er auf die vielen Menschen Bezug nimmt, die durch die Orientierungshilfe Wertschätzung erfahren haben, die sie bisher vermisst hätten.
Nebenbei bemerkt: Der permanente Vorwurf einer verheerenden öffentlichen Auswirkung durch das Erscheinen der Orientierungshilfe entbehrt jeder Grundlage. Wie eine von der EKD in Auftrag gegebene Medienanalyse zeigt, ist die mediale Rezeption der EKD-Schrift durchaus stark differenziert. Fast 50 Prozent der Beiträge fallen neutral bis ambivalent aus, 21,8 Prozent äußern sich positiv und nur 28,8 Prozent negativ.
Die heftigen innerkirchlichen Reaktionen spiegeln sich auch in der Aussprache zum Ratsbericht. Sie sind bisweilen emotional und persönlich, zweimal droht die Diskussion in billige Polemik zu kippen: zum einen, als ein Synodaler die werbliche Anzeige einer Supermarktkette hochhält und die evangelischen Kirche mit einem zeitgeistigen Gemischtwarenladen vergleicht. Und ein weiteres Mal, als ein Jungdelegierter mehr Bibel statt Bundesverfassungsgericht fordert. Insgesamt wird deutlich: Während die einen die Qualität einer Lebensform statt deren institutionelle Verfasstheit zum Maßstab machen, steht für die anderen die Form, also die Institution der Ehe als Leitbild jeder Beziehung. Beispielhaft dafür spricht die Synodale Elisabeth Berner, Pfarrerin der württembergischen Landeskirche. Sie verwehrt sich dagegen, jede Lebensform zur Norm zu erheben und das Leitbild der Ehe aufzugeben. Und sie widerspricht dem Ratsvorsitzenden: "Es ist unsere Aufgabe als Kirche, dass wir das Evangelium verkündigen, und dieses besteht für mich bei dem Thema Beziehungen gerade nicht darin, dass wir unsere menschlichen Werte Verlässlichkeit und Verbindlichkeit als Grundlagen von Beziehung weder in der Ehe noch in anderen Lebensbeziehungen setzen. Wir sprechen bei einer Trauung den Segen Gottes zu, der der allein die Beziehung tragende Wert ist."
Demgegenüber bringt Peter Bukowski, Moderator des Reformierten Bundes und Mitglied der Kammer für Theologie der EKD, unter dem Beifall der Synodalen noch einmal zum Ausdruck, dass die ursprüngliche Intention der Orientierungshilfe eine auf Familie bezogene sozialpolitische gewesen sei. Damit griff er die Kritik auf, die Orientierungshilfe würde die Institution Ehe herabwürdigen.
Ferner bringt er auch seine Verärgerung über den Vorwurf zur Sprache, die Orientierungshilfe habe eine schwere ökumenische Verwerfung angerichtet. "Bei einer Kirche, die aufgrund ihrer Sexual-und Familienethik ein Menschenheer von erschrockenen und beschädigten Gewissen und Seelen … hinter sich herzieht, schäme ich mich nicht zu sagen, dass wir Protestanten aus guter biblischer Begründung anders sind." Alle Diskussionsbeiträge zeigen, wie tief die Gräben sind, auch die hermeneutischen. Und diese lassen sich nicht einfach überspringen, wie es der württembergische Synodale Volker Teich fordert. Die Positionen stehen einander unüberbrückbar, fast unversöhnlich gegenüber. Das müssen evangelische Christinnen und Christen aushalten und dabei im Gespräch bleiben. Und sich immer wieder den Rat der Synodalen Kerstin Griese ins Bewusstsein rufen: barmherziger miteinander umgehen und mehr Toleranz im Umgang mit anderen Lebensformen walten lassen.
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Kathrin Jütte
Kathrin Jütte
Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.