Stolz und Entsetzen
Die Türen aus Milchglas, die zur Ausstellung führen, öffnen sich, und der Blick fällt auf einen Mann mit Schnurr- und Spitzbart. Er trägt ein köchellanges schwarzes Gewand mit einem breiten weißen Kragen. In der Linken hält er ein Buch und in der rechten einen Hirtenstab. Otto Clemens van Bijleveld war 1645, als das Gemälde entstand, Pastor, auf Deutsch: Hirte, der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde im holländischen Gouda. Umgeben ist er von Schafen, die zu ihm und dem Buch, das er hält, aufschauen. Das Bild veranschaulicht das klassische evangelische Verständnis des Pfarramtes. Sein Inhaber wirkt - auch durch die Predigt - als Hirte der Gemeinde. Dass er einen Hirtenstab trägt, was in der römisch-katholischen Kirche dem Bischof vorbehalten ist, zeigt: In den evangelischen Kirchen gibt es nur ein ordiniertes Amt. Auch der Bischof ist nicht mehr als ein Pfarrer, nur dass er nicht Hirte einer Ortsgemeinde, sondern für eine Region oder ein Land zuständig ist.
Warum in dem Raum, in dem Porträts von Pfarrern und ihren Frauen hängen, das puppenhausgroße Modell eines Kanzelaltars gezeigt wird, erschließt sich nicht. Denn das Modell der Berliner Dreifaltigkeitskirche, wo er stand, findet sich drei Räume weiter. Und dann ist der Kanzelaltar auch noch mit dem allgemeinen Attribut "protestantisch" versehen. Dabei war er eine Erfindung der lutherischen Orthodoxie. Er sollte herausstellen, dass für Lutheraner Wort und Sakrament, Predigt und Abendmahl gleich wichtig sind. Reformierte Kirchen sind dagegen auf die Kanzel, sprich: auf die Predigt, ausgerichtet. Das illustriert die Darstellung eines Gottesdienstes in der reformierten Kirche im holländischen Koog aan de Zaan. Die Ausstellungsmacher haben das Gemälde mit der Erklärung versehen: "Das Abendmahl bedeutet für Reformierte nicht Sakrament, sondern Erinnerung." Dass das falsch ist, hätten sie erkennen können, wenn sie ins Evangelische Gesangbuch geschaut hätten. Denn dort ist der reformierte Heidelberger Katechismus abgedruckt. Ein eigener Abschnitt handelt "Von den Heiligen Sakramenten". Und eines ist das Abendmahl, das die "Seele" des Kommunikanten mit Jesu Leib und Blut "zum ewigen Leben speist und tränkt". Der Fehler erstaunt, ja, ist peinlich, weil Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der EKD das Ausstellungsprojekt laut Katalog "von Anfang an mit hohem persönlichen Einsatz" begleitet haben. Und zur EKD gehören schließlich zwei reformierte Landeskirchen.
Stirnrunzeln und Grinsen
Bei manchen Ausstellungsstücken weist die Maus Walpurga auf kindgerechte Erklärungen hin. Und sie dürfte auch manchem kirchenfernen Erwachsenen helfen. So steht an der Vitrine mit den Amtsgewändern: "In einem Gottesdienst erkennt man den evangelischen Pfarrer meist an seinem schwarzen Talar und am Beffchen. Das sind der lange Baumwollmantel und die weiße Halsbinde."
Gezeigt wird auch eine "Kasel", das Gewand, das römisch-katholische Pfarrer tragen, wenn sie eine Messe leiten. Auf der Vitrine ist zu lesen: "In der Zeit der Reformation wurde die Kasel in der evangelischen Kirche abgeschafft." Offensichtlich kennen die Macher ihre eigene Ausstellung nicht so genau. Denn dort hängt ein Gemälde, das 1650 in Hamburg entstand. Zu sehen sind zwei Geistliche, die das Abendmahl unter beiderlei Gestalt austeilen. Auch der in der Hansestadt übliche Mühlsteinkragen lässt erkennen, dass es lutherische Pastoren sind - und sie tragen Messgewänder.
Stirnrunzeln und Grinsen ruft ein Talar hervor, den ein württembergischer Vikar 1971 orangerot färben ließ, um den antikapitalistischen Charakter seiner Examenspredigt zu unterstreichen. Wer genau hinschaut, entdeckt, dass der Eigentümer und Leihgeber des Talars "Pfarrer i. R." ist. Der Vikar wurde also in den Pfarrdienst aufgenommen, was die Liberalität evangelischer Landeskirchen bezeugt.
Eine Augenweide
Für eine Ausstellung gilt ähnliches wie beim Fernsehen. Das Auge muss angesprochen werden und der Inhalt gegebenenfalls dahinter zurückzutreten. Nur so lässt sich erklären, dass auch einige Gemälde ausgestellt sind, die schwedische Pastoren bei ihren Tätigkeiten zeigen. Die Bilder sind eine Augenweide, auch das über eine Versammlung der "Haugianer", norwegische Pietisten, die eigene Andachten hielten, weil ihnen die lutherische Staatskirche zu liberal war. Naheliegender wäre es gewesen, pietistische Mitglieder einer deutschen Landeskirche bei ihrer Gemeinschaftsstunde zu zeigen. Aber wahrscheinlich fehlten geeignete Bilder.
Wie jede Sonderausstellung eines Museums zeichnet auch diese aus, dass sie Kunstwerke und Gegenstände des Alltags versammelt, die sonst über Europa verstreut sind oder in Archiven schlummern.
Aus Jungingen, heute ein Ortsteil von Ulm, kommt eine 1766 entstandene Tafel, die die Pfarrer ab 1535, "von der Heilsamen Reformation an", aufführt. Sie repräsentiert ein Selbstverständnis, das noch heute unter Deutschlands Protestanten verbreitet ist. Danach beginnt die Geschichte ihrer Kirche erst mit der Reformation. Das ist in der anglikanischen "Kirche von England" ganz anders. Sie drückt schon mit ihrem Namen aus, dass sie sich als Fortsetzung der Kirche versteht, die mit der Christianisierung in England entstand. Und die Listen der Pfarrer, die in normannischen Dorfkirchen und mittelalterlichen Kathedralen Englands hängen, verzeichnen selbstverständlich auch die Geistlichen, die dort vor der Reformation wirkten.
Zu den Exponaten, die schmunzeln, aber auch grübeln lassen, gehört die in Württemberg entstandene Zeichnung "Landpfarrers Stufenjahre" aus dem Jahr 1840. Mit 40 hat er die höchste Stufe erreicht. Und dann geht es bergab: "65 ist schon alt. 70 holt Freund Hein uns bald."
Gemälde, Fotos und andere Dokumente zeigen das Leben im evangelischen Pfarrhaus und berühmte Kinder, die es hervorgebracht hat: Dichter und Denker, Ingenieure und Politiker, einen Spion für die Sowjetunion und Mörder aus ideologischer Verblendung.
Pfarrhauskette fehlt
Württemberg wurde noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Hungersnöten heimgesucht, und viele Schwaben wanderten aus. Dass der Großraum Stuttgart heute zu den wohlhabenden Regionen Deutschlands zählt, ist einem Pfarrerssohn zu verdanken. Als Königlich Württembergischer Regierungsrat gründete Ferdinand Steinbeis (1807-1893) Gewerbeschulen und förderte die Industrie dort, wo die Leute wegen der Realteilung nicht mehr von der Landwirtschaft leben konnten. Gelungen ist auch die Aufbereitung des Kirchenkampfes der Nazizeit. Die Auseinandersetzungen zwischen Deutschen Christen (DC) und Bekennender Kirche und innerhalb der DC, die selbst für Theologen nicht leicht zu durchschauen sind, werden so dargestellt, dass auch Laien erkennen können, worum es ging. Natürlich muss sich jede Ausstellung beschränken. Aber auf die "Pfarrhauskette in Württemberg" hätte man wenigstens hinweisen können, zumal es viele Fotos gibt. Juden, denen die Deportation drohte, wurden von württembergischen Pfarrern und ihren Frauen versteckt. Nach einiger Zeit wurden sie in benachbarte Pfarrhäuser weitergeleitet. Ziel war das Pfarrhaus der Schwenninger Johannesgemeinde. Von dort sollten die Flüchtlinge in die nahegelegene Schweiz geschmuggelt werden.
Der Kampf um die Frauenordination findet Beachtung. Aber nach vielen Fotos aus klassischen Pfarrhäusern hätte man auch welche zeigen können, in denen eine Pfarrerin mit einem Pfarrmann wohnt und ein gleichgeschlechtliches Paar. Über die Auseinandersetzungen, die jüngst in der sächsischen Landeskirche über Homosexuelle in Pfarrhäusern geführt wurde, informiert einer der Radiobeiträge, die die Besucher abrufen können.
Der Besuch der Ausstellung ist auch Gemeindegruppen und Pfarrkonventen sehr zu empfehlen. Sie dürften das Berliner Zeughaus mit gemischten Gefühlen verlassen, stolz auf die Errungenschaften des Protestantismus und entsetzt über Pfarrer, die das Gebot der Nächstenliebe predigen und beherzigen sollten, aber unmenschlichen Regimen dienten.
Informationen
Die Ausstellung "Leben nach Luther. Eine Kulturgeschichte des evangelischen Pfarrhauses" ist bis zum 2. März im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu sehen. Sie ist täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet.
Jürgen Wandel