Reise ohne Rückfahrkarte
Nach einer Tasse scharfen Ingwertees beginnt Schwester Benedicta zu erzählen: "Das Leben in der Zurückgezogenheit ist schon eine Art Kampf", sagt die Eremitin. Durch das offene Fenster ihrer klitzekleinen Klause an der Bonner Michaelskapelle ist der Verkehrslärm von unten im Rheintal leise zu hören. Jeder habe Schwächen, sagt sie. Und die würden im einsiedlerischen Leben besonders offenbar. Sie sei nicht eitel, nein. Sie trägt das unauffällig graue Habit des Servitinnen-Ordens. "Aber meine Wurzelsünde ist der Stolz. Jeder hat ja so seine Ecken und Macken", bekennt die 66-Jährige. 28 Ordensjahre hatte sie schon hinter sich, als sie vor acht Jahren in die Klause zog. "Doch nach einem halben Jahr als Eremitin begann ich, nicht mehr stolz zu sein. Das vergeht einem dann", sagt sie und schaut ihr Gegenüber fest an. Sie weiß, es gibt Eremiten, die am selbst gewählten Alleinsein, am Leben auf Messers Schneide, gescheitert sind. Es gibt immer wieder Rückzüge. Es gibt auch den einen oder anderen Selbstmord unter den "Kollegen".
In Schwester Benedictas kleiner Hauskapelle hängt ein eigenartiger Gekreuzigter: ein Corpus ohne Arme. Warum sie vor einem Behinderten bete, fragten die wenigen Besucher, die zu ihr auf den Berg gelangen, verstört. "Wie gut, dass dann jemand anderes, nicht ich, im Mittelpunkt steht", sagt die Schwester lächelnd und erzählt, dass ihre eremitische Weichenstellung aus einer Berufung erwachsen sei. Denn wenn man so wie sie alles auf eine Karte setze und sich auf den Weg der christlichen Wüstenväter und -mütter mache, dann gehe das ja eigentlich gegen die menschliche Natur. Sie atmet tief durch. Deshalb müsse auch ein moderner Eremit psychisch stabil sein. Und reif, mit Lebenserfahrung. "Am besten hast du deinen Heuwagen schon eingefahren. Wenn du alleine da stehst, kannst du nicht fliehen. Dann wird's delikat."
Worte wie diese, von Menschen, die bewusst in Abgeschiedenheit und Stille leben, lassen aufhorchen. Gibt es sie denn im 21. Jahrhundert überhaupt noch, diese befremdlichen Leute, die abseits vom Alltagslärm ein Leben in konsequenter Armut und Askese wagen? Das inmitten einer von pausenloser Erreichbarkeit geprägten Welt doch eigentlich so gar nichts Modernes, Attraktives an sich hat? Gibt es heute wirklich noch Nachfolger dieser Lebensform, die im Kontext des Christentums aus dem dritten bis fünften Jahrhundert in der ägyptischen Wüste bezeugt ist, in heroischem Einzelgängertum durch Wüstenvater Antonius, in der pädagogischen Variante durch Pachomius, auf den letztlich die Klostergemeinschaften zurückgehen, oder in der Show-Variante durch den bizarren syrischen Säulenheiligen Simeon?
Sehnsüchte erfüllen
Die Antwort mag überraschen: Ja, auch in deutschsprachigen Ländern versuchen seit einigen Jahren immer mehr Menschen, den beschwerlichen eremitischen Weg zu gehen. Und zwar sind hier nicht Zeitgenossen gemeint, die nur kurz einmal aus ihrem Alltag aussteigen, um geistig wie körperlich aufzutanken, auch nicht die modernen Sabbatjahr-Anhänger oder die, die durch Auswandern zu fliehen versuchen, stehen im Fokus, sondern diejenigen Zeitgenossen, die das Hamsterrad ihres Lebens unbefristet verlassen, die die Reise in die Einsamkeit ohne Rückfahrkarte gebucht haben. Es gibt immer mehr dieser Exoten, die sich letztlich Sehnsüchte erfüllen, die viele Menschen umtreiben: Entschleunigung zum Beispiel, einen von Spiritualität bestimmten Alltag, innere Ruhe, Selbsterkenntnis, in zahlreichen Fällen auch den Dialog mit Gott.
Die Bonnerin Schwester Benedicta etwa gehört zu einem wachsenden Kreis von derzeit gut vierzig römisch-katholischen Eremiten, die sich alle drei Jahre treffen. Auch aus Österreich, der Schweiz, Italien, den Niederlanden, Belgien und Tschechien kommen sie angereist: Einsiedler in strengem kirchlichen Habit oder in legeren Jeans, in Straßenkleidung oder mit orthodox anmutendem Gewand unter dem Rauschebart. Über diese Kerntruppe hinaus soll es allein in Deutschland achtzig katholische Eremiten geben. Laut kirchlichen Umfragen hat sich damit die Zahl in den vergangenen zwanzig Jahren vervielfacht. Sicher hatte hier die 1983 ins Kirchenrecht aufgenommene Anerkennung dieser Lebensart eine befreiende Wirkung unter den Aspiranten.
Sein Leben in Abgeschiedenheit dem Heil der Welt zu weihen, Keuschheit und Armut - das sind seither die von der Römisch-Katholischen Kirche festgeschriebenen Voraussetzungen für diese Art von geweihtem Leben. Diese erfüllen in den Grundzügen aber auch die meisten Feld-Wald-und-Wiesen-Einsiedler, deren Zahl natürlich nirgendwo festgehalten ist. Aber macht man sich einmal auf die Suche nach diesen Eremiten in der freien Wildbahn, dann stößt man plötzlich auch hier auf immer mehr Vertreter. Und nicht nur auf diejenigen, die nach einem einsamen Tod in primitiven Waldhütten als kleine Sensation in die Schlagzeilen von Lokalblättern geraten. Es gibt durchaus freie Einsiedler, deren Lebensträume nicht zerschellen.
Im Buch der Blüten
Da ist etwa der heute 57-jährige Schweizer Elektriker Christoph Trummer, der in seinem Jesus-Look über Jahre als fotogener Bilderbuch-Eremit von den Medien verfolgt wurde. In einem Flusstal hatte er sich in eine Sperrholzhütte zurückgezogen, stoisch naturbezogen gelebt, meist meditiert, aber durchaus auch Burnout-Geschädigte beraten. Trummer zeigte sich soweit mit sich im Reinen, dass er sogar auf einem Managerkongress darüber referierte, wie sich im Alltag unnütze Regeln brechen lassen. Da ist die ehemalige Berliner Hausbesetzerin Meike Blischke, 46, die heute, aus einem indischen Bettelorden zurückgekehrt, in den Alpen in einer Höhle lebt. Da ist Gisbert Lippelt, Ex-Offizier eines Kreuzfahrtschiffs, der seit vier Jahrzehnten hoch über der Küste einer winzigen Mittelmeerinsel sich selbst genug ist. Und da ist Anthon Wagner, einst Chef einer erfolgreichen Werbeagentur, den es vor über dreißig Jahren plötzlich auf die Schwäbische Alb in einen alten Schäferkarren zog: in ein zwei mal zwei Meter kleines Eremitenparadies. Wagner reduzierte konsequent alles auf das für ihn absolut Wichtige. Der 63-jährige Philosophie-Fan konzentriert sich hier ganz auf sich und, wenn er das auch nicht so ausdrücken würde, fühlt sich der Schöpfung Gottes nahe. Er sagt es anders: "Ich finde nur hier den tiefen Frieden, den immer neuen Lebenskeim." Nur auf seiner struppigen Wiese herrsche kein "Auge um Auge, Zahn um Zahn". Nur wer im Buch der Blüten lese, sei bei sich daheim.
Auch die Lebenswege zahlreicher weiterer kirchlich gebundener Eremiten sind erstaunlich: Ute Ziegler etwa arbeitete viele Jahre im Stressberuf Ärztin, bevor sie nach einer Sinnkrise mitten in Mannheim ihre Lebensmitte fand: in einer Eremitage im obersten Stock eines Mehrfamilienhauses. Wie den verlorenen Sohn habe Gott sie, die seit langem nichts mit dem Glauben mehr am Hut gehabt hatte, gerufen und ihr den Weg in ein glückliches Leben gewiesen, berichtet Ute Ziegler. Bruder Gereon stand noch in den neunziger Jahren mit prominenten Kollegen wie Jürgen Becker auf der Kabarettbühne, bevor der Wortakrobat, der vom Applaus lebte, eine stille Klause in Friesland der Kölner Großstadtbühne vorzog. "Meine Entscheidung scheint mir unumkehrbar", sagt der 44-Jährige heute. Bruder Raimund, 65, einst Leiter einer psychiatrischen Einrichtung, hatte alle Katastrophen des Lebens, von schwerer Sucht über Straffälligkeit bis zum Scheitern der Partnerschaft hinter sich, als er das ihm entglittene Leben eremitisch wieder in den Griff bekam. Die 35-jährige Schwester Britta sang früher Hardrock und fühlte plötzlich die Berufung, in Regensburg Eremitin zu werden. Sie ist wohl eine der Jüngsten. Heute betreibt sie sogar einen Internet-Blog, geht also mit ihrer Botschaft der Stille ins weltweite Netz.
Dienst an der Welt
Auch Bruder Hugo aus den Niederlanden hat im Vergleich zum Gros der Einsiedler schon sehr jung den Weg in die Klause gefunden. Der 39-Jährige nennt aber nach elf Jahren Eremitenerfahrung auch den Preis, den er wie alle seine Kollegen zahlen muss: Es ist letztlich ein Leben ohne Netz und Boden. Jeder muss sich, wenn er alles auf eine Karte setzt, trotzdem seinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Und das, wegen der gewählten Einsamkeit, trotz oft blendender Ausbildung, unter einfachsten Umständen. Bruder Hugo, der die Stille gesucht hat, verrichtet Küsterdienste an einer immer wieder von Pilgermassen heimgesuchten Kapelle. Keine leichte Aufgabe, hier die für ihn wichtige "Demut und Sanftmütigkeit" aufrecht zu erhalten. Eine "Einbahnstraße zur Hölle" nennt der humorbegabte Bruder Hugo denn auch seinen Dienst. Aber ohnehin setze sich jeder Eremit täglich immer wieder neuen "Trockenzeiten" aus. "Manchmal bin auch ich nur noch zu einem kleinen Teil überzeugt, dass es einen Gott gibt", gibt Bruder Hugo zu. Dann müsse die Stille an ihm arbeiten, damit Gott seine Fehler korrigieren könne.
Zurück zu Schwester Benedicta: Am Nachmittag hat sich bei ihr in der Klause hoch über den Dächern von Bonn ein Paar angekündigt, das sein Kind verloren hat. Da sei sie seelsorgerisch gefordert, sagt die Eremitin, die früher auf Intensivstationen in Krankenhäusern gearbeitet hat. Vielleicht finde gerade der schweigsame Eremit, der sich bewusst aus allen beruflichen und menschlichen Beziehungen herausgezogen hat, in Fällen so großen Leides leichter das rechte, das uneigennützige Wort, vermutet sie. Nicht in dieser, aber für diese Welt da sein, ist denn auch eine besondere Qualität der meisten neuen Eremiten, die sie wiederum in die Nachfolge der alten Wüstenväter und -mütter stellt.
Auch eine Ute Ziegler in Mannheim, ein Bruder Hugo in Holland, Schwester Britta in Regensburg, die "Höhlenfrau" Meike Blischke, selbst Anthon Wagner im schwäbischen Schäferkarren - sie alle öffnen ihre Tür immer wieder für hilfesuchende Zeitgenossen und sprechen mit ihnen. Eremit zu sein, ist gestern wie heute partout keine Flucht vor der Welt. Es ist für viele geradezu ein Dienst an der Welt.
Informationen:
Ebba Hagenberg-Miliu: Allein ist auch genug. Wie moderne Eremiten leben, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2013, 224 Seiten, Euro 19,99.
Ebba Hagenberg-Miliu