"Nichts auf die Beine gestellt." - So lautet das Resümee des Vaters, bevor er an einem Selbstmordversuch stirbt. Seine Tochter ist trotz allem anderer Meinung. Im Roman versucht sie ihrem Vater zu beweisen, dass er kein Versager ist. Und dem Leser auch. Im Epilog schreibt die Autorin über den letzten emotionalen Moment mit ihrem Vater, zwei Tage vor seinem Tod. Wie er diesen Satz "Nichts auf die Beine gestellt" gesprochen habe und sie verwirrt gewesen sei, was er denn damit meinte. Sie erklärt, dass sie nach seinem Tod seine psychische Krankheit, eine bipolare Störung, studiert habe, um die Entscheidung zum Selbstmord zu verstehen. Und sie kam dabei zu dem Ergebnis, dass er im Selbstmord einen Weg gefunden habe, seinen Schmerz zu lindern.
Im Hauptteil des Buches lässt sie ihn selbst zu Wort kommen. Das bedeutet, sie versetzt sich in ihren Vater so hinein, dass sie aus der Ich-Perspektive, aus den Augen des Vaters schreibt. So berichtet sie aus seiner Perspektive über die Ängste, seine Sorgen, alle seine Gefühle. Das beginnt im psychotischen Zustand in der Klinik: Dort erfährt der Leser durch die Gedanken des Vaters mehr über dessen Leben. Dass er geheiratet hat, Lehrer ist, Töchter hat. Er ist verwirrt, besorgt um seine Frau, vermutet sogar, ihr etwas angetan zu haben. Er wirkt verängstigt, er leidet. Zwischendurch tauchen immer wieder Erinnerungen an seine Kindheit auf, schlimme Erfahrungen, die eben zu der psychischen Krankheit geführt hatten, die mit siebzehn Jahren bei ihm diagnostiziert worden war. Doch neben der Angst des Vaters ist beiläufig auch die der Kinder zu spüren. Die Angst vor ihm, vor der nicht kindgemäßen Verantwortung, die er ihnen aufbürdet, und ihre Einsamkeit. Als Kind eines manisch-depressiven Vaters hat man es nicht leicht. Das hat Miriam Toews am eigenen Leibe erfahren. Trotzdem verteidigt sie ihren Vater. Ist das glaubwürdig? Ist das selbstlose Vergebung? War der Selbstmord wirklich mutig? Wahrscheinlich nicht. Und wenn der kranke Vater zu Gott betet, ihn vor Stinktieren zu schützen, aber seine Töchter vergisst, mag das irgendwie heiter klingen. Aber eigentlich ist es egoistisch.
Es macht traurig, dass sich die Autorin als Betroffene nicht das Recht einräumt, auf ihren Vater wütend zu sein. Zwar ist es nachvollziehbar, dass sie ihrer kleinbürgerlich-religiösen Umgebung im ländlichen Kanada, die kein Verständnis für psychische Erkrankungen aufbringt, erklären will, ihr Vater habe doch etwas erreicht, indem er gegen den Willen der Ärzte eine Familie gegründet habe und Lehrer geworden sei. Dass er in seinem Beruf gute Zeiten hatte und die Schüler seinen Humor zu schätzen wussten. Und dass sie den Leserinnen und Lesern vermitteln kann, wie der Vater selbst Gefangener seiner Krankheit war. Darin liegt die Stärke des Buches. Aber was ist mit ihr als Tochter? Eigentlich wünschte sich der Lesende einen größeren Perspektivwechsel, eine Sichtweise, die auch die legitimen Gefühle der Angehörigen von psychisch Kranken und Selbstmördern ehrlich beschreibt, wie sie sich verlassen und gedemütigt fühlen, wie sie sich als ohnmächtig erleben gegenüber der Destruktion der Krankheit, sich selbst als Versager abstempeln, weil sie nicht helfen können. Genau das könnte die Autorin authentisch beschreiben. Aber vielleicht ist gerade die posthume Rechtfertigung ihres Vaters ihr Weg, auch sich selbst zu verzeihen, das eigene Leben versöhnlich zu sehen, das ja mit dem seinen aufs Engste verbunden ist.
Jedenfalls ist das Buch eine kluge und sensible Spurensuche, die hilft, sich in Menschen mit bipolaren Störungen hineinzuversetzen und ihre Gedankengänge und Gefühle mit zu erleben. Es macht Mut, das Leben zu achten, auch wenn es Stückwerk bleibt, denn welches Leben wäre dies nicht?
Miriam Toews: Mr. T., der Spatz und die Sorgen der Welt. Berlin Verlag, Berlin 2013, 258 Seiten, Euro 19,99.
Esther Gardei
Esther Gardei
Esther Gardei ist Journalistin und wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität Bonn.