Wir brauchen Agrarspekulation
Auf den ersten Blick sieht alles ganz einfach aus: Vor einigen Jahren haben Indexfonds begonnen, sich auf dem Terminmarkt für Agrarrohstoffe zu engagieren. Danach kam es zu starken Preissteigerungen, durch die Lebensmittel global verteuert wurden, so dass von Armut betroffene Menschen in existenzielle Bedrängnis gerieten. Viele Kritiker interpretieren dieses zeitliche Zusammentreffen als Kausalität und werfen den Indexfonds vor, "Hungermacher" oder gar "Spekulanten des Todes" zu sein.
Schaut man jedoch genauer hin, erscheint der Sachverhalt in einem ganz anderen Licht. Folgt man der wissenschaftlichen Forschungsliteratur, so hatten die starken Preissprünge der Jahre 2007/8 und 2010/11 nicht finanzwirtschaftliche, sondern realwirtschaftliche Ursachen: Im Vorfeld der ersten Preiskrise war die globale Nachfrage nach Agrarrohstoffen größer als das Angebot, und zwar vor allem aus zwei Gründen, die auch in die Zukunft hinein fortwirken. Zum einen wurde es durch das starke Wirtschaftswachstum in Schwellenländern wie Brasilien und China immer mehr Menschen möglich, ihre armutsbedingten Ernährungsgewohnheiten umzustellen. Der Fleischkonsum nahm zu. Dies ließ die Nachfrage nach Futtermitteln stark überproportional ansteigen. Zum anderen wurden in den USA und in der EU milliardenschwere Subventionsprogramme zur Förderung von Bio-Energie aufgelegt. Diese Nachfragepolitik entzog der Nahrungsmittelproduktion bedeutende Flächen, so dass eine Nutzungskonkurrenz nach dem Motto "Teller und Trog oder Tank" entstand.
Realwirtschaftliche Gründe
Weil das globale Angebot nicht ausreichte, die weltweite Nachfrage zu bedienen, kam es zu einem Abschmelzen der weltweiten Vorräte an Agrarrohstoffen. Im Vorfeld der Krisen wurden historische Niedrigstände erreicht. Deshalb konnten die Lagerbestände ihre Pufferfunktion nicht mehr erfüllen, als wetterbedingt starke Ernteausfälle auftraten. Erinnert sei nur an die Jahrhundertdürre in Australien sowie an die umfangreichen Flächenbrände in Russland. Diese Angebotsrückgänge lösten vorratsbedingt besonders starke Preissteigerungen aus.
Zwei in der Öffentlichkeit wenig beachtete Faktoren traten dann noch verschärfend hinzu: (a) Wichtige Exportnationen machten von einer WTO-Ausnahmeregelung Gebrauch. Auf die stark steigenden Preise für Agrarrohstoffe reagierten sie mit Exportbremsen und sogar mit Exportverboten. So wurden dem internationalen Agrarmarkt bereits produzierte Mengen unnötig entzogen. Diese künstliche Angebotsverknappung hat die Weltmarktpreise für Agrarrohstoffe weiter rasant steigen lassen und für Panik auf den Märkten gesorgt.
(b) Wichtige Importnationen ließen sich von dieser Panik anstecken. Sie reagierten auf die künstliche Angebotsverknappung mit einer ebenso künstlichen - und ebenso verheerenden - Nachfragesteigerung in Form ausgedehnter staatlicher Aufkaufprogramme für Agrarrohstoffe.
Sinnvolle Spekulation
Angesichts dieses Erkenntnisstands ist wirtschaftsethisch auf folgende Punkte aufmerksam zu machen:
1. Seit geraumer Zeit werden Indexfonds moralisch an den Pranger gestellt. Allerdings entbehren die drastischen Schuldzuweisungen, mit denen öffentlich Emotionen geschürt werden, einer sachlichen Grundlage. Die Kritik ist lautstark, aber argumentationsschwach.
2. Sicherlich muss man nicht so weit gehen, in Indexfonds einen Segen zu sehen. Aber ein Fluch sind sie gewiss nicht. Indexfonds erfüllen sinnvolle Funktionen. Sie tragen dazu bei, dass sich Agrarproduzenten gegen das Risiko fallender Preise absichern können.
3. Erfahrungsgemäß verflüchtigen sich die oberflächlichen Vorurteile, wenn man Indexfonds nicht als Spekulanten kennzeichnet, sondern als Anbieter einer Versicherungsdienstleistung: Terminmärkte organisieren Solidarität unter Fremden, und indem Indexfonds Terminmärkte mit Liquidität versorgen, stärken sie genau diese Solidaritätsfunktion und tragen dazu bei, dass die Preisrisiken der Agrarproduktion von jenen Akteuren getragen werden, die sie am besten schultern können.
4. Nach dem gegenwärtigen Stand wissenschaftlicher Erkenntnis sind Indexfonds dem Gemeinwohl nicht abträglich, sondern zuträglich. Sie zu verbieten, würde die Agrarmärkte nicht besser, sondern schlechter funktionieren lassen.
5. Deshalb müssen sich die Kritiker fragen lassen, wie lange noch sie an einer derart ungerecht(fertigt)en und irreführenden Kampagne festhalten wollen. Die Fakten liegen ja nachprüfbar auf dem Tisch. Ist es da nicht allmählich an der Zeit, gravierende Fehleinschätzungen einzugestehen - und zu korrigieren?
Ingo Pies ist Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
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Ingo Pies