Einseitiges Menschenbild
Viele sind unsicher, ob bei der Organtransplantation alles mit rechten Dingen zugeht. Ausgelöst haben dies Unregelmäßigkeiten bei der Organzuteilung, die an einzelnen Transplantationszentren bekannt wurden. Dies rückte die Organtransplantation schlaglichtartig in den Fokus der Öffentlichkeit. Hierdurch hat auch eine Kontroverse breitere Kreise der Bevölkerung erreicht, die bislang eher zwischen medizinischen, philosophischen oder theologischen Experten geführt wurde und eine Grundvoraussetzung der heutigen Transplantationspraxis betrifft: das Hirntodkonzept. Ist der so genannte "Hirntod", der vollständige und irreversible Ausfall von Groß- und Kleinhirn und Hirnstamm gleichbedeutend mit dem Tod eines Menschen?
Auf dieser Annahme baut die heutige Transplantationsmedizin auf. Paragraph 3 des Transplantationsgesetzes schreibt vor: "Die Entnahme von Organen oder Geweben ist (…) nur zulässig, wenn der Tod des Organ- oder Gewebespenders nach Regeln, die dem Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt ist." Als Kriterium hierfür gilt nach dem heutigen Stand der medizinischen Wissenschaft der Hirntod, und so droht die Infragestellung dieses Kriteriums der Transplantationsmedizin ihre Grundlage zu entziehen. Es sind daher verständlicherweise vor allem Mediziner aus dem Umfeld der Transplantationsmedizin, die das Hirntodkonzept vehement verteidigen.
Beim medizinischen oder philosophischen Laien dürfte die Kontroverse die Irritationen über die Transplantationsmedizin verstärken. Wenn schon die Experten sich nicht darüber einigen können, ob ein Organspender zum Zeitpunkt der Organentnahme tatsächlich tot ist, wenn also die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann, dass bei einer Transplantation lebenswichtige Organe wie Herz oder Lunge bei lebendigem Leibe herausgeschnitten werden, ist es dann nicht das Vernünftigste, von einer Organspende Abstand zu nehmen?
Verständnis des Todes
Im Kern geht es bei dieser Kontroverse um das Verständnis des Todes. Mediziner, die eine naturwissenschaftliche Ausbildung durchlaufen haben, tendieren meist dazu, ihn als etwas zu begreifen, das sich auf der Ebene des menschlichen Organismus ereignet. Der Tod ist nach dieser Sicht das biologische Lebensende des Menschen. Ist er aber erst einmal so definiert, werden in einem zweiten Schritt zuverlässige Kriterien für den so verstandenen Tod bestimmt. Für die Verteidiger des Hirntodkonzepts ist der Totalausfall des Gehirns als Steuerungsorgan des Organismus der plausibelste Indikator.
Doch lässt sich der Tod eines Menschen naturwissenschaftlich definieren? Schließlich ist ein Mensch mehr als sein Organismus, und daher sind auch Leben und Tod eines Menschen etwas anderes als organismische Zustände. Die Lebendigkeit eines Menschen manifestiert sich vielmehr in seiner leiblichen Präsenz, wie wir sie in der Begegnung mit ihm erleben. Dementsprechend manifestiert sich der Tod eines Menschen darin, dass es diese Präsenz nicht mehr gibt. Was bleibt, ist ein lebloser Körper, aus dem die Präsenz der Person verschwunden ist, die ihn einmal bewohnt hat. In früheren Zeiten wurde diese Präsenz mit dem Begriff der Seele in Verbindung gebracht und der Tod als das Entweichen der Seele aus dem Körper aufgefasst.
Das Verschwinden der leiblichen Präsenz eines Menschen lässt sich naturwissenschaftlich nicht fassen. Es ist eben von völlig anderer Art als der Ausfall eines Organs wie des Gehirns. Daher kann man diesen auch nicht mit dem Tod einer menschlichen Person identifizieren oder als Kriterium hierfür in Anschlag bringen. Biologische Indikatoren gibt es lediglich für die Leblosigkeit eines Körpers: Das Herz hat aufgehört zu schlagen, der Körper erkaltet, und die Leichenstarre tritt ein.
Zwei Perspektiven
Letztlich geht es um zwei verschiedene Perspektiven auf den Menschen: eine naturwissenschaftlich-medizinische, die den menschlichen Organismus im Blick hat, und eine lebensweltliche Perspektive, die daran orientiert ist, wie wir Menschen in ihrer Lebendigkeit und in ihrem Sterben und Tod erleben, und für die ein Mensch mehr und etwas anderes ist als nur sein Organismus. Die Verteidiger des Hirntodkriteriums erheben implizit den Anspruch, dass ihre naturwissenschaftliche Perspektive maßgeblich und gültig für das Verständnis des Todes eines Menschen ist, und aufgrund des Siegeszugs der Naturwissenschaften in der Moderne, können sie mit großer Akzeptanz rechnen.
Wenn Paragraph 3 des Transplantationsgesetzes vorschreibt, dass vor der Organentnahme der Tod "nach Regeln, die dem Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen", festgestellt werden muss, wird hiermit auf die naturwissenschaftliche Perspektive der Medizin abgestellt. Doch lässt sich ein solcher Prioritätsanspruch der naturwissenschaftlichen Perspektive vernünftig rechtfertigen? Kann es ernstlich strittig sein, dass eine menschliche Person etwas anderes ist als ihr Organismus? Wie kann dann aber ein organismischer Zustand in Gestalt des Totalausfalls des Gehirns mit dem Tod einer menschlichen Person gleichgesetzt werden?
Gewiss ist bei intensivmedizinischen Behandlungen der Totalausfall des Gehirns ein wichtiger Indikator. Aber er ist ein Indikator nicht nur für den Tod des Patienten, sondern auch dafür, dass aufgrund der Irreversibilität dieses Ereignisses die Behandlung ihren Sinn verloren hat: Sie ist nun einzustellen und der Tod des Patienten zuzulassen.
Menschen im Koma
Verteidiger des Hirntodkriteriums stellen in ihrer Argumentation in der Regel auf die besondere Funktion und Bedeutung des Gehirns ab, das dieses im Vergleich zu anderen Organen wie Herz oder Lungen hat. Sie verweisen darauf, was der Hirntod eines Menschen bedeutet: Totalausfall der basalen Vitalfunktionen wie Atmung, Temperaturregulation, Regulation des Salz- und Wasserhaushaltes, Wegfall der Tagesrhythmik, keine Hirnnervenreflexe, keine Kommunikation, kein bewusstes Erleben.
Es verdient Beachtung, dass einiges davon auch auf Menschen im Koma zutrifft. Auch bei ihnen sind die basalen Vitalfunktionen zumeist stark beeinträchtigt, fehlen Tagesrhythmik und Kommunikationsfähigkeit, und die Hirnnervenreflexe sind nur teilweise erhalten. Ob Menschen im Koma auf einer rudimentären Ebene bewusst erleben können, ist zumindest umstritten.
Menschen im Koma nehmen wir aber in ihrer leiblichen Präsenz als Personen wahr. Den Namen auf dem Schild am Fußende des Klinikbettes lesen wir nicht als Bezeichnung eines bloßen Organismus, sondern als Namen einer lebenden Person. Gilt nicht dasselbe auch für hirntote Menschen auf einer Intensivstation, deren Organismus intensivmedizinisch erhalten wird? Warum sollten wir aufgrund der Auskunft, dass die betreffende Person hirntot sei, die lebensweltliche Perspektive, in der wir die leibliche Präsenz einer lebenden Person vor Augen haben, gegen eine naturwissenschaftliche Perspektive eintauschen, in der man uns versichert, dass die betreffende Person trotz gegenteiligen Anscheins tot ist? Inwiefern können die genannten Unterschiede zu Menschen im Koma einen solchen Perspektivenwechsel und ein solches Urteil rechtfertigen?
Eingangs war von den Verunsicherungen in Bezug auf die Transplantationsmedizin die Rede. Tragen Erwägungen, wie sie hier angestellt wurden, nicht zu dieser Verunsicherung bei potenziellen Spendern, Ärzten, politischen Entscheidungsträgern oder im Rechtswesen bei? Wäre es im Interesse eines größeren Aufkommens an Spenderorganen nicht das Beste, die Debatte auf sich beruhen und das Hirntodkriterium unangetastet zu lassen?
Offene Auseinandersetzung
Es ist zu bezweifeln, dass sich die Debatte so aus der Welt schaffen lässt. Denn zu viel steht für das Verständnis des menschlichen Lebens und Sterbens auf dem Spiel. Im Übrigen ist es die Transplantationsmedizin selbst, die mit ihrer Festlegung auf das Hirntodkriterium die Debatte in Gang hält, und so indirekt und ungewollt zu anhaltender Verunsicherung beiträgt. Eine Beruhigung könnte wohl erst dann eintreten, wenn man sich zumindest mit der Möglichkeit auseinandersetzt, dass der Hirntod nicht der Tod des Menschen ist und zwar unter der Fragestellung, was dies für die Organspende am Lebensende bedeuten würde. Es ist ja keineswegs ausgemacht, dass mit der Preisgabe des Hirntodkriteriums eine Organspende unmöglich wird.
Nötig ist eine offene Auseinandersetzung mit der Frage der ethischen Vertretbarkeit einer solchen Spende. Angenommen, der Hirntod ist nicht gleichbedeutend mit dem Tod eines Menschen, und intensivmedizinisch behandelte hirntote Menschen sind lebende Menschen, warum sollte es dann nicht dennoch möglich und ethisch vertretbar sein, dass ein Mensch verfügt, an seinem Lebensende dürfe der Tod intensivmedizinisch so lange hinausgezögert werden, bis, nach Eintreten des Hirntods, Organe oder Gewebe für Transplantationszwecke entnommen worden sind? Und welche ethischen Gründe sprechen dagegen, dass Ärztinnen und Ärzte genau dies tun und einem noch lebenden Patienten Organe entnehmen, der seine Einwilligung hierfür gegeben hat?
Solche Fragen muten allen Beteiligten freilich zu, mit überkommenen Denkgewohnheiten zu brechen. So kann bei Ärztinnen und Ärzten der tief verinnerlichte Grundsatz, dass lebenswichtige Organe nur toten Menschen entnommen werden dürfen, eine hohe Barriere sein. Intuitiv mag dabei die Vorstellung eine Rolle spielen, dass man einen lebenden Menschen mit der Entnahme lebenswichtiger Organe tötet. Doch dies ist bei der Organtransplantation am Lebensende ersichtlich nicht der Fall. Die intensivmedizinische Behandlung kann auch über die Explantation eines Herzens hinaus weitergeführt werden. Der Tod tritt eben nicht mit der Organentnahme ein, sondern mit der Beendigung dieser Behandlung. Damit wird aber der Tod nicht im Sinne aktiver Tötung herbeigeführt, sondern vielmehr zugelassen, nachdem er zuvor hinausgezögert worden ist. Insofern geschieht hier passive Sterbehilfe.
Eines Umdenkens bedürfte es auch im Recht. Auch hier müsste der Grundsatz fallen gelassen werden, dass lebenswichtige Organe nur toten Spendern entnommen werden dürfen. Die Unterscheidung zwischen Lebend-Spende und postmortaler Organspende würde hinfällig. Aber die Organspende am Lebensende muss an das strenge Kriterium der Einwilligung des Spenders gebunden bleiben. Eine Widerspruchslösung, die auch heute schon umstritten ist, scheidet dann definitiv aus.
Freiheit des Einzelnen
Bleiben schließlich die potenziellen Organspender: Sind sie nicht mit der Vorstellung überfordert, dass sie zum Zeitpunkt der Organentnahme am Lebensende nicht tot, sondern noch am Leben sind? Meines Erachtens muss man hier Folgendes in Rechnung stellen: Wenn potenzielle Organspender mit dieser Vorstellung tatsächlich überfordert sind, ist dies der Propagierung des Hirntodkriteriums zuzuschreiben, also der Versicherung, dass Organspender zum Zeitpunkt der Organentnahme tot seien. Es ist diese Suggestion, die viele Menschen verinnerlicht haben. Und hier bedarf es nachhaltiger Aufklärung. Wir kennen ja schon seit Langem die Lebendspende einer Niere oder von Teilen der Leber, also von Organen oder Teilen von Organen, deren Entnahme ein lediglich geringes und vertretbares Risiko für das Leben des Spenders darstellt.
Der Unterschied zu einer Lebendspende am Lebensende besteht darin, dass diese einerseits lebenswichtige Organe wie Herz oder Lunge einschließt, andererseits aber überhaupt kein Risiko für das Leben des Spenders darstellt. Denn dieses ist schon an sein Ende gelangt und wird lediglich zum Zweck der Organentnahme intensivmedizinisch verlängert. Inwiefern soll daher an der Vorstellung einer Lebendspende am Lebensende etwas Schreckliches sein? Die Hürde für eine Lebendspende zu Lebzeiten ist bei nüchterner Betrachtung weitaus höher als die Hürde für eine Lebendspende am Lebensende.
Es ist in die Freiheit eines jeden gestellt, zu entscheiden, ob er an seinem Lebensende Organe spenden will oder nicht. Aber die Frage darf gestellt werden: Was hat er zu verlieren, selbst wenn eine solche Spende als Lebendspende einzustufen ist? Und was haben andere zu gewinnen, die mit Organen, die sie seiner Spende verdanken, vor dem Tod bewahrt werden?
Johannes Fischer
Johannes Fischer
Johannes Fischer (Jahrgang 1947) war von 1993 bis 1997 Professor für Systematische Theologie in Basel und von 1998 bis zu seiner Emeritierung 2012 Professor für theologische Ethik an der Universität Zürich und Leiter des dortigen Instituts für Sozialethik.