Im Nebel verschwunden

Wie ein lutherisch-katholisches Papier die Reformation domestiziert und reduziert
Der evangelische Thomanerchor sang zu Peter und Paul bei einer Papstmesse im Petersdom. Foto: epd/Osservatore Romano
Der evangelische Thomanerchor sang zu Peter und Paul bei einer Papstmesse im Petersdom. Foto: epd/Osservatore Romano
Eine Kommission des Lutherischen Weltbundes (LWB) und des Vatikan hat jüngst ein Dokument zum Reformationsjubiläum veröffentlicht. Darin gingen wichtige Aspekte der Reformation unter, kritisiert Ulrich H. J. Körtner, der an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien lehrt. Und es zeige sich ein Luthertum, das die Orientierung zu verlieren droht.

Die Reformation war ein kirchlich-gesellschaftlicher und geistiger Aufbruch mit weltweiter Ausstrahlung und Wirkungen bis heute." So sieht es die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE), die im vergangenen Jahr auf ihrer Vollversammlung in Florenz zur Feier des Reformationsjubiläums 2017 über Konfessionsgrenzen hinweg aufrief.

Die Bewegung, die sich mit Martin Luthers Kritik am Ablasswesen und seinen 95 Thesen von 1517 verband, entfaltete eine enorme Überzeugungskraft, die eine seit langem ersehnte Erneuerung der Kirche forcierte, vertiefte und ausweitete. Wie die Leuenberger Konkordie von 1973 feststellt, entstanden die evangelischen Kirchen durch die neue befreiende und gewissmachende Erfahrung des Evangeliums der Rechtfertigung allein aus Glauben. "Das Evangelium", erklärt die GEKE in ihrem Aufruf zum Reformationsjubiläum, "lässt aufatmen, vertreibt die Angst, schenkt neues Leben, macht frei, öffnet die Augen für die Not anderer und vertreibt die Trauergeister. Wo auch immer das unter uns erfahren wird, werden die Impulse der Reformation unter uns lebendig."

Kein religiöser Aufbruch?

Von all dem ist in dem gemeinsamen Dokument zum Reformationsgedenken, das eine Kommission des Lutherischen Weltbundes (LWB) und des Vatikan jüngst veröffentlichte, leider kaum etwas zu spüren. Vergebens sucht man dort die Aussage, dass die Reformation ein religiöser Aufbruch war, für den man bis heute nur dankbar sein kann. Dass Lutheraner Grund zur Freude und zum Feiern haben und dass es auch für Katholiken Anlass zur gemeinsamen Freude am Evangelium gibt, wird zwar gegen Ende des Dokuments in wenigen Absätzen ausgesprochen. Doch es überwiegt die Klage über die Spaltung der abendländischen Christenheit. Statt die Trauergeister zu vertreiben, mündet der Text in katholische und lutherische Bekenntnisse von Sünden gegen die sichtbare Einheit der Kirche. Dabei hätte man schon gern etwas genauer erfahren, was die römische Kirche in den Augen der Verfasser damals falsch gemacht hat.

Das Evangelium ist eine Botschaft der Freiheit. Als solches ist es in der Reformation neu zum Klingen und Leuchten gebracht worden. Gott befreit Menschen aus allen falschen Bindungen, von Sünde, Tod und Teufel - auch von allen Menschensatzungen, die innerhalb wie außerhalb der Kirche die Menschen der Knechtschaft unterwerfen. Doch von dieser Freiheit ist nur ganz versteckt die Rede, wenn das Dokument auf Luthers Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zu sprechen kommt, ohne dass die römisch-katholischen Partner sich Luthers Aussagen auch nur irgendwie zu eigen machen würden.

Am Kern vorbei

Die gemeinsame Lesart der lutherisch-katholischen Einheitskommission orientiert sich an der Frage des frühen Luther nach dem gnädigen Gott. Das Dokument erinnert daran, dass Papst Benedikt XVI. Luthers Ringen um den gnädigen Gott ausdrücklich würdigte, als er vor zwei Jahren das ehemalige Erfurter Augustinerkloster besuchte. Joseph Ratzinger hatte freilich aus seiner schroffen Kritik an Luther nie einen Hehl gemacht. Und bei seinem letzten Deutschlandbesuch ging der Papst absichtsvoll am Kern der Theologie Luthers vorbei. Denn er ging nicht auf die Antwort ein, die der Reformator auf seine Frage gefunden hatte. Diese aber war deshalb so radikal, weil Luther aufging, dass er die Frage falsch gestellt hatte. Gottes Gerechtigkeit ist nämlich im Sinne der Gerechtmachung und Gerechtsprechung des Sünders zu verstehen. Sie ist also reine Gabe und kein Verdienst.

Wohl unterstreicht das Dokument in ökumenischer Eintracht den Gedanken, dass der Mensch allein aus Gnade (sola gratia) und allein um Christi willen (solus Christus) gerechtfertigt und gerettet wird. Aber es stellt nicht heraus, dass dies allein durch den Glauben geschieht (sola fide). Und der ist kein menschliches Werk, sondern göttliches Geschenk und begründet eine unbedingte - wenn auch immer wieder angefochtene - Heilsgewissheit.

Es ist anzuerkennen, dass sich das Dokument um eine gemeinsame Darstellung der Theologie Luthers und eine gemeinsame Erzählung der Reformation bemüht. Das geschieht aber um den Preis einer weichgespülten Lesart reformatorischer Theologie und der Abschwächung aller historischen Konflikte zu unglücklichen wechselseitigen Missverständnissen und menschlichen Versäumnissen. So fragt man sich am Ende, warum die Reformation überhaupt stattfinden musste.

Kein klarer Begriff von Reformation

Zu Recht verweist das Dokument auf neuere Ergebnisse der Mittelalterforschung, die die Kontinuitäten zwischen Luther, Reformation und mittelalterlicher Kirche neu gewichten. Über all dem dürfen aber die Diskontinuitäten und Neuaufbrüche nicht übersehen werden.

Leider hat das Dokument keinen klaren Begriff von Reformation. Auch unterscheidet es nicht deutlich genug zwischen Reform und Reformation. So wird ein angemessenes Verständnis der Ereignisse des 16. Jahrhunderts letztlich verbaut. Und der epochale Aufbruch, von dem die GEKE spricht, verschwindet im Nebel einer ökumenischen Theologie, die das Ziel einer sichtbaren Einheit der Kirchen vor die Suche nach theologischer Wahrheit stellt.

Zudem wird die Reformation ganz auf Luther und das Luthertum reduziert. Doch das ist genau das Gegenteil dessen, was im Jahr 2017 auf der Tagesordnung steht. Ohne die herausragende Stellung Luthers für die Reformation in irgendeiner Weise in Abrede stellen zu wollen, ist doch auch die Rolle der übrigen Reformatoren und ihrer Theologie zu würdigen. Dabei geht es nicht an, Luther zum alleinigen Maßstab dessen zu erklären, was reformatorisch ist und was nicht. Ulrich Zwingli, Philipp Melanchthon und Martin Butzer - oder auch Johannes Calvin als Reformator der zweiten Generation - müssen in ihrer theologischen Eigenständigkeit gesehen werden.

Auch ist die Reformation nicht nur ein deutsches, sondern ein gesamteuropäisches Ereignis gewesen, das die Geschichte des Kontinents und die anderer Erdteile bis heute nachhaltig prägt. 1517 ist nur ein symbolisches Datum, neben dem aber andere Ereignisse und Personen stehen. Das neu bewusst zu machen, ist eine wichtige Aufgabe für das bevorstehende Reformationsjubiläum. Und genau darum bemüht sich die GEKE mit ihrem Projekt "Europa reformata".

Reformatorische Traditionen werden ausgeblendet

Nun muss man dem Dokument "Vom Konflikt zur Gemeinschaft" zugutehalten, dass es sich lediglich um ein bilaterales evangelisch-lutherisch/römisch-katholisches Dokument handelt. Doch erstaunt schon, wie sehr andere reformatorische Traditionen und Kirchen ausgeblendet werden, allen voran die reformierten. Lediglich die evangelisch-methodistische Kirche wird erwähnt, weil der methodistische Weltrat vor sieben Jahren der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre des Lutherischen Weltbundes und der römisch-katholischen Kirche (GER) aus dem Jahr 1999 zustimmte. Zwar werden im Rahmen eines Schuldbekenntnisses die täuferischen Kirchen angesprochen. Aber die evangelisch-reformierten Kirchen werden ebenso wenig erwähnt wie die vorreformatorischen Kirchen der Hussiten und der Waldenser, die sich der Reformation anschlossen. So kommen die Reformation und ihre Impulse, die bis heute weiterwirken, nur ganz selektiv in den Blick.

Dabei möchte das Dokument doch dem veränderten historischen Kontext Rechnung tragen, in dem das Reformationsgedenken 2017 stattfinden wird. Es sei dies das erste Reformationsjubiläum im Zeitalter der Ökumene, das erste im Zeitalter der Globalisierung und das erste in einer Zeit, die durch neue religiöse Bewegungen und die gleichzeitige Zunahme der Säkularisierung geprägt wird.

Das alles mag schon stimmen. Aber es verblüfft doch, dass dann das Bild einer evangelisch-lutherisch/römisch-katholischen Ökumene gezeichnet wird, die sich vor allem einem pfingstlerischen und charismatischen Christentum gegenübersieht.

Welche Entwicklungen der Protestantismus in seiner Vielfalt nach der Reformation nahm, welche Rolle dabei die Aufklärung spielte - übrigens auch für den Katholizismus -, welche Wechselwirkungen, aber auch Brüche es zwischen Reformation und Aufklärung gab, darüber erfährt man nichts. Das Entstehen moderner, säkularer Nationalstaaten wird als historische Bürde beklagt, die aus der Reformationszeit geblieben sei. Aber nach einer Klärung der Begriffe "säkular" oder "Säkularismus" sucht man vergebens. Welche Errungenschaft das Entstehen eines säkularen und am Ende auch demokratischen Rechtsstaates war, scheint den Verfassern nicht bewusst zu sein. Und welche Rolle Luthers Zwei-Reiche- oder Zwei-Regimenten-Lehre hierbei spielte, bleibt im Dunklen. Dieses Thema wird ganz ausgespart.

Kein Grund zur Klage

Prominent ignoriert wird auch die innerprotestantische Ökumene, deren Frucht in Europa die Leuenberger Konkordie von 1973 und die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa sind. Auf der Grundlage eines gemeinsamen Verständnisses des Evangeliums und der Sakramente haben für die 107 Mitgliedskirchen der GEKE, darunter die meisten lutherischen Kirchen Europas, verbleibende Lehrunterschiede keine kirchentrennende Bedeutung mehr. Ohne ihre organisatorische Eigenständigkeit und konfessionelle Besonderheit aufzugeben, stehen sie in einer Kirchengemeinschaft, die sich als Einheit in versöhnter Verschiedenheit begreift. Nach diesem Modell gibt es überhaupt keinen Grund, die Existenz eigenständiger evangelischer Kirchen, als Frucht der Reformation, zu beklagen.

Ausdrücklich erklärte die GEKE vor neun Jahren in ihrem Lehrgesprächstext "Die Kirche Jesu Christi", das Modell der Einheit in versöhnter Verschiedenheit sei auch ihr Modell für die Ökumene mit anderen Kirchen, zum Beispiel mit der römisch-katholischen Kirche und den orthodoxen Kirchen. Darüber haben gerade offizielle Gespräche zwischen GEKE und Vatikan begonnen.

Starker Tobak

Das Dokument des LWB und der römisch-katholischen Kirche zum Reformationsjubiläum erwähnt all dies nicht einmal in einem Nebensatz. Lediglich im Zusammenhang der Ausführungen zum gemeinsamen Verständnis von Schrift und Tradition ist einmal von Einheit in versöhnter Verschiedenheit die Rede. Stattdessen ist das Dokument "Vom Konflikt zur Gemeinschaft" auf die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre von 1999 fixiert, der geradezu eine heilsgeschichtliche Bedeutung zugeschrieben wird. Man mag zur GER stehen, wie man will, aber dass ihre Unterzeichnung auch noch als heilsgeschichtlicher Beweis dafür herhalten muss, dass das lutherisch ordinierte Amt im Laufe seiner Geschichte "in der Lage" war, "seine Aufgabe zu erfüllen, die Kirche in der Wahrheit zu bewahren" (Abschnitt 194), ist ebenso starker Tobak wie die Behauptung, schon das Augsburger Bekenntnis der Lutheraner von 1530 sei "dem ähnlich, was wir heute einen differenzierenden Konsens nennen können" (Abschnitt 70). Unabhängig davon, für wie sinnvoll oder problematisch man die Formel vom differenzierten Konsens hält, die deutsche Übersetzung des neuen Dokuments sagt "differenzierender" Konsens, das Augsburger Bekenntnis (AB) bewegt sich theologisch doch wohl in einer anderen Liga als die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Im Übrigen ging es dem AB auch um die innerprotestantische Einheit. Von der liest man dagegen in "Vom Konflikt zur Gemeinschaft" nichts. Stattdessen werden nur die lutherisch-katholischen Dialogdokumente zu Rechtfertigung, Abendmahl, Amt, Schrift und Tradition gesichtet, ohne dass man wirklich Neues erfährt.

Was sollen wir nun dazu sagen? Zum ersten: Die römisch-katholische Kirche gibt in diesem Dokument zu erkennen, dass sie infolge der Reformation zu einer partikularen Konfessionskirche wider Willen geworden ist. Das widerspricht zwar ihrem dogmatischen Selbstverständnis, wie zuletzt das Schreiben der Glaubenskongregation "Antworten auf Fragen zu einigen Aspekten bezüglich der Lehre über die Kirche" zeigte, das - wie schon "Dominus Iesus" - den Kirchen der Reformation ihr Kirchesein abspricht. Aber die empirischen Fakten sprechen nun einmal eine andere Sprache. Was die evangelisch-lutherische Seite betrifft, so vermittelt das neue Dokument den Eindruck eines Luthertums, das an sich selbst irre zu werden und die Orientierung hinsichtlich seiner geschichtlichen Sendung zu verlieren droht. Das ist besorgniserregend. Um so mehr möchte man den anderen protestantischen Kirchen zurufen: Das Reformationsjubiläum 2017 ist zu wichtig, als dass man es dem LWB überlassen darf.

Ulrich H. J. Körtner

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