Vieldeutigkeit ist eine Gnade Gottes

Gespräch mit dem Islamwissenschaftler Thomas Bauer über Ambiguitätstoleranz in der muslimischen Geschichte
Foto: DFG
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Der Islam wird im Westen noch immer häufig als intolerante Religion wahrgenommen, die ihr Weltbild aus eindeutigen Glaubenssätzen konstruiert. Dabei habe gerade in islamischen Ländern auch in Glaubensfragen über viele Jahrhunderte eine hohe Toleranz gegenüber Mehrdeutigkeiten - Ambiguitäten - geherrscht, sagt der Islamwissenschaftler Thomas Bauer. Diesen Schatz gelte es neu zu entdecken - auch in den christlich geprägten Ländern.

zeitzeichen: Herr Professor Bauer, wie beurteilen Sie als Islamwissenschaftler das Beschneidungsurteil von Köln und die sich daran anschließende Debatte?

Thomas Bauer: Zum Urteil selbst will ich mich nicht äußern, da halte ich mich nicht für kompetent. Aber die Debatte danach war entlarvend.

Warum?

Thomas Bauer: Weil in ihr viele islamfeindliche Tendenzen deutlich wurden. Der Islam wurde wieder einmal als archaische Religion verzeichnet. Insgesamt spüren Muslime immer wieder das, was auch Studien zeigen: Deutschland ist eines der islamfeindlichsten Länder Europas.

Nun hat die Politik auf das Beschneidungsurteil ja im Sinne der betroffenen Religionen reagiert, durch ein neues Gesetz ihre Rechte gestärkt und klar geregelt, wann Beschneidung zu tolerieren ist.

Thomas Bauer: Ohne Frage, und das ist notwendig, um ein friedliches Miteinander unterschiedlicher Religionen in Deutschland zu ermöglichen. Es gibt ja ein wachsendes und legitimes Interesse der Muslime in Deutschland nach mehr Gleichberechtigung. Das führt zu insgesamt sehr grundsätzlichen Fragen über das Verhältnis von Staat und Religion und sicher auch über notwendige Toleranz und ihre Grenzen, die an verschiedenen Stellen geführt werden.

Kritiker sagen, der Islam sei aber doch eine Religion der Intoleranz und er müsse - ähnlich wie einst die christlichen Kirchen - erst durch Aufklärung geläutert werden, bevor er eine ähnlich starke Rolle in einer modernen westlichen Gesellschaft spielen kann wie sie. Sie bestreiten das. Warum?

Thomas Bauer: Weil unterschiedliche Religionen ja nicht die gleiche Geschichte haben können. Man kann ja den historischen Prozess der Aufklärung nicht einfach wiederholen. Doch selbst wenn: Welchen Teil der Aufklärung sollte der Islam denn durchlaufen? Es gab ja schließlich auch Philosophen der Aufklärung, für die Tiere gefühllose Maschinen waren. Nein, man kann sicher einzelne Errungenschaften, die uns auch das Zeitalter der Aufklärung gebracht hat, von Muslimen in Deutschland erwarten. Aber das sind weltweite Standards der Zivilisation. Hinter der pauschalen Forderung nach Aufklärung im Islam steht der genauso pauschale Vorwurf, dass Muslime erst lernen müssten, ihre Religion über Argumente der Vernunft zu rechtfertigen.

Müssen sie das nicht? Eingeschränkte Rechte für Frauen, Aufrufe zum Krieg gegen Ungläubige - so etwas spricht nicht für Toleranz und aufgeklärte Vernunft.

Thomas Bauer: Aber auch nicht für eine differenzierte Wahrnehmung und Darstellung des Islams. Das generelle Bild, das in der deutschen Gesellschaft über den Islam vorherrscht, spiegelt ja eben nicht seine Vielfalt wieder. Der normale aufgeklärte Muslim kommt ja gar nicht erst in unser Blickfeld. Stattdessen gibt es viele Berichte über Minderheiten und extreme Gruppen, die dann aber pars pro toto für den Islam genommen werden. Da sind die Bandenkrieger in Mali ebenso Islamisten wie der ägyptische Staatspräsident. Nach dieser Logik könnte man auch Kim Jong Un aus Nordkorea und Peer Steinbrück in einen Topf werfen, weil beide auf irgendeine Weise Sozialisten sind.

Netter Vergleich, aber er lenkt nicht davon ab, dass es im Islam gewaltbereite Strömungen gibt, die nichts von einem toleranten Umgang miteinander halten ...

Thomas Bauer: ... und auch nichts von der islamischen Tradition. In Mali zerstören sie ja gerade Zeugnisse der muslimischen Kultur. Und warum tun sie das? Weil es sich beim Islamismus um eine moderne Ideologie handelt, die erst im 20. Jahrhundert entstanden ist und mit der eigenen Geschichte nichts zu tun haben will.

Weil sie von Toleranz geprägt war?

Thomas Bauer: Auf jeden Fall von einem hohen Maß an kultureller Ambiguitätstoleranz - und das über viele Jahrhunderte.

Was verstehen sie unter Ambiguitätstoleranz?

Thomas Bauer: Der Begriff stammt aus der Psychologie. Es geht darum, wie Menschen Phänomene der Zwei- oder Mehrdeutigkeit, Vagheit, Widersprüchlichkeit aushalten können. Manche kommen sehr gut damit klar, bringen sogar Vieldeutiges bewusst hervor, zum Beispiel als Kunst. Andere haben damit Probleme und wollen, dass um sie herum möglichst alles eindeutig und klar geordnet ist und eben keine Widersprüchlichkeiten existieren. Diesen Ansatz kann man auch auf die Analyse von Gesellschaften ausdehnen. Die historische Anthropologie beschäftigt sich unter anderem mit solchen Dingen.

Und was hat sie herausgefunden?

Thomas Bauer: Zum Beispiel, dass in vielen Jahrhunderten in vielen Regionen der islamischen Welt eine überraschend große Ambiguitätstoleranz existierte. Das bedeutet, dass man mit widersprüchlichen Normen, mit unterschiedlichen Koranauslegungen, mit Rechtsnormen, die von den Rechtsgelehrten unterschiedlich gedeutet wurden, sehr gut leben konnte.

In ihrem Buch schreiben Sie, dass es sogar als Zeichen von Göttlichkeit gesehen wurde, wenn ein Text oder eine Aussage im Koran besonders vieldeutig und eben nicht so ganz klar zu erfassen war.

Thomas Bauer: Korangelehrte haben es in klassischer Zeit als Gnade Gottes angesehen, wenn Koranverse vieldeutig waren. Denn dann ist es attraktiver für den Menschen, sich mit dem Buch Gottes zu beschäftigen. Es ermöglicht dem, dem eine Auslegung gelingt, dadurch einen Lohn zu erwerben. Und es macht den Menschen den Glauben und das Leben leichter, wenn sie zwischen verschiedenen Bedeutungen wählen können, anstatt nur eine einzige akzeptieren zu müssen.

Aber eindeutige Aussagen sind doch viel leichter zu handhaben, sie reduzieren Komplexität.

Thomas Bauer: Gleichzeitig können Sie aus verschiedenen Möglichkeiten diejenige auswählen, die am besten zu Ihrem Leben passt. Das ermöglicht natürlich auch eine größere Anpassungsfähigkeit an sich wandelnde Umstände.

Über welche Zeit reden wir mit Blick auf die islamische Geschichte?

Thomas Bauer: Nicht über ihren Beginn, denn da herrschten heftige theologische Auseinandersetzungen, die dann aber, mit wenigen Ausnahmen, eher in den Hintergrund rückten. Ich habe mich im Wesentlichen in meinem Buch auf die Zeit zwischen 1100 und 1500 konzentriert. Ab dem 12. Jahrhundert ist der sunnitische Islam etwa in der Form entwickelt, in der er dann die folgenden Jahrhunderte prägt. Mir war es ein sehr großes Anliegen zu zeigen, dass diese Zeit enorm fruchtbar war, dass es viele konstruktive Diskussionen gab und dass der Islam sich in dieser Zeit durchaus weiterentwickelt hat.

Warum war Ihnen das wichtig?

Thomas Bauer: Weil selbst viele Muslime seit dem 19. und 20. Jahrhundert in der Auseinandersetzung mit der Moderne das fast vergessen haben. In dem Gefühl der Unterlegenheit gegenüber dem Westen hat man sich eher in die ferne Vergangenheit zurückgesehnt. Die Nationalisten, die sich an westlichen Idealen orientierten, sahen den Islam des 9. Jahrhunderts als goldenes Zeitalter an. Damals wurden die griechischen Philosophen ins Arabische übersetzt, und es gab eine rationalistische Theologenschule. Danach habe die lange endlose Zeit des Niedergangs begonnen. Und für die fundamentalistischen Vertreter ist das Ideal natürlich die Zeit des Propheten und der folgenden beiden Generationen, in der der Islam mächtig und "unverdorben" war. Nach ihrer Lesart kam dann durch die Abkehr von der Religion der schier endlose Niedergang. Dieses Festhalten an der Idee des goldenen Zeitalters verhindert vielfach in islamischen Ländern, dass man in der Moderne ankommen kann, weil man immer so viel Geschichte hat, die als Ballast empfunden wird. Dabei ließe sich doch an einer Tradition anknüpfen, die eben keineswegs mit der Gegenwart unversöhnbar ist, sondern die dynamisch viele Ansätze ermöglicht.

Das "goldene Zeitalter" der Ambiguitätstoleranz ging also irgendwann zu Ende. Woran lag das?

Thomas Bauer: Daran, dass sich die Menschen in den islamischen Ländern zu der Globalisierung, die vom Westen ausging und im 19. Jahrhundert allmächtig war, irgendwie verhalten mussten. Es wurde zunehmend schwieriger, an der alten Ambiguitätstoleranz festzuhalten, man musste klare Positionen beziehen. Die islamischen Länder wollten an der westlichen Moderne partizipieren und haben erst einmal alle möglichen dort herrschenden Werte übernommen. Das sind die Werte des 19. Jahrhunderts. Deshalb haben wir heute die viktorianische Sexualmoral in allen islamischen Ländern. Die war nicht kompatibel mit einem Großteil der ambigen Dichtung, die nun gegen alle Normen verstieß. Es gab ja ziemlich viele erotische Dichtungen, ein großer Teil der ganz zärtlichen Liebesdichtungen ist homoerotisch. Das wollte man jetzt nicht mehr hören. Die ganze wunderbare arabische Dichtungstradition schien als nicht mehr brauchbar für den Kampf der Moderne, weil sie zu vieldeutig, zu verziert, zu wenig markig und eindeutig war.

Sie sagen, die westliche Moderne drängte auf Eindeutigkeit, auf klare Interpretationen, die keine verschiedenen Wege zulassen. Für mich war eigentlich die westliche Moderne im Geiste der Toleranz und Aufklärung doch unter anderem von der Erkenntnis geprägt, dass es nicht die eine Wahrheit gibt, wir sie, wenn es sie gäbe, überhaupt nicht erkennen können und dass es darauf ankommt, die verschiedenen Wirklichkeiten gegeneinander auszubalancieren. Entspricht diese Toleranz nicht einer Kultur der Ambiguität?

Thomas Bauer: Ja, aber das Vieldeutige wurde doch eher abgedrängt in die Bereiche der Kunst, wo man Narrenfreiheit genießt. Und selbst hier gab es immer wieder Gegenbewegungen, denken Sie an die serielle Musik, in der alles bis zur letzten Tonhöhe und Lautstärke und Dynamik geregelt sein will. Oder auch an die moderne Architektur mit ihrer sehr eindeutigen Formensprache. Einerseits ist natürlich ein Bewusstsein da, dass es nicht die eine Wahrheit gibt, aber in der Wissenschaft, Wirtschaft und Politik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts spielte das keine bedeutende Rolle. Und was nun die Toleranz betrifft: Toleranz darf man nicht mit Ambiguitätstoleranz verwechseln. Das sind zwei unterschiedliche Dinge.

Foto: epd/Stefan Boness/Ipon
Foto: epd/Stefan Boness/Ipon

"Es geht darum, wie Menschen Phänomene der Mehrdeutigkeit aushalten können."

Worin liegt der Unterschied?

Thomas Bauer: Ambiguitätstoleranz beschreibt, wie ich Phänomene der Vieldeutigkeit, der Widersprüchlichkeit erlebe. Toleranz bedeutet, dass ich auch das in seiner Existenz zulasse, was ich prinzipiell ablehne. Jemand mit einer hohen Ambiguitätstoleranz, der mit einer fremden religiösen Position konfrontiert wird, sagt: "Naja, es könnte sein, dass das auch richtig ist, auch wenn es nicht auf Anhieb mit dem zusammenpasst, was ich bisher geglaubt habe." Wer sich tolerant verhält, sagt hingegen: "Nein, das ist völlig falsch, das ist rundweg abzulehnen, aber, bitte, wenn er es so sieht ... ich tue ihm dennoch nichts." Es ist aber wohl schon so, dass Gesellschaften mit einer relativ hohen Ambiguitätstoleranz auch toleranter sind gegenüber dem, was sie ablehnen.

Eine Haltung, die zumindest den fundamentalistischen Strömungen des Islam heute fremd ist. In ihrem Buch schreiben sie: "Im radikalen Islamismus blickt der Westen der Fratze seiner eigenen Ideologisierung und Disambiguierung der Welt ins Auge." Also ist der Westen Schuld daran, dass der Islam sich so entwickelt hat?

Thomas Bauer: Das ist eine Formel, die man mir mehrfach unterstellt hat. Aber ich lehne sie ab. Der Westen durchlief seine eigenen Entwicklungen, von ihm ging eine Globalisierung aus, mit der sich alle anderen Menschen auf der Welt irgendwie auseinandersetzen mussten. "Schuld" ist hier nicht die richtige Kategorie. Wir reden über die Ergebnisse der Auseinandersetzung einheimischer Eliten mit dem Westen. Sie reagierten zum Teil mit einer fundamentalistischen und radikaleren islamischen Ideologie oder aber auch mit der Übernahme westlicher Ideologien wie dem Nationalismus oder dem Sozialismus.

Es wäre also an der Zeit, sich wieder an die Vorzüge der Mehrdeutigkeit zu erinnern. Aber das gilt doch für den Westen genauso wie für den Islam, oder?

Thomas Bauer: Ambiguitätstoleranz ist ja eine innere Eigenschaft, die kann man nicht prinzipiell einfordern, weder vom Westen noch von Muslimen. Aber wir sehen ja auch, dass gegenwärtig zum Beispiel unter Muslimen in Deutschland viele Debatten stattfinden, die genau in Richtung einer stärkeren Ambiguitätstoleranz im Islam zu führen scheinen. Doch natürlich gerät jede Religionsgemeinschaft unter Druck, wenn von außen immer wieder Forderungen an sie herangetragen werden. Und das stärkt dann wieder die Ideologen der fundamentalistischen Strömung.

Ein Phänomen, das es auch unter Christen gibt. Immerhin haben zum Beispiel weltweit die Pfingstler einen enormen Zulauf.

Thomas Bauer: Sogar auf der religionsskeptischen Seite macht sich ein Vulgäratheismus breit, der genauso fundamentalistisch ist. Es scheint ein Fluch der Moderne zu sein, dass solche Strömungen immer wieder hochkommen. Es hat sie ja immer wieder gegeben. Sie haben sich nur nie durchgesetzt über einen längeren Zeitraum und über ein größeres Gebiet.

Die Globalisierung, in der wir leben, ist ja eine andere als die des 19. Jahrhunderts. Es ist nicht mehr der Westen, der allein bestimmt, es gibt nicht nur ein Zentrum, eine Wahrheit, eine klare Linie. Die Welt ist komplex vernetzt, und einfache Lösungen greifen nicht. Auch die großen Religionen gehen immer stärker aufeinander zu. Sind wir möglicherweise offener geworden für Ambiguität? Und was hilft sie uns im Streit um den Bau von Moscheen in Deutschland oder um Kopftücher?

Thomas Bauer: Die Praxis kann helfen, der Kontakt, das Gespräch - mehr als theoretische Überlegungen mit irgendwelchen geschichtlichen Entwicklungen, die man hatte oder nicht hatte. Aber sicherlich hilft eine höhere Ambiguitätstoleranz auch dabei, einen gelassenen Blick auf die Welt zu entwickeln. Und das kann manchen Streit entschärfen.

Gibt es auch eine Grenze der Ambiguitätstoleranz?

Thomas Bauer: Natürlich. Im Extremfall kann sich Ambiguitätstoleranz auch zu Heuchelei oder gar Anarchie entwickeln. Die Gefahr besteht bei uns nun nicht. Aber dennoch gilt: Es muss ein richtiges Maß an Ambiguitätstoleranz geben, sonst bedroht sie sich selber. Nehmen Sie zum Beispiel die Fahrräder, die in der Einfahrt unseres Institutes abgestellt werden. Eigentlich ist das verboten, aber solange nur eine Reihe Fahrräder dort stand, sagte kein Mensch etwas dagegen. Dann wurden aber drei Reihen Fahrräder in der Einfahrt abgestellt. Die Feuerwehr kam nicht mehr durch. Das zulässige Maß an Ambiguität war überschritten. Was war die Konsequenz? Jede Ambiguität wurde beseitigt und seitdem steht kein einziges Fahrrad mehr in der Einfahrt.

Thomas Bauer, Jahrgang 1961, ist Professor für Arabistik und Islamwissenschaft an der Universität Münster. Er ist Gründer des "Centrums für religiöse Studien" und Vorstandsmitglied des Exzellenzclusters "Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne" . 2011 erschien sein Buch "Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams" im Verlag der Weltreligionen/Insel Verlag Berlin. Für seine Arbeit wurde er in diesem Jahr mit dem Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet.

Das Gespräch führte Stephan Kosch am 4. März in Münster.

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Thomas Bauer

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