Verdi und Wagner, alle beide
Richard Wagner und Giuseppe Verdi. Beide wurden vor zweihundert Jahren geboren (22. Mai und 10. Oktober). Doppeljubiläum der beiden größten Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts. Welch ein dankbares Thema für den Kulturbetrieb. Neue Biographien der beiden Komponisten sind erschienen. Opernübertragungen auf allen Kultursendern - aus der New Yorker Met, der Mailänder Scala, später im Jahr natürlich aus Salzburg und Bayreuth. Beliebte Reihen wie "Oper in einer Stunde" werden alle Verdi- und Wagner-Opern vorstellen. Dazu Fernsehübertragungen auf arte und 3Sat. Und natürlich die Opernbühnen selbst. In der Programmvorschau der Hamburger Staatsoper wird für Mai/Juni 2013 ein "Wagner-Marathon" angekündigt: alle zehn großen Opern im Spielplan, darunter der gesamte Ring. Ähnlich werden es die anderen Bühnen halten. Das Event-Marketing läuft überall auf vollen Touren, am intensivsten in Deutschland, das nach wie vor die meisten Opernhäuser der Welt aufweist.
Verdi oder Wagner? Das war lange Gegenstand eines geradezu weltanschaulichen Streits zwischen Musikliebhabern. Die Revolution von 1848 und das italienische Risorgimento, das ließ sich noch zusammendenken, aber dann: Vorrang des Orchesters oder der Singstimme, Gesamtkunstwerk oder Welttheater auf dem Triebgrund des Eros, mythische Geschichten oder Sujets romantisch-realistischen Zuschnitts, ästhetische Überwältigung im Subjektrausch oder emotionale Bewegtheit durch vorwärtstreibende Aufschwünge, Gängelung durch Leitmotivik oder Überraschtwerden durch neue Einfälle, Oper als neue Kunstreligion oder Oper als musikalisch ausgesungene Liebes-und Lebensstragik.
Sicher ist Richard Wagner († 1883) mit seiner grundstürzenden Reform der Oper der revolutionärere Jahrhundertkünstler. Doch zugleich ist er auch der, dessen Musik das größere Gefährdungs- und Suchtpotenzial aufweist. Wagnerianer zu sein, ist quasireligiöse Berufung. Wenn im Lohengrin-Vorspiel ätherische Sphärenklänge das Niedersinken der Gralsschale schildern, soll der Hörer nach Wagners eigener Deutung "mit wunderbar heiliger Regung gefangen" sein.
Kürzlich war ich in der Hamburger Aufführung des "Falstaff". Ich liebe dies heitere Meisterwerk des greisen Giuseppe Verdi (von 1893, Verdi starb 1901). Wie ein erotisch Scheiternder dennoch seine Souveränität bewahrt und, nachdem er im nächtlichen Park von Windsor gefoppt und gequält wurde, die Schlußfuge "Tutto nel mundo e burla" anstimmt, das ist großartig und von tiefer Einsicht ins Menschenwesen bestimmt. "Tutti gabbatti", ja alle sind wir Geprellte, und zugleich angenommen. Dank für die Gnade des Lebens in strahlendem C-Dur.
Ich erinnerte mich an meine erste Wagner-Oper, "Die Meistersinger von Nürnberg". Ich hatte Adornos "Versuch über Wagner" gelesen und wollte deswegen nichts wissen von dem Bayreuther Gesamtkünstler, dessen rauschhafte Musik den deutschen Sonderweg in den schrecklichen Weltkrieg und den Untergang begleitet hatte. Aber ich hatte mich von einem guten Freund überreden lassen und wurde verzaubert von der Szene, in der Hans Sachs über den Zusammenhang von Fliederduft, Liebesgefühl und Gesang nachdenkt: "Wie duftet doch der Flieder so mild, so stark, so voll. Mir löst es weich die Glieder, will, dass ich was sagen soll." Die Prügelszene in den Gassen Nürnbergs, dann Horn und Ruf des Nachtwächters, der alles beruhigt. Es war wunderbar. Ich liebe beide Komponisten. Ich denke nicht daran, sie gegeneinander auszuspielen.
Aber ich nehme mir auch vor, mich nicht einfach verzaubern zu lassen, eingedenk des Kritikgeistes Adornos: "Erst wenn Musik, die zauberischste aller Künste, den Zauber brechen lernt, den sie selbst um alle ihre Gestalten legt", meinte der, könne sie zu jener Freiheit des Subjekts beitragen, die sie beschwört.
Hans-Jürgen Benedict
Hans-Jürgen Benedict
Hans-Jürgen Benedict war bis 2006 Professor für diakonische Theologie an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie des Rauhen Hauses in Hamburg. Seit seiner Emeritierung ist er besonders aktiv im Bereich der Literaturtheologie.