Bruder Außenseiter

Bayard Rustin war der unbekannte Held an Martin Luther Kings Seite
Bayard Rustin saß in seinem Leben fünfundzwanzig Mal im Gefängnis. Foto: dpa/Warren K. Leffler
Bayard Rustin saß in seinem Leben fünfundzwanzig Mal im Gefängnis. Foto: dpa/Warren K. Leffler
Als Martin Luther King 1963 in Washington seine berühmte Traum-Rede hielt, stand hinter ihm Bayard Rustin. Obwohl selbst ein brillanter Stratege der Bürgerrechtsbewegung und Mentor von King, musste er im Hintergrund bleiben. Denn seine Homosexualität galt als Skandal. Der Journalist Martin Rothe porträtiert den engagierten Pazifisten, der vor 25 Jahren starb.

Die National Mall in Washington ist das Walhalla der amerikanischen Demokratie: Auf ihren vier Kilometern Länge vom monumentalen Kongressgebäude westwärts zum Potomac-Fluss ist die parkähnliche Prachtpromenade von Museen und riesigen Ehrenmalen für die wichtigsten Gründer und Bewahrer der Republik gesäumt. Im Jahr 2011 wurde der exklusive Kreis erweitert: Neben George Washington, Thomas Jefferson, Abraham Lincoln und Franklin D. Roosevelt wird nun erstmals ein Afroamerikaner geehrt: der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King junior. Sein Denkmal, eine überlebensgroße Plastik aus weißem Marmor, wurde am 28. August 2011 vom ersten schwarzen US-Präsidenten eingeweiht - auf den Tag genau 48 Jahre nach jenem "Marsch auf Washington", der der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung den Durchbruch brachte.

Doch dieser Marsch war keine One-Man-Show Kings: Organisiert hatte ihn Bayard Rustin, einer der originellsten und einflussreichsten Köpfe der Bürgerrechtsbewegung. Ihm war es im Vorfeld gelungen, eine Brücke zwischen schwarzen Bürgerrechtlern, Kirchenleuten, Gewerkschaftern und weißen Liberalen zu schlagen. Er hatte dafür gesorgt, dass diese bis dahin größte Massendemonstration der US-Geschichte friedlich und würdevoll ablief - und so die ersehnte Wirkung in der amerikanischen Gesellschaft erzielen konnte. Heute ist Bayard Rustin weitgehend unbekannt. Bislang hat ihm weder Washington noch sonst eine amerikanische Stadt ein Denkmal gesetzt. Dafür gibt es einen Grund: Bayard Rustin lebte offen schwul. Und das im Jahre 1963, ja sogar schon in den Vierzigerjahren. Um die Bürgerrechtsbewegung nicht zu gefährden, hielt er sich im Hintergrund. Denn er wurde von weißen wie schwarzen Gegnern stigmatisiert.

Martin Luther King hielt an Rustin fest, denn er schätzte ihn als Vordenker und als Organisator. "Was die beiden eng verband, war ihr Graswurzel-Ansatz und ihre starke Überzeugung, die politischen und sozialen Probleme seien nur gewaltlos zu lösen", berichtet der deutsche Theologe Heinrich Grosse, der 1967 als Student in den USA King und die Bewegung der Schwarzen hautnah erlebte. Bayard Rustin habe zu den Persönlichkeiten gehört, die den jungen Martin Luther King besonders prägten. Beide waren sich 1955 begegnet, anlässlich des Protests gegen die Rassentrennung in den Bussen von Montgomery/Alabama: "King hat erst dort durch Leute wie Rustin mehr über Mahatma Gandhis Techniken des gewaltlosen Widerstandes" erfahren, so Grosse.

Die Philosophie der Gewaltlosigkeit hatte Bayard Rustin schon daheim in Pennsylvanien kennengelernt. Geboren vor hundert Jahren, am 17. März 1912, wuchs er bei seiner Großmutter Julia, einer engagierten Quäkerin, auf. Von ihr lernte er schon früh, gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen - und zwar gewaltlos. In einer weitgehend nach Rassen getrennten Umgebung besuchte er als einer von wenigen Schwarzen die Oberschule und war dort ein Football-Star. Rustin war dafür bekannt, dass er klassische Verse rezitierte, wenn er gegnerischen Spielern nach einem Zusammenprall wieder auf die Füße half. Schon damals als Schüler begann er seinen lebenslangen Marsch für gleiche Würde, indem er etwa bei Auswärtsspielen seiner Mannschaft darauf bestand, dass schwarze und weiße Spieler gemeinsam untergebracht wurden und nicht, wie damals üblich, nach Rassen getrennt. Oder indem er sich im Kino oder Restaurant bewusst auf für Weiße reservierte Plätze setzte und dafür Festnahmen in Kauf nahm. Sein Leitgedanke: "The proof that one truly believes is in action."

Mut und Charisma

Schon damals beeindruckte Bayard Rustin durch Mut, Charisma und viele Begabungen. "Bayard war ein sehr gut aussehender junger Mann und er konnte singen wie eine Nachtigall", schwärmt eine frühere Nachbarin im Dokumentarfilm Brother Outsider. The Life of Bayard Rustin. Während seines Studiums gastierte er mit einem Gesangsquartett überall in den Staaten. Später nahm er Schallplatten mit eigenen Liedern auf. Dass Rustin sich zu Männern hingezogen fühlte, hatte er der Großmutter schon früh zu verstehen gegeben. Sie respektierte das. Und er hielt seither nie damit hinter dem Berg.

Nach einer kurzen Sympathie für die US-Kommunisten begann Rustin, sich im ökumenisch-pazifistischen "Versöhnungsbund" zu engagieren. Hier wurde für ihn der politisch engagierte Theologe A. J. Muste zu einer Art Vaterfigur. "Als ich ihn 1940 traf", erinnert sich Rustin später, "war ich tief beeindruckt. Muste glaubte nicht daran, dass Lobbying und Briefeschreiben allein reichten. Man müsse handeln - und dabei seinen Körper einsetzen." Etwa durch Sitzstreiks und andere Aktionen zivilen Ungehorsams. Bald zog der knapp 30-jährige Rustin für Mustes Organisation durch die USA und trainierte Ortsgruppen im gewaltlosen Widerstand gegen die Rassentrennung. Dabei orientierte er sich an Gandhis Vorgehen in Indien. Beim Kriegseintritt der USA Ende 1941 verweigerte Rustin aus Gewissensgründen den Wehrdienst, was ihm drei Jahre Haft einbrachte. Diese Zeit nutzte er, um Laute spielen zu lernen. Sein damaliger Partner, ein weißer Student, hatte ihm das Instrument ins Gefängnis geschmuggelt. Und nach Bayards Haftentlassung bezogen sie eine gemeinsame Wohnung in New York.

25 mal verhaftet

1947 testete Rustin die Umsetzung eines neuen Urteils des Obersten US-Gerichtshofes, das Rassentrennung in landesweit verkehrenden Bussen verbot. Bei dieser Tour, dem ersten der so genannten "Freedom Rides", wurde er in North Carolina verhaftet und von einem rassistischen Richter verurteilt, mehrere Wochen als Kettensträfling zu schuften. Insgesamt sollte Bayard Rustin es auf 25 Gefängnisaufenthalte bringen.

Wenn er aus politischen Gründen festgenommen wurde, stärkte ihn das innerlich umso mehr. Dass er jedoch 1953 im kalifornischen Pasadena wegen eines "moralischen Vergehens" verhaftet wurde, als er auf dem Rücksitz eines Autos in der Umarmung mit zwei Männern angetroffen wurde, versetzte seiner Lebenslust eine tiefe Wunde. Seitdem war er als "Perverser" öffentlich diskreditiert. Er verlor seinen Job bei Pfarrer Muste, damit dessen Organisation keinen Schaden erlitt. Und viele schwarze Mitstreiter wandten sich von ihm ab.

Nicht so der 17 Jahre jüngere Martin Luther King: Seit ihrer ersten Begegnung im Umfeld des Busboykotts in Montgomery 1955 beriet sich der Baptistenpfarrer häufig mit Bayard Rustin. Gemeinsam organisierten sie einen Dachverband und mehrere gewaltlose Kampagnen. Wahrscheinlich war Rustin auch häufig als Ghostwriter für King tätig, der mehr und mehr zum omnipräsenten Gesicht der Bewegung wurde.

Fallen gelassen

Doch 1960 wurde die freundschaftliche Zusammenarbeit der beiden auf eine harte Probe gestellt. Um zu erreichen, dass sich die Demokratische Partei des damaligen Präsidentschaftskandidaten John F. Kennedy für die Rassengleichheit stark machte, bestand der Kongressabgeordnete Adam Clayton Powell darauf, dass der "unmoralische" Bayard Rustin aus der Führerriege der Bürgerrechtsbewegung entfernt wurde. Andernfalls wolle er das Gerücht lancieren, Rustin und King hätten ein Verhältnis miteinander. Angesichts dieser Bedrohung für seine Arbeit sah sich King gezwungen, Rustin fallen zu lassen. Dieser zog sich tief enttäuscht zurück. Die Beziehung zwischen den beiden Vordenkern der Bewegung war seither belastet.

Dass die beiden 1963, vor dem "Marsch auf Washington", wieder zusammenfanden, dürfte auch A. Philipp Randolph zu verdanken sein. Dieser große alte Mann der afroamerikanischen Gewerkschaftsbewegung war einer der wenigen Leute, die immer zu Rustin hielten. Diese Unterstützung wurde noch einmal besonders nötig, als rassistische Politiker wie Senator Strom Thurmond den "Marsch auf Washington" in letzter Minute zu verhindern suchten, indem sie mit der zehntausend Seiten starken Akte des fbi wedelten. Doch diesmal stellten sich die Führer der Bürgerrechtsbewegung schützend vor ihren unentbehrlichen Organisator.

Der von Rustin orchestrierte Marsch wurde ein sensationeller Erfolg: "Er rüttelte Amerika auf. Er rüttelte den Präsidenten und seine gesamte Administration auf. Er hob die Bewegung auf ein neues Niveau und trieb uns neuen, unbekannten Ufern zu", erinnert sich die afroamerikanische Kongressabgeordnete Eleanor Holmes Norton, die damals als junge Freiwillige mithalf. Und elf Monate nach dem Marsch unterschrieb Kennedys Nachfolger Lyndon B. Johnson den "Civil Rights Act", mit dem die noch bestehende Rassendiskriminierung gesetzlich aufgehoben wurde.

Notwendige Kompromisse

Für die Schwarzen brach eine neue Ära an. Bayard Rustin erkannte: "Wir gehen nun von einer Periode des Protestes über in eine der politischen Verantwortung." Das erforderte Kompromisse. Damit die Bürgerrechtsbewegung vonseiten der Gewerkschaften und der Regierung Johnson weiterhin Unterstützung erhielt und um die soziale Not vieler Afroamerikaner zu beheben, hielt Rustin es für klüger, sich dem beginnenden Vietnamkrieg nicht zu widersetzen. Dies kostete ihn viele Sympathien bei seinen bisherigen pazifistischen Mitstreitern, auch wenn er im weiteren Verlauf des Krieges seine Haltung korrigierte. Ähnlich hart verliefen seine Debatten mit schwarzen Nationalisten: Während sie aggressiv für Separation und "Black Power" eintraten, argumentierte Rustin für die Integration.

In den Siebziger- und Achtzigerjahren reiste der inzwischen weißhaarige "Public Intellectual" durch die Welt und engagierte sich für Flüchtlinge sowie gegen Atomwaffen und die südafrikanische Apartheid. Innenpolitisch rückte für ihn aber der Kampf für die Gleichberechtigung homosexueller Männer und Frauen in den Vordergrund. Mitte der Achtzigerjahre äußerte Rustin: "Das Barometer, wo wir in Fragen der Menschenrechte stehen, sind heute nicht mehr die Schwarzen, sondern die Schwulen und Lesben." Zugleich forderte er die "Gays" auf, sich auch für andere Minderheiten einzusetzen: "Wir alle sind eins!" In welchem Kontext auch immer er ans Mikrofon trat, seine Grundbotschaft war immer: "Jedes Gemeinwesen braucht eine Gruppe von engelsgleichen Unruhestiftern!" Vor 25 Jahren, am 24. August 1987, ist Bayard Rustin, der große "angelic troublemaker", in New York gestorben.

DVD-Tipp:

Filmporträt "Brother Outsider. The Life of Bayard Rustin" (engl.), Regie: Bennett Singer und Nancy Kates, USA 2003.

Erhältlich unter: www.rustin.org

Martin Rothe

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