Am Anfang Petrus?

Wie sich aus der kollektiven Leitung der Gemeinde von Rom das Papstamt entwickelte
St. Paul vor den Mauern. Der Fries links und rechts der Apsis zeigt Medaillons wirklicher oder vermeintlicher Päpste. Foto: dpa
St. Paul vor den Mauern. Der Fries links und rechts der Apsis zeigt Medaillons wirklicher oder vermeintlicher Päpste. Foto: dpa
Die verschlungene Geschichte des Papsttums im ersten Jahrtausend zeichnet Christoph Markschies nach, der an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Berliner Humboldtuniversität Ältere Kirchengeschichte lehrt. Zwischen Protestanten und Katholiken ist nicht der historische Befund umstritten, sondern dessen theologische Deutung.

Den Fries der römischen Basilika Sankt Paul vor den Mauern zieren 265 goldgerahmte Mosaikmedaillons der Päpste. Der Legende nach steht die Wiederkunft Christi bevor, wenn alle Medaillons in der Kirche gefüllt sind. Seit ein Portrait Benedikts XVI. angebracht wurde, gibt es noch siebenundzwanzig Plätze.

In Reiseführern kann man lesen, die Bilder der vorneuzeitlichen Päpste seien mangels historischer Vorlagen fiktiv. Nur die Bilder? Das Problem mit der ununterbrochenen Reihe von Päpsten, die von Petrus bis Benedikt reicht, beginnt schon mit dem ersteren. So wenig wie Petrus die Gemeinde in Rom begründet hatte, stand er ihr als "Bischof" vor, eine Sukzessionskette von römischen Bischöfen begründend. Vielmehr wurde die stadtrömische Gemeinde bis weit ins zweite Jahrhundert kollektiv geleitet. Das wird sehr deutlich im ersten Clemensbrief, der vermutlich noch im ersten Jahrhundert in Rom abgefasst wurde. Er führt zwar das Kollegium der gemeindeleitenden Presbyter auf die Apostel zurück und hält es für unabsetzbar. Aber Hinweise auf einen Einzelbischof sind nicht zu erkennen.

Möglicherweise war jener Clemens, der seit dem zweiten Jahrhundert als Verfasser des Briefes gilt, Außenminister oder geschäftsführender Vorsitzender jenes kollegialen Leitungsorgans. Der vierte Papst in einer von Petrus bis in die Gegenwart führenden Kette war er dagegen nicht. Diese ist ein vergleichsweise frühes Produkt aus der Mitte des zweiten Jahrhunderts. Sie entstand mutmaßlich, um mit einer eigenen Traditionskette die Ansprüche gnostischer Gemeindegruppen auf apostolische Geheimtraditionen zurückzuweisen.

Konstruierte Ketten

Bei der Erstellung solcher Traditionsketten orientierte man sich an Vorbildern aus der Wissenschaft, insbesondere der Philosophie. So überlieferte die platonische Akademie lückenlose Verzeichnisse ihrer Leiter seit Platons Zeiten. Solche Überlieferungen einer lückenlosen Kontinuität in einem Leitungsamt begründeten die Autorität der Institution und deren Vorsteher als einer der Nachfolger des Gründers. Erstmals belegt ist eine solche lückenlose Kette bei dem aus Kleinasien stammenden gallischen Bischof Irenaeus von Lyon Mitte der Achtzigerjahre des zweiten Jahrhunderts. Danach amtierte als erster Bischof von Rom ein gewisser Linus, "den Paulus in seinen Briefen an Timotheus erwähnt" (2. Timotheus 4,21). Man gewinnt bei der Lektüre der Passage allerdings den Eindruck, dass die betreffende römische Bischofsliste so entstand, dass wichtige Figuren aus der einstigen kollektiven Leitung nachträglich in eine chronologische Reihenfolge gebracht wurden.

Der Kirchenhistoriker Eusebius überliefert das Zitat eines gewissen Hegesipp, der eine solche Kette schon in der Mitte des zweiten Jahrhunderts, also ungefähr dreißig Jahre vor Irenaeus, rekonstruiert haben will. Sie reicht von den Anfängen bis zu einem Bischof namens Anicet in der Mitte des zweiten Jahrhunderts. Aber eine wirklich separat agierende, vom Presbyterkollegium hierarchisch differenzierte Bischofsfigur taucht erst zu Zeiten des Irenaeus auf: Bischof Viktor. Er soll von 189 bis 199 amtiert haben.

Hinweis auf Apostelgräber

Im Text des Irenaeus wird auch deutlich, dass die Bischofsliste der Autorisierung eines besonderen Anspruchs der stadtrömischen Gemeinde dient. Dort wird bereits (wahrheitswidrig) die Gründung der Gemeinde auf Petrus und Paulus zurückgeführt und festgehalten: Mit der römischen Gemeinde muss "jede andere Kirche übereinstimmen", weil in ihr "die Tradition, die auf die Apostel zurückgeht, in jeder Hinsicht aufbewahrt worden ist".

Bischof Viktor agierte recht selbstbewusst und mit großer Energie gegen Bewegungen, die er für häretisch hielt. Und er versuchte, allerdings weitgehend ergebnislos, der kleinasiatischen Kirche seine Vorstellungen von einem sonntäglichen Termin fürs Osterfest aufzuzwingen. Der "erste Papst", wie man ihn genannt hat, war er aber trotzdem nicht. Allerdings argumentierte er wohl schon mit den stadtrömischen Apostelgräbern. Das lässt sich aus einer Replik des Bischofs von Ephesus erschließen, des Vorstehers der kleinasiatischen Bischöfe, der penibel alle kleinasiatischen Apostelgräber aufzählt. Der erste Clemensbrief teilte der Gemeinde in Korinth in autoritativem Ton Ansichten über die Leitungsstrukturen christlicher Gemeinden mit. Und früh scheint die römische Gemeinde auch reichsweit andere Gemeinden unterstützt und sich damit Anerkennung und Autorität erworben zu haben.

Die Informationen über die frühen Bischöfe Roms bleiben spärlich. So sind bis zum Jahr 235 alle Daten noch in der Antike erschlossen worden, also mutmaßlich fiktiv. Das erste sichere Datum aus der römischen Bischofsgeschichte verweist auf die noble Geste eines Amtsinhabers: Am 28. September 235 verzichtete der römische Bischof Pontian in Sardinien, wohin er vom Staat verbannt worden war, auf sein Amt und beendete so ein Schisma mit zwei gleichzeitig amtierenden Amtsträgern. Die auf Pontian folgenden Bischöfe des dritten Jahrhunderts latinisierten die ursprünglich griechischsprachige stadtrömische Gemeinde.

Fehlende theologische Impulse

Von Fabianus, der bis zur Jahrhundertmitte amtierte, wird erzählt, er sei durch einmütige Akklamation des ganzen Volkes gewählt worden, als eine Taube vom Himmel auf sein Haupt zuflog. Und er sei so souverän gewesen, dem heidnischen Kaiser Philippus Arabs, der einem Gottesdienst beiwohnen wollte, die Tür zu weisen. Zu dieser Zeit verfügt die stadtrömische Gemeinde bereits über eine Art "Bischofsgruft" in der Katakombe, die Bischof Callistus zu Beginn der Zwanzigerjahre des dritten Jahrhunderts angelegt hatte.

Fabians Nachfolger Cornelius stand 46 Presbytern, sieben Diakonen, sieben Subdiakonen und fast hundert weiteren Klerikern vor. Aber eine zentrale Bischofskirche gab es noch nicht. Gottesdienste wurden in umgebauten Privathäusern gefeiert, die sich zum Teil bis heute unter den so genannten Titelkirchen Roms erhalten haben.

Nennenswerte Beiträge zu der sich entfaltenden theologischen Diskussion haben die frühen römischen Bischöfe offenbar nicht geleistet, einige agierten vielmehr hilflos. Unsere Informationen über eine heftige Auseinandersetzung um die Trinitätstheologie, die sich in den Sechzigerjahren des dritten Jahrhunderts Roms Bischof Dionysius und seine gleichnamigen Kollegen in Alexandria lieferten, sind im folgenden Jahrhundert so stark überarbeitet worden, dass sie für unsere Kenntnisse über das Amtsbewusstsein römischer Bischöfe im dritten Jahrhundert fast nichts hergeben. Es waren offenkundig vor allem Fragen kirchlicher Disziplin, in denen die römischen Bischöfe der vorkonstantinischen Zeit recht selbstbewusst Akzente setzten: Viktor im Streit um den Ostertermin, Callistus im Streit um die kirchliche Sündenvergebung und Stephan - kurz nach der Mitte des dritten Jahrhunderts - im Streit um die Frage, ob diejenigen, die von so genannten Ketzern getauft worden waren, wiederzutaufen sind. Der römische Bischof votierte dagegen und riskierte so den Bruch mit den Kirchen Afrikas und Kleinasiens.

Stephan hat sich wohl als erster Bischof Roms auf die so genannte Petrus-Primats-Passage des Matthäusevangeliums berufen und den Vorrang der römischen Kirche - nicht des römischen Bischofs! - aus dem Neuen Testament abgeleitet. Seine Argumentation zeigt, dass das hauptstädtische Selbstbewusstsein der römischen Gemeinde, das durch die Erinnerung an die Apostel Petrus und Paulus grundiert war, nun auch biblisch begründet wurde.

Die römischen Bischöfe spielten aber zunächst keine Rolle, als sich die Kirche - im Gefolge der Privilegien Kaiser Konstantins und der Maßnahmen seiner Nachfolger im vierten Jahrhundert - langsam zur Staatskirche entwickelte. Die zentralen Figuren der theologischen Diskussion und kirchenpolitischen Auseinandersetzungen waren vielmehr Bischöfe der kaiserlichen Residenzstädte wie Ambrosius von Mailand und prominente Theologen aus den Kulturmetropolen der Antike wie Athanasius von Alexandrien. Gelegentlich spielten aber auch gelehrte Bischofstheologen aus der Provinz oder mittleren Metropolen eine Rolle, wie die großen Kappadozier Basilius, Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa.

Den römischen Bischof Silvester, einen Zeitgenossen Konstantins, machte erst die mittelalterliche Legende zu einer zentralen Figur. Und als der römische Bischof Julius sich zu einer gesamtkirchlichen Schiedsinstanz in dem trinitätstheologischen Streit aufschwingen wollte, der sich aus den Auseinandersetzungen um den alexandrinischen Presbyter Arius entwickelt hatte, protestierten die Bischöfe des griechischen Ostens.

Konzile ohne Rom

Die ersten vier Ökumenischen Konzile fanden ohne Mitwirkung der römischen Bischöfe statt. Sie waren jeweils nur durch Legaten vertreten. Auf den letzten der vier Reichssynoden, 451 in Chalzedon, spielte allerdings das christologische Lehrschreiben des römischen Bischofs Leo eine zentrale Rolle, obwohl es auf dem Konzil subtil korrigiert und dadurch substanziell verändert wurde. In Chalzedon wurde zudem der Kirche Roms der zweite Rang nach der neuen Reichshauptstadt Konstantinopel zugewiesen. Ganz folgerichtig gerieten die römischen Bischöfe Vigilius und Pelagius im sechsten Jahrhundert in theologische wie kirchenpolitische Abhängigkeit vom byzantinischen Kaiser Justinian. In den Sechzigerjahren des dritten Jahrhunderts fungierten sie als dessen Beamte in Italien. Und der große nordafrikanische Bischof und Theologe Augustinus von Hippo nötigte 418 den römischen Bischof Zosimus, seine Position im pelagianischen Streit, in dem es um das Verhältnis von göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit ging, offiziell zu revidieren.

Nachdem einzelne germanische Völkerschaften von dem Bekenntnis, das die ältere Forschung "arianisch" nannte, zum reichskirchlichen Bekenntnis der großen Konzilien konvertierten, stabilisierte sich die Stellung der römischen Bischöfe im zerbrechenden Römischen Reich. Und gleichzeitig entwickelte sich unabhängig von den kirchenpolitischen Realitäten ihr theologisches Selbstbewusstsein. So war Damasus (366 bis 384) überzeugt, dass Synodalurteile nur gelten würden, wenn sie der römische Bischof bestätigt habe. Und seine Nachfolger versuchten solche Ansprüche auf einen Primat der römischen Kirche juristisch und propagandistisch zu untermauern.

Bischof Leo (440-461) entwickelte in Predigten die Theorie, wonach die Vollmacht, die Christus Petrus übergeben habe, auf den römischen Bischof als seinem Nachfolger und Erben übergegangen ist. Und Gelasius (492-496) formulierte die Zwei-Gewalten-Theorie, wonach der Bischof von Rom, der höchste der Bischöfe und "geheiligte Autorität der Bischöfe", die "herrscherliche Gewalt" der Monarchen überragt. Die Reihe der starken antiken Bischöfe schließt mit Gregor (590-604). Durch die von ihm veranlasste Missionierung der Angelsachsen und seine ordnende wie leitende Tätigkeit in Italien stabilisierte er die Institution in den Wirren der Zeit. Zudem vertrat er ein auf das Rollenmodell des Hirten konzentriertes Amtsideal.

Bund mit Franken

Ein "Papsttum", wie es das Mittelalter charakterisiert, formt sich erst durch den Bund zwischen dem Bistum Rom und den Franken, insbesondere mit der karolingischen Monarchie, dem zu Weihnachten 800 durch die Kaiserkrönung Karls des Großen symbolisch Ausdruck verliehen wird.

Der griechische Titel "Pappa" (Vater) für den Bischof von Rom ist erstmals in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts bezeugt. Ein Anspruch auf Lehr- und Jurisdiktionsprimat im strengen Sinne wurde aber - unter Berufung auf das Matthäusevangelium - erst im Mittelalter erhoben. Und als "Stellvertreter Christi" (vicarius Christi) bezeichnen sich die Bischöfe von Rom erst seit dem Hochmittelalter.

Glücklicherweise besteht zwischen evangelischen und römisch-katholischen Kirchenhistorikern keine Differenz mehr in der Beschreibung dieses Befundes. Strittig ist zwischen den Konfessionen nur, ob die historische Entwicklung auf ein Papstamt - im mittelalterlichen oder gar neuzeitlichen Sinn - irgendwelche theologische Verbindlichkeit beanspruchen kann. Das haben freilich schon die Reformatoren des sechzehnten Jahrhunderts aus guten Gründen bestritten.

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Christoph Markschies

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