Gewisse Verstopfung

Ein Punktum
Foto: privat
Das Gedränge ist beachtlich. Das Schweigen auch. Niemand möchte auffallen. Die Ruhe vor dem Sturm. Der bricht herein in Eberswalde!

Am Fenster ziehen sonnengetränkt die Felder und Hügelchen Brandenburgs vorbei. Es ist Sonntag früher Abend und ich sitze im Fahrradabteil des Regionalexpress von Greifswald nach Berlin. Ich habe Glück: Der Zug war pünktlich. Und er rollt. Das ist der Rede durchaus wert. Nicht alle scheinen das ausreichend zu würdigen. Die Anspannung wächst von Station zu Station: An jedem Bahnhof steigen Fahrgäste ein, niemand aus. Wie andere werde ich von Fahrradeignern meines Platzes verwiesen und fühle mich jetzt umringt von finster blickenden Gesichtern. Dann Angermünde: Etliche Gäste, darunter vier mit Fahrrad, drängen rein. Eine noch sitzende Frau guckt demonstrativ weg, um keinesfalls den Eindruck zu erwecken, sie sei gewillt aufzustehen. Mein Nachbar bittet sie um Herausgabe des Platzes. Sie verteidigt aber ihren Besitzanspruch erbittert: "Versteh ick nich! Nö, ick steh nich uff."

Wir fahren mit einer gewissen Verstopfung im Gang weiter. Das Gedränge ist beachtlich. Das Schweigen auch. Niemand möchte auffallen. Die Ruhe vor dem Sturm. Der bricht herein in Eberswalde! Die Tür öffnet sich. "Gehen Sie doch durch, bitte!" Niemand reagiert. Wer genau ist gemeint? Wer spricht da überhaupt? "Gehen Sie durch, der Bahnsteig ist voll!", schallt es etwas lauter. "Der nächste Zuch kommt doch inne Stunde!" ruft jemand trotzig von seinem Sitzplatz. Na eben, sollen die doch warten! Tun sie nicht. Von hinten wird nachgeschoben. Fahrräder werden als Rammböcke benutzt. Bei den immer konstruktiven Machertypen wird der innere Gruppenleiter freigesetzt: "Wir könnten rücken, könnten enger ..., das Fahrrad hochkant ..."

Gesagt, getan, gerückt, hochkant. Die Tür schließt sich. Einzelne bleiben am Gleis zurück. Der nächste Zug kommt ja in einer Stunde. Im Abteil wieder dumpfe, brütende Ruhe - Pulverfassatmosphäre. Aber auch Hoffnung: Am nächsten Bahnhof werden endlich auch Menschen aussteigen. "Wer muss Gesundbrunnen raus?", fragt der Gruppenleiter. Alle starren den Fragenden an. Niemand fühlt sich berechtigt oder befähigt, die Frage zu beantworten. Jetzt schlauer, fixiert er einzelne Fahrgäste: "Müssen Sie Gesundbrunnen raus?" Der Betroffene guckt, ob der Gemeinte hinter ihm sitzt, aber da ist nur das Fenster. Also nickt er, etwas lethargisch aber doch deutlich. Und plötzlich kommt Leben in die Masse, heißt, sie zerfällt in Individuen. Man redet, lacht sogar: "Scheußlich! ... Zum Glück, gleich geschafft." Auch ich habe es geschafft, bin geschafft, als ich in meiner neu gewonnenen Freiheit auf dem sonnengetränkten Bahnsteig stehe und ganz tief durchatme.

Katharina Lübke

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