Grundsatzdebatte

Ethik hat Konjunktur
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Johannes Fischer hat eine längst überfällige Grundsatzdebatte über die nur zu oft ungenannten Prämissen gerade auch der evangelischen Ethik angestoßen

Ethik hat Hochkonjunktur. In Kliniken werden Ethikkomitees gegründet. Die Bundesregierung beruft eine Ethikkommission zur Klärung strittiger Fragen ein und manche Konzerne organisieren wirtschaftsethische Diskurse. In diesem Boom sieht der Theologieprofessor Johannes Fischer eine Entwicklung, durch die Ethik zu einer bloßen Legitimationsbeschafferin bei Konflikten wie Sterbehilfe, Stammzellenforschung oder Fragen um den Ausstieg aus der Atomenergie wird.

Denn im Kontrast zur Nachfrage sei die akademische Ethik "nicht selten abgehoben, theorielastig und wenig sensibel für die moralischen Fragen", die sich im beruflichen wie auch privaten Alltag stellten. Ethik gebe mit wissenschaftlichem Anspruch Antworten, mit denen aber tatsächlich in der Praxis kaum etwas anzufangen sei.

Solcher Ethik sei nicht nur die Radikalität philosophischer Fragen abhanden gekommen; sie habe eine "marktkonforme Dienstleistungsmentalität" entwickelt. Eine solche akademische Ethik wirke "desorientierend" und mache geradezu blind für jene Gründe, auf die es in moralischen Fragen ankomme.

Stellenweise lesen sich die Ausführungen Fischers wie eine Generalabrechnung mit der rational argumentierenden akademischen Ethik, die lehrt, dass Ethik die Aufgabe habe, Handeln rational und argumentativ zu begründen. "Die moralischen Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens lassen sich nicht argumentationsstrategisch sichern." Damit hat Fischer gewissermaßen die Achillesferse aller wissenschaftlichen Ethik benannt: Seine grundsätzliche Kritik besteht darin, dass moralisches Urteilen mit Handlungsgründen verwechselt werde. Eine Handlung sei vielmehr deshalb moralisch richtig, weil es die betreffende Situation sei, welche eine bestimmte Handlung erfordere. "Das bedeutet, dass im Mittelpunkt der Moral nicht moralische Urteile stehen, sondern Gründe für moralisches Handeln, und mit moralischen Urteilen vergewissern wir uns lediglich der Gründe."

Fischer rückt den Blick auf das Leben, die Lebenswirklichkeit und mithin auch auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, die das Leben bestimmen, an die erste Stelle. Die Moralreflexion dürfe nicht von der moralischen Erfahrung abgekoppelt sein, sondern müsse an ihr anschließen.

Was dies bedeutet, zeigt der Menschenrechtsdiskurs. Dabei gehe es nicht um eine abstrakte Debatte über Menschenwürde oder Menschenrechte, sondern zu fragen sei: Was bedeutet es, unter ärmlichen Verhältnissen in einer Favela zu leben und was wird dann der Würde des Menschen geschuldet?

Wenn es der Ethik nicht um Begründen sondern um Verstehen geht, stellen sich weitergehende und grundsätzlichere hermeneutische Fragen: Wessen bedarf es, um auch wirklich verstehen und deuten zu können? Welche ökonomischen, sozialwissenschaftlichen und psychologischen Erkenntnisse müssen berücksichtigt werden, um verstehen zu können? Gibt es Maßstäbe, an denen sich das Verstehen orientiert? Kommt dem biblischen Ethos beim Verstehen der Fragen, die das Leben stellt, eine spezifische und genau zu bestimmende Eigenständigkeit zu? Hier wäre etwa Clodovis Boffs Theologie und Praxis für die Relevanz sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse und ihre Vermittlung mit gelebter Glaubenspraxis hochinteressant.

Johannes Fischer hat eine längst überfällige Grundsatzdebatte über die nur zu oft ungenannten Prämissen gerade auch der evangelischen Ethik angestoßen. Es bleibt zu hoffen, dass diese wohlbegründete Provokation aufgenommen und zu fruchtbaren Debatten führen wird.

Johannes Fischer: Verstehen statt Begründen. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2012, 176 Seiten, Euro 22,-.

Franz Segbers

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