Seelsorger und Brückenbauer
Wer in den Siebziger- und Achtzigerjahren Kind oder noch nicht geboren war, dem fallen zu Jörg Zink vor allem die Geschenkbüchlein voller Sinnsprüche des Autors ein. Schade eigentlich! Denn Jörg Zink hätte gerade auch den Jüngeren - meiner Generation - eine Menge zu sagen. Zum Beispiel, dass der Wunsch nach vertiefter Spiritualität und die Begeisterung für politisches Engagement einander nicht widersprechen, sondern sich ergänzen und durchdringen sollten. Während viele Christenmenschen sich mit kirchlicher Vereinsmeierei oder weltferner Innerlichkeit begnügten, war der politisch denkende Pfarrer Jörg Zink in den Siebzigerjahren aktiver Mitstreiter der Friedens- und Ökologiebewegung. In seinen Büchern legt er immer wieder dar, dass sich wahrhaftiger christlicher Glaube zu bewähren hat im Einsatz für die bedrohte Schöpfung, für Gerechtigkeit - und in Empathie selbst mit dem Gegner.
Doch Zink bleibt dabei nicht stehen. Er weiß sehr genau, dass ein Aktivismus der Devise "Gott hat keine anderen Hände als die unseren" nicht nur theologisch auf dem Holzweg ist, sondern auch Gefahr läuft, sich zu verheben, totzulaufen, auszubrennen. Und dass es von entscheidender Bedeutung ist, bei allem Engagement tagtäglich verankert zu bleiben in Gott. Immer wieder betont Zink den Wert persönlicher religiöser Erfahrung. In Büchern wie Dornen können Rosen tragen und Die goldene Schnur legt er die mystischen Wurzeln des Christentums frei und leitet an zu einem inneren Weg. Die Suche nach der rechten Balance von vita activa und vita contemplativa zieht sich wie ein roter Faden durch alle seine Werke.
Als ich 21 war und mir Zinks Anregungen in einer tiefen Krise neuen Boden unter die Füße gaben, las ich auch dessen Autobiografie Sieh nach den Sternen, gib acht auf die Gassen. Dort begegnete ich einem Leben, das weit dramatischer angefangen hatte als die meisten Lebensläufe meiner Generation. 1922 wird Jörg Zink in eine religiös-sozialistische Landkommunität in Hessen hineingeboren. Kaum vierjährig, wird er Vollwaise und kommt in eine neue Familie nach Ulm. Als kleiner Junge stromert er in den Sommern tagelang allein durch die Schwäbische Alb, eins geworden mit der Natur.
Als junger Mann wird der Flugbegeisterte zur deutschen Luftwaffe eingezogen. Das grausame Handwerk und die tägliche Lebensgefahr im Weltkrieg überlebt er innerlich nur durch Dichtung, Philosophie, Mystik und den Gedanken an die, die später seine Frau werden soll. Zwei Urerfahrungen inmitten dieser Hölle weisen ihm seinen weiteren Weg: Mitten über dem Atlantik wird sein Flugzeug in Brand geschossen. Er stürzt ab, treibt stundenlang einsam auf dem Ozean - und wird dann wie durch ein Wunder herausgefischt.
Später landet er wegen einer Eigenmächtigkeit im Militärgefängnis und begegnet dort einem totgeweihten Résistance-Kämpfer, der dennoch gelassen und mit stiller Freundlichkeit dem Feind gegenüber tritt. Der junge Zink liest daraufhin das Neue Testament mit anderen Augen.
Als Krieg und Gefangenschaft überwunden sind, studiert er Theologie. Romano Guardini, Eduard Spranger und Helmut Thielicke werden zu seinen Meistern. Seinen Lebensauftrag erkennt er darin, den Zeitgenossen "einen Weg zur Welt der Bibel und des Glaubens freizuschneiden" durchs Dickicht all der früheren Deutungen. Weil die kircheninterne Sprache nur noch die wenigsten erreicht, übersetzt er die alten Texte und Bekenntnisse in heutiges Deutsch - darunter das gesamte Neue Testament. Als Gemeindepfarrer, Hörfunkbeauftragter, Redner und Buchautor entwickelt er eine bilderreiche, einfache Sprache, die glaubwürdig, weil erfahrungsgespeist ist. Auch jetzt noch, mit neunzig Jahren, sitzt Jörg Zink jeden Morgen an seinem Schreibtisch in Stuttgart-Möhringen. Derzeit arbeitet er an einem neuen Buch über das interkonfessionelle Abendmahl. Dieser Seelsorger und Brückenbauer kann seiner Kirche auch im 21. Jahrhundert ein Leuchtfeuer sein.
Martin Rothe