Ist man mit einem Schriftsteller durch Lektüre einigermaßen vertraut, dann hat man ihn auch schon unversehens vor dem inneren Ohr mit einem zu ihm gehörenden "Sound" versehen. Der prägt auch die Erwartung, wie das Werk laut gelesen werden sollte. Hört man es dann wirklich vorgetragen, bedeutet das fast immer eine Überraschung - eine, die einen neuen Zugang erlaubt (mir ging es so, schon vor Jahrzehnten, mit der Lesung von Döblins Alexanderplatz durch den großartigen Hannes Messemer) oder zu einer des skeptischen Verdrusses; mal scheint einem zu beiläufig gelesen zu werden, mal zu pathetisch. Solche Skepsis verspürte ich bei Helge Heynolds Nietzsche-Lesung - zu Anfang. Zu kultiviert-bürgerlich schien mir seine Vortragsweise, zu wenig das Getriebene von Nietzsches Denken, das Stakkato seiner Rhetorik ausdrückend. Aber dann gelingt es Heynold, die zitierten gleichsam lyrischen Passagen aus "Also sprach Zarathustra", "Jenseits von Gut und Böse", "Zur Genealogie der Moral" und den "Dionysos-Dithyramben" so intensiv vorzutragen - weder allzu gepflegt noch gar kraftmeierisch, sondern leise werdend wie im Übergang zu Schlaf und Traum -, dass ich Abbitte leisten musste.
Lässt sich ein Philosoph mit solchen Auszügen aus seinem Werk vermitteln? Die Antwort lautet: Ja, wenn es "nur" darum geht, ein kennzeichnendes, nicht verzerrendes Schlaglicht auf sein Werk zu werfen (auch das ist ja so anspruchslos nicht), oder darum, zu näherem Kennenlernen zu verlocken. Und gerade Nietzsche, als Denker, als Dichter, als Meister des "dichten" Wortes, ein Mann der Leidenschaften, eignet sich dazu. Hier ist die Annäherung gelungen.
Nietzsche in 100 Minuten. Gelesen von Helge Heynold. Der Hörverlag, München 2012.
Helmut Kremers
Helmut Kremers
war bis 2014 Chefredakteur der "Zeitzeichen". Er lebt in Düsseldorf. Weitere Informationen unter www.helmut-kremers.de .