Liebesgewalt

Gottesmann ohne Gott
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Was führt der Roman vor? Das Wahngebilde vorgeblich wahrer Liebe, die Gewalt, die in der Erlösungsreligion der Liebe steckt, Liebe, die sich nur durch das Opfer der Frau zu beglaubigen weiß.

Hier verfängt sich jemand im Gitternetz einer Obsession. Ein klassischer Fall von Stalking. Ein Mann kann von seiner Liebe nicht lassen. Brief um Brief versucht er, eine Frau zu stellen, macht sie zum Objekt seiner Begierde, mal theatralisch, mal trotzig, mal selbstmitleidig, mal wahnhaft groß, zerquält, mal heiß, mal zynisch. Alle Register beherrscht dieser Mann, spielt aber nur auf einer Klaviatur, gefangen im Spiegelkabinett seiner eigenen Einbildung. Ein Einzelner im Dauermonolog. "Du sollst so sein, wie ich Dich haben will. Ich lasse Dich nicht." Verzweifelt klammert sich der Mann daran, nicht verzweifelt zu sein, bekanntlich die gefährlichste Form der Verzweiflung.

Was führt der Roman vor? Das Wahngebilde vorgeblich wahrer Liebe, die Gewalt, die in der Erlösungsreligion der Liebe steckt, Liebe, die sich nur durch das Opfer der Frau zu beglaubigen weiß. Was sehr viel über den Zusammenhang von Religion und Gewalt im Zeichen von Liebe und Sexualität erzählt, die pathologische Liebe im Zentrum des Christentums. Denn der Briefschreiber ist ein Gottesmann, von Beruf Pfarrer, der seiner Ehefrau, die ihn schon länger und längst verlassen hat, in Briefen nachstellt. "Alles was ich getan habe, habe ich getan, um die Liebe zu erhalten." Wie verlogen.

Das Pathos eines religiös aufgeladenen Vokabulars, das der Briefschreiber beständig zitiert, soll souverän überspielen, in welchen Wahnsinn aus Heiligungshunger, eigenem Idealbild und Selbstkolportage, Wut und Opferverlangen sich der Verfasser eingesponnen hat. Alles im schweren Zeichen von Liebe. Immer wieder kehrt sich die Flut seiner Worte gegen ihn selbst. Ein Dokument über hohen Ton und Pathos, die an sich selbst zerfallen. Die tatsächliche und fast schon vergessene Mordgeschichte vom Pfarrer und seiner Frau liegt nicht weit. Missbrauch und Gewalt, Sexualität unter der Tarnkappe von Liebe, geschehen in der Kirche und nicht nur irgendwo außerhalb der Welt.

Dem neugegründeten Secession Verlag in Zürich ist es zu verdanken, dass er diesen Roman von Hélène Bessette neu herausgebracht hat. Hélène Bessette (1918 bis 2000) war in der Literaturszene Frankreichs ein Star, stilistisch eine Artgenossin des "Nouveau Roman", vierzehn Bücher hat sie veröffentlicht. Noch immer zeitlos wirkt die Sprache dieses Romans, der 1963 zum ersten Mal erschien.

Die verquere Geschichte von Lustbegehren und Liebesgewalt wird unkommentiert nachgewiesen: in Beschwörungen, in den Paroxysmen der Unruhe, im Inferno aus Stimmlagen, in einer Poetik, die das allfällige Zufluchtswort der Liebe beugen und unter sich zwingen - geschrieben aus der Passion einer Schriftstellerin, die nur einen Briefeschreiber kennt und mögliche Antwortschreiben der imaginären Frau bewusst ausspart, und die sich als Autorin dabei tief in den Glutkern einer patriarchalischen Liebesreligion hineinbewegt.

Dabei ist von ihr theologisch immer wieder neu zu lernen: So selbstverständlich Gott Liebe ist, so ist die Liebe wahrlich noch keineswegs Gott.

Hélène Bessette: Ist Ihnen nicht kalt? Roman. Secession Verlag, Zürich 2011, 178 Seiten, Euro 21,95.

Joachim von Soosten

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