Weniger Heroismus

Wie sich die Apokalyptik in den Kinofilmen der vergangenen Jahre darstellt
Melancholia (2011, Regie: Lars von Trier) Foto: Cinetext/Allstar/Magnolia Pict.
Melancholia (2011, Regie: Lars von Trier) Foto: Cinetext/Allstar/Magnolia Pict.
Von "Die Stadt der Blinden" bis zum finstersten Batman aller Zeiten: Die Apokalypse ist, wie die praktische Theologin zeigt, immer noch des Kinos liebstes Kind, - vielleicht auch, weil es längst von der Möglichkeit eigenen Untergangs angeweht ist.

Die Ampel schaltet auf grün. Doch ein Auto bleibt stehen, mitten auf einer verkehrsreichen Straße. Alle hupen, fluchen und versuchen zu überholen. Ein Blick in den stehenden Wagen zeigt einen verstörten Mann. Er schlägt immer wieder die Hände vor das Gesicht, tastet hilflos herum und klagt: "Ich kann nichts mehr sehen!"

Von einem Augenblick auf den anderen hat der Mann sein Augenlicht verloren. Der freundliche Passant, der den Hilflosen anspricht und nach Hause geleitet, wird den Schlüssel behalten und das Auto des Blinden stehlen. Doch das ist ein geringes Delikt im Vergleich zu dem, was folgt, als epidemieartig immer mehr Menschen schlagartig erblinden.

"Der Zustand der Welt erfüllt mich mit großer Angst und Sorge, da bahnt sich eine Katastrophe an, um die sich niemand zu kümmern scheint. Wir müssen die Art, wie wir leben und konsumieren, radikal verändern, bewegen uns aber immer weiter in dieselbe Richtung", resümiert der brasilianische Regisseur Fernando Mereilles die Intention seines Filmes.

Diese apokalyptische Grundstimmung kommt in seiner Verfilmung von José Saramagos Romans Die Stadt der Blinden von 2008 am stärksten zum Ausdruck. Im Gegensatz zum meist furiosen Auftakt vieler Endzeitdramen kündigt sich hier das Grauen, wie die beschriebene Anfangsszene zeigt, ganz leise an. Was bedeutet es, in einer medialisierten Gesellschaft und somit aufs Visuelle ausgerichteten Welt, in der das Auge das wichtigste Organ der Wahrnehmung darstellt, plötzlich blind zu werden? Es droht der Untergang, zunächst der persönliche, dann der der ganzen westlichen Welt. Die Zivilisation ist für Mereilles und Saramago eine dünne Schicht, unter der die Barbarei lauert und sich zunehmend und ungehindert Bahn bricht. "Ich werde blind", denkt am Ende ihrer Odyssee die einzig Sehende, die ihre Gruppe, die von einer Notgemeinschaft zur Wahlfamilie geworden ist, schließlich sicher in ihrer (ehemaligen) Wohnung untergebracht hat. Sie hat zuviel gesehen: Hunde, die aus Nahrungsmangel Leichen fressen, Blinde, die sich in den Dienst skrupelloser Tyrannen stellen, eine Welt, die von der Natur zurückerobert wird und in der die Menschen sich als evolutionärer Fehltritt erweisen und einander ausrotten.

Die Höhle Platons

Blind sein wäre eine Gnade gewesen, und blind werden die natürliche Konsequenz, nachdem sie, mit der zweifelhaften Gabe des Sehens gesegnet, die anderen gerettet hat, die gerade wieder staunend anfangen, die Dinge mit ihren Augen wahrzunehmen - die sie zuvor (so) nicht gesehen haben.

Sehenden Auges blind zu sein, dieses Motiv hat Platon in seinem Höhlengleichnis ausgeführt, das die Matrix für mehrere Romane Saramagos bildet, am dichtesten in "Das Zentrum". Das Kino bildet strukturell die Höhle Platons nach, und Mereilles hat es geschafft, einen Film zu drehen, der dieses (Nicht-) Sehen annähernd abbildet.

Die Welt, in der die Sehenden ihr Augenlicht verlieren müssen, um zu erkennen, was Leben ausmacht, was Liebe ist und was die Welt zusammenhält, geht am Ende nicht unter. Keimzelle der Hoffnung bildet die kleine Gemeinschaft, die, einander solidarisch begleitend, erkannt hat und so in der apokalyptischen Umwelt überleben kann. Die ganze Welt retten, wie es die amerikanischen Helden tun, ist ihnen zwar versagt. Sie werden einander zur Welt.

Und die US-Helden sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Die Superhelden scheinen zugleich mit den Twin Towers zu Fall gekommen zu sein und haben sich davon nicht mehr erholt. Der dunkelste Held von allen ist Batman, der in "The Dark Knight" (Christopher Nolan, USA 2008) einen so starken Abschied genommen hatte, dass niemand an (s)eine Rückkehr glauben mochte. Um Gotham City, exemplarisch für die ganze Welt, zu retten, musste er seinen Heldenstatus opfern und fremde Schuld auf sich nehmen. So erhielt er der Menschheit den Glauben an das Gute - und die Überlebensfähigkeit. Aber nun kehrt das Böse zurück. Denn solange Batman lebt, wird er die dunklen Mächte anziehen.

Apokalyptische Grundstimmung

Die Düsternis von "Dark Knight", wo der tragische Held den Kampf gewonnen, die moralische Schlacht jedoch verloren hat, konnte von seinem Sequel kaum übertroffen werden. Das Austreiben des Heroischen aus dem Helden jedoch wird in "The Dark Knight Rises" (Christopher Nolan, USA 2012) perfektioniert. Als heroisch könnte am Ende lediglich sein (allerdings inszenierter) Opfertod gedeutet werden, als er die von Bösewicht Bane scharf gemachte Atombombe mit dem Batmobil aus Gotham herausschafft.

In der gesamten Batman-Trilogie Nolans herrscht eine apokalyptische Grundstimmung. Sie vermittelt den Eindruck, dass es bestenfalls um Verlängerung des Bestehenden geht und schon lange nicht mehr um Rettung. Nichts Neues unter der Sonne, nur noch Wiederholungen, Sequels und Prequels, diesen Eindruck gewinnt man jedenfalls bei einem flüchtigen Blick auf die gegenwärtige Kinoszenerie Hollywoods. Schauen wir uns in der Science-Fiction-Szene um, die immer schon die besten apokalyptischen Nährböden bot. Auch hier zeigt sich, dass parasitenartig an die großen Erfolge angeknüpft wird. Selbst Regisseure, die uneinholbare Klassiker wie "Alien" (Ridley Scott, USA/GB 1979) geschaffen haben, scheuen sich nicht, deren Vorgeschichte zu erzählen. Aber vielleicht rufen Entmystifizierungen unter Umständen neue Mythenbildungen hervor. Der gesamte Alien-Kosmos zeigt, hierin typisch für die USA , wenn auch europäisch infiziert durch seinen englischen Ursprung und stellvertretend für die S-F-Filme, dass das Weltbedrohende von außen kommt.

Europäische Filme stellen dagegen wie die meisten nichtamerikanischen das Zerstörerische von innen her wirkend dar. In dem großartigsten Untergangsfilm der letzten Kinojahre, "Melancholia" von Lars von Trier (2011), kommen beide Elemente zusammen. Das Bedrohliche von außen, der Planet Melancholia, und das Zerstörerische von innen, die Melancholie von Justine, vereinen sich zu einem orgiastischen Untergang der Welt, wie man ihn so schön noch nie gesehen hat.

Apokalypse des Kinos

Beeindruckend auch zu sehen, wie die Hypersensibilität Justines, die sich bestenfalls in Kreativität, zunehmend aber in Depressivität auswirkt, angesichts der tatsächlichen Bedrohung von außen zu Stärke wird. Sie, die Hilfsbedürftige, wird zur Führerin ihrer Schwester, der pragmatisch-starken Fürsorgerin, die angesichts der baldigen Kollision Melancholias mit der Erde schwach wird. Vielleicht aber geht das Kino selbst noch vor der Welt unter, die es immer so großartig, unbarmherzig, trivial, tiefgründig, um sich selbst kreisend beschrieben hat. Dem Filmkritiker Georg Seeßlen zufolge sind nämlich "die letzten Stunden des Kinos" angebrochen. So würde es nicht länger heißen: Apokalypse im Kino, sondern: Apokalypse des Kinos.

Unterstützt würde diese These durch die Beobachtung, dass sich das Kino gegenwärtig geradezu kannibalisch gebärdet, indem es sich selbst wiederholt und schließlich auffrisst. Umstellt von anderen audiovisuellen Medien, die ihm das Klientel und die rare Ressource Aufmerksamkeit rauben, sind auch scheinbare Aufbrüche wie 3D nur letzte Zuckungen.

Für ein solches Ableben sprächen auch durchaus erfolgreiche Kinofilme der vergangenen Jahre, wie "The Artist" (Michel Hazanavicious, F 2011) und "Hugo Cabret" (Martin Scorsese, USA 2011), die auf je eigene Weise die Frühgeschichte des Kinos thematisieren. Der eine greift stilistisch die Filmsprache der ersten Kinojahrzehnte (schwarz-weiß, stumm) auf, der andere feiert mit den neuesten Mitteln, 3 D, den Filmpionier George Méliès und somit die ersten S-F-Filme der Filmgeschichte.

Wie in einer Leichenrede

Wie in den letzten Minuten des Lebens angeblich noch einmal das ganze Leben am Sterbenden vorbeizieht, so fallen die ersten Bilder des Kinos mit seinen letzten zusammen. Die Beschreibung der großartigen und mittlerweile fremd-exotisch gewordenen Anfänge des Kinos zeigen nochmals, wie in einer Leichenrede, wichtige Stationen des Mediums auf. Hoffnung verheißt allerdings das Ende von "The Artist". Zwar erweist sich der Stummfilm wie auch dessen Star als einer vergangenen Epoche angehörig. Doch der Tonfilm in Gestalt einer ehemaligen Verehrerin und späteren Nachfolgerin nimmt sich des Exkünstlers an und entdeckt die Möglichkeit einer Synthese. Der Tanz mit seiner Verbindung aus Musik und Gesten erweist sich als das geeignete Medium, das Beste aus dem Stummfilm in den Tonfilm hinein zu retten. Die Geschichte geht also weiter, und sie könnte zugleich eine Rettungsgeschichte des Kinos sein.

Dann wäre es mit der Rede vom "Untergang des Kinos" wie mit der alten, dem Mayakalender entnommenen Prophezeiung, dass am 21. Dezember diesen Jahres die Welt untergeht: Die Mayas bewerten diese Untergänge nicht global, sondern es bedeutet, dass von da an ein bestimmter Zeitabschnitt zu Ende ist und ein neuer beginnt. Es geht eine bestimmte Welt unter, um Platz für eine neue zu schaffen. Für das Medium Kino verheißt das Hoffnung auf Zukunft. Denn es besitze eine spezifische, in seiner Bigger-than-Life-Projektionsmöglichkeit liegende Fähigkeit, "ein Problem zu beleuchten, wenn es auch konkret nichts verändern kann", so beschreibt Mereilles die Wirkung des Kinos und der Kunst. Vielleicht möchte man auf die cinematographische Belichtung eines Problems auch in Zukunft nicht verzichten, solange es diese/s noch gibt.

Inge Kirsner

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