Gesund schrumpfen

Die kirchliche Initiative "anders wachsen" sucht Alternativen zum Wachstumszwang
Auf der IAA in Frankfurt: Die Dampfmaschine unserer Tage ist das Auto. Foto: dpa/Boris Roessler
Auf der IAA in Frankfurt: Die Dampfmaschine unserer Tage ist das Auto. Foto: dpa/Boris Roessler
Südeuropa steckt in der Rezession, und auch Deutschland wird sich dem Abwärtstrend auf Dauer nicht entziehen können, befürchten Experten. Aber warum befürchten? Wäre es wirklich so dramatisch, wenn unser Bruttoinlandsprodukt um ein paar Prozentpunkte sinken würde? Nein, sagen vier kirchliche Mitarbeiter, die die Initiative "anders wachsen" gegründet haben. Der Zwang zum ewigen Wachstum schade mehr, als dass er nützt. Für den Buß- und Bettag laden sie zum Thementag nach Leipzig ein.

Am Anfang standen die Thesen. Nicht ganz so viele wie bei dem Geistlichen aus Wittenberg vor knapp 500 Jahren. Schließlich sollten die Thesen, die der Pfarrer Walter Lechner aus Frauenhain vor gut zwei Jahren formulierte, möglichst auf ein Din-A4-Blatt passen. Doch es ging ihm und den Gleichgesinnten, denen Lechner seine Thesen zur Diskussion gab, ebenfalls um die Kritik eines herrschenden Dogmas: Der Glaube an das unendliche Wirtschaftswachstum und der damit verbundene Zwang zur permanenten Steigerung des Bruttoinlandsprodukts. Aus den Thesen wurde eine Resolution, die am Ende auch der Kirchentag in Dresden verabschiedete, und aus dem Kreis der Diskutanten die Initiative "anders wachsen". Ihr Ziel: Das Thema zu einem kirchlichen zu machen, Raum für Alternativen zum vermeintlich Alternativlosen zu schaffen und eine breit angelegte Kampagne - getragen von der EKD.

Ein anspruchsvolles Vorhaben. Denn die Initiative besteht im Prinzip aus vier Personen, die in unterschiedlichen kirchlichen Bereichen arbeiten oder gearbeitet haben. Neben Lechner sind dies Tobias Funke, Diplom-Theologe an der Universität Leipzig, die Religionspädagogin Christine Müller in Persona die Arbeitsstelle "Eine Welt" der sächsischen Landeskirche, und Bernd Winkelmann, Pfarrer in Ruhestand und Leiter der Akademie Solidarische Ökonomie. Kein wissenschaftlich ausgebildeter Ökonom? Kein Unternehmer? Wo ist die Expertise? "Was Ethik und Lebensqualität angeht, hat Kirche viel zu sagen, da sind wir Experten", sagt Lechner. "Wenn ich die Zeitung in der einen Hand halte und die Bibel in der anderen und sich Widersprüche auftun, dann sehe ich Kirche in der Pflicht, einen prophetischen Auftrag zu erfüllen." Dabei gehe es nicht um ökonomische Berechnungen bis ins letzte Detail, sondern vor allem darum, eine Plattform zu schaffen, die Gespräche in Gang bringt. Und das hat funktioniert. Insgesamt 2000 Menschen haben die Petition mittlerweile unterzeichnet, die Hälfte davon online auf der Hompage der Initiative. Unterstützt wird die Initiative mittlerweile auch von evangelischer Prominenz wie Katrin Göring-Eckert, Margot Käßmann oder den durch die Montagsgebete bundesweit bekannt gewordenen ehemaligen Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche Christian Führer sowie mehrere Spitzenvertreter von Landeskirchen. Mit Spannung warten nun die Initiatoren darauf, wieviele Menschen am 21. November, dem Buß-und Bettag, in die Thomaskirche nach Leipzig kommen, wenn die Initiative zum Gottesdienst mit Margot Käßmann und ebenfalls prominent besetzten Podien und Workshops einlädt.

Die Grenzen in Sicht

Es könnten sehr viele werden, denn eine problematische Großwetterlage spricht für das Thema. Klimawandel, Ausbeutung der Rohstoffe zu immer höheren Kosten, steigende Nahrungsmittelpreise und gleichzeitig eine dramatisch wachsende Weltbevölkerung, die in steigender Abhängigkeit voneinander lebt: Man muss kein Apokalyptiker sein, um zumindest die ökologischen Grenzen des Wachstums, die in dem gleichnamigen Beststeller von 1972 grundsätzlich ja schon beschrieben wurden, auf uns zukommen zu sehen. Die Antwort darauf, die mittlerweile im politischen und ökonomischen Mainstream angekommen ist, lautet Konsistenz, also eine Wirtschaft, deren Stoffströme möglichst wenig in die natürlichen Kreisläufe eingreifen. Wind- oder Solarstrom etwa, aber auch das Recycling von Produkten. Doch auch wer im Wachstum dieser Green Economy den Ausweg aus der Mehrfachkrise sieht, muss einräumen, dass jedes Windrad, jedes Solarpanel und jeder Hochspannungsmast für neue Leitungen Rohstoffe und Fläche verbraucht und Landschaften dramatisch verändern kann.

Ein anderer oft propagierter Weg ist der der Effizienz, also das Einsparen von Rohstoffen durch bessere Technologie. Sparsamere Motoren oder auch besser gedämmte Häuser sind nur zwei Beispiele, die den Rohstoffverbrauch jedes einzelnen senken können. Allerdings droht der sogenannte Rebound-Effekt. Dieser wurde schon im 19. Jahrhundert von dem britischen Ökonomen und Philosoph William Stanley Jevons beschrieben, der sich der Frage widmete, warum bei steigender Effizienz von Dampfmaschinen der Gesamtverbrauch an Kohle steigt. Die Antwort: Gerade weil die Maschinen selbst immer sparsamer wurden, rechnete sich ihr Einsatz immer mehr, so dass die Zahl der Maschinen stieg und diese auch immer öfter liefen. Zudem heizte ein wachsender Wohlstand die Nachfrage an, der Effizienzgewinn war also dahin. Die Dampfmaschine unserer Tage ist das Auto, dessen Motoren immer sparsamer werden. Gleichzeitig fahren immer mehr davon auf den Straßen und werden mit immer mehr Extras ausgestattet, die den durchschnittlichen Spritverbrauch steigen lassen. Ein anderes Beispiel: Wir leben in immer besser isolierten, aber viel größeren Wohnungen als frühere Generationen, verbrauchen also pro Kopf nicht weniger Energie.

Eine Frage des Stils

Das bedeutet nicht, dass Effizienz und Konsistenz grundsätzlich falsche Prinzipien sind. Im Gegenteil, sie sind dringend notwendig, um die Wirtschaft zukunftsfähiger zu machen. Aber sie reichen offenbar nicht aus, denn sie gehen davon aus, dass wir eigentlich so weiter wirtschaften können wie bisher - nur mit einer anderen Technologie.

Ganz anders die Anhänger der "De-Growth"-Bewegung, der Wachstumskritiker, die vor allem eines fordern: Suffizienz. Auch hier geht es darum, weniger Rohstoffe und Naturvermögen jeglicher Art zu verbrauchen. Dies allerdings nicht mithilfe der Technik, sondern durch einen anderen Lebensstil. Das lateinische Wort sufficere, das soviel wie "ausreichen", oder "genügen" bedeutet, weist darauf hin: Es geht um Maßhalten, eine Ökonomie des Genug, eine Begrenzung des Wirtschaftswachstums. Dies sei nicht gleichzusetzen mit Verzicht, sondern bringe eine höhere Lebensqualität, weil Freiräume geschaffen würden. Wer weniger Produkte kauft, sein Auto abschafft oder in eine kleinere Wohnung zieht, gibt weniger Geld aus, kann möglicherweise weniger arbeiten und gewinnt Zeit für sich, die Familie, Freunde, ehrenamtliches Engagement. Alles Faktoren, die der Glücksforschung zufolge für mehr Lebenszufriedenheit sorgen als große Autos und neue Handys (zeitzeichen 1/2012).

Das weiß ja im Prinzip auch jeder. Und dennoch ist der Alltag der meisten Menschen geprägt vom Zwang zur Produktivität, von effizientem Zeitmanagement und Leistungsdruck. Denn auch in den Büros, an den Fließbändern der Fabriken und immer stärker auch in Schulen und Universitäten wird alles der Notwendigkeit des Wirtschaftswachstums untergeordnet. Ein Bruttoinlandsprodukt von weniger als einem Prozent oder gar eine Schrumpfung der Wirtschaftsleistung sorgt für Krisenstimmung bei Politikern. Und sie werden von den Volkswirten, die sie beraten und in traditionellen Bahnen denken, ja immer wieder darin bestärkt.

Größerer Kuchen

Eine Wirtschaft, deren Akteure immer produktiver werden wollen, weil es mehr Profit bringt und die Konkurrenten es ja auch so tun, muss wachsen. Denn die Kosten für neue Maschinen, die zum Beispiel in der Industrie den Produktivitätsfortschritt bringen, müssen wieder eingespielt werden. Das geht nur über höheren Absatz oder Kostensenkung, zum Beispiel durch Kündigungen, was wiederum die Arbeitslosenquote erhöht - mit all den sozialen und volkswirtschaftlichen Problemen, die Deutschland ja aus den vergangenen Jahrzehnten zu gut kennt. Darunter leiden dann vor allem die, die nicht vom eigenen Vermögen oder dem der Familie leben können, sondern von ihrer Lohnarbeit. Deshalb streiten Politiker, Volkswirte, Gewerkschaftler und Unternehmer zwar auf allen Ebenen darum, wer wieviel vom Kuchen haben soll. Dass dieser aber stets größer werden muss, darüber herrscht noch eine große Übereinstimmung.

Ein Häretiker in dieser Glaubenswelt ist seit langem Michael Müller. Er war 25 Jahre lang Bundestagsabgeordneter, Sprecher der SPD-Linken im Parlament und unter Sigmar Gabriel Staatssekretär im Bundesumweltministerium. Heute ist er Vorsitzender des aus der Arbeiterbewegung hervorgegangenen Umweltverbandes Naturfreunde Deutschland und Präsidiumsmitglied des Dachverbandes Deutscher Naturschutzring. Er sagt: "Wachstum ist die Antwort einer untergegangenen Welt." Lange Zeit sei eine prosperierende Wirtschaft der Weg zu mehr Freiheit und Emanzipation gewesen. Doch irgendwann habe sich das Streben nach Wachstum verselbständigt und zu den Krisen geführt, vor denen die Welt heute stehe. Die Ziele seien noch immer wichtig, aber der Weg dorthin sei ein anderer: "Wir brauchen überwiegend Schrumpfung."

Im Bundestag

Diese Position vertritt er auch in der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" des Deutschen Bundestages, die seit knapp zwei Jahren "Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft" sucht. Dass dort am Ende ihrer Arbeit aber tatsächlich ein substanzieller Gegenentwurf zum Wachstumszwang stehen wird, darf bezweifelt werden. "Ich denke nicht, dass die Kommission mehrheitlich eine Gesellschaft ohne Wachstum anstrebt", sagte jüngst die Vorsitzende Daniela Kolbe (SPD) in einem Interview mit dem Evangelischen Entwicklungsdienst. Die Kommission solle aber dazu beitragen, dass "Politik umsteuere und sich einen neuen Nordstern" verpasse. "Bisher war sie zu sehr am Bruttoinlandsprodukt (bip) orientiert. Möglicherweise befinden wir uns an einem Punkt, an dem wir anfangen, gesellschaftlichen Fortschritt in einer anderen Art zu definieren."

Genug Vorlagen dafür gibt es. Zum Beispiel vom indischen Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen. Er entwickelte in den Achtzigern den von den Vereinten Nationen regelmäßig veröffentlichten Human Development Index mit, welcher den Entwicklungsstand eines Landes nicht nur über das Bruttoinlandsprodukt ermittelt, sondern auch über die durchschnittliche Kaufkraft der Einwohner, ihre Lebenserwartung und die Alphabetisierungsrate. Kurz nach der Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2008/2009 saß er dann in der vom damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy einberufenen Kommission, die sich ebenfalls um einen Berechnungsansatz alternativ zum Bruttoinlandsprodukt kümmern sollte. Auch auf europäischer Ebene wird seit 2007 in der Initiative "Beyond GDP" an dem Thema gearbeitet. Und in Deutschland haben Hans Diefenbacher, stellvertretender Leiter der Forschungsstätte Evangelische Studiengemeinschaft, und Roland Zieschank, Verwaltungswissenschaftler an der Freien Universität Berlin, den Nationalen Wohlfahrtsindex entwickelt.

Die große Transformation

Viele Ansätze also, doch selbst wenn man sich irgendwann einmal auf einen Index einigen kann, wie genau eine Postwachstumsgesellschaft aussehen könnte, darüber gibt es noch keine einheitliche Meinung. Braucht man tatsächlich gar kein Wachstum? Oder doch ein bisschen? Oder nur ein anderes? Was ist mit den anderen Ländern und vor allem mit der Konkurrenz in China? Wieviel Verlust an materiellem Reichtum können wir uns leisten? Brauchen wir ein Grundeinkommen?

"Dieser Diskurs muss geführt werden", sagt Michael Müller. Um ihn in Gang zu bringen, hat er im Sommer den "Transformationskongress" in Berlin mit initiiert, auf dem der Deutsche Gewerkschaftsbund, die Evangelische Kirche und der Deutsche Naturschutzring gemeinsam nach Wegen in eine andere Wirtschaft suchten. Dass es dabei noch keine wirklich konkreten Ergebnisse geben konnte, überrascht nicht. Schließlich gilt es zunächst, Milieugrenzen und kulturelle Unterschiede zu überwinden. Doch der Kongress sei ein Anfang gewesen, sagt Müller, auf der Landesebene gebe es mittlerweile Folgeveranstaltungen.

Auch in Leipzig dürften am Buß- und Bettag diese Fragen diskutiert werden. Der Thementag soll der vorläufige Abschluss der Arbeit sein, die die Initiative "anders wachsen" in den vergangenen knapp zwei Jahren geleistet hat. "Jede Kampagne braucht einen Endpunkt", sagt Christine Müller, die schon zahlreiche entwicklungspolitische Kampagnen mitgestaltet hat. Die vier Initiatoren sind vorsichtig optimistisch, dass die EKD sich des Themas annimmt. Schließlich habe sie in der Denkschrift "Umkehr zum Leben" 2009 bereits eine Lebensweise, die auf ständiges Wachstum setzt, als "gefährlich und unverantwortlich" bezeichnet. "Die Chancen stehen nicht schlecht", sagt Lechner. Kein Schlusspunkt in Leipzig also. Sondern ein Absprungpunkt.

Homepage "anders wachsen"

Stephan Kosch

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