Einheit ja, aber wie?

Über das Ziel der Ökumene herrschen nach wie vor gegensätzliche Vorstellungen
Spitzenvertreter der Protestanten, Katholiken und Orthodoxen vor zwei Jahren beim Ökumenischen Kirchentag in München. Foto: dpa/Andreas Gebert
Spitzenvertreter der Protestanten, Katholiken und Orthodoxen vor zwei Jahren beim Ökumenischen Kirchentag in München. Foto: dpa/Andreas Gebert
Im Laufe der Zeit haben die voneinander getrennten Kirchen unterschiedliche Vorstellungen entwickelt, wie die Einheit der Kirche aussehen könnte. Martin Bräuer, Catholica-Referent des Konfessionskundlichen Instituts der EKD, stellt die Konzepte vor.

Das Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel nennt die Einheit der Kirche als eines ihrer Wesensmerkmale. Damit bringt es die Überzeugung aller Kirchen zum Ausdruck, dass es für den Glauben an Jesus Christus nur eine Kirche geben kann. Aus der Vielfalt, die dem Christentum von Anfang an zu eigen war, hat sich im Lauf der Geschichte eine große Bandbreite von Kirchen entwickelt. Theologische Weichenstellungen, menschliche Interessen und die unterschiedliche Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von Einheit und legitimer Vielfalt haben zu Trennungen und Ausbildung verschiedener Konfessionen geführt.

Die Trennungen zu überwinden, ist das Ziel der ökumenischen Bewegung. Die zentrale Frage ist allerdings: Wie soll die erstrebte und erwünschte Einheit der Kirchen aussehen? Geht es um die Wiederherstellung der zerbrochenen Einheit oder um die Sichtbarmachung der Einheit, die aller Verschiedenheit vorausliegt? Und welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit Gemeinschaft zwischen Kirchen entstehen kann? Eine Fülle von Fragen, auf die es ebenfalls eine Fülle von Antworten gibt.

Dabei hängt die jeweilige Zielvorstellung vom jeweiligen konfessionellen Verständnis dessen ab, was Kirche ist und welche Elemente und Eigenschaften als konstitutiv betrachtet werden. Denn die für das Wesen der Kirche als notwendig erachteten Attribute sind zugleich die für die Einheit geforderten Voraussetzungen. Folglich entscheidet die Kompatibilität der jeweiligen Kirchenverständnisse darüber, ob zwischen getrennten Kirchen Einheit möglich ist.

Einträchtig predigen

Das Augsburger Bekenntnis von 1530, das Basisdokument der lutherischen Kirchen, stellt in Artikel 7 fest, "zur wahren Einheit der christlichen Kirche" reiche aus, "dass das Evangelium einträchtig im reinen Verständnis gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden". Nach lutherischem aber auch nach reformiertem Verständnis - wie die "Confessio Helvetica posterior" von 1566 zeigt - sind die evangeliumsgemäße Verkündigung und Spendung der Sakramente die Elemente, auf denen die Einheit der Kirche basiert.

Auf dieser Grundlage kann nach reformatorischem Verständnis Kirchen- und Abendmahlsgemeinschaft mit anderen Kirchen erklärt werden. Nicht notwendig für die Einheit der Kirche sind dagegen die Traditionen, Riten und Zeremonien, die Menschen eingeführt haben und die für die Kirche und ihre Ordnung nützlich sind. Dazu zählt auch eine bestimmte Form des kirchlichen Amtes.

Verwirklicht ist das reformatorische Modell in der "Leuenberger Kirchengemeinschaft", seit 2003 "Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa". Sie umfasst über hundert Kirchen, lutherische, unierte und reformierte, Waldenser, Böhmische Brüder und Methodisten. Ihr Grunddokument ist die 1973 verabschiedete "Leuenberger Konkordie". Sie wollte die Gemeinschaft unter allen Kirchen wiederherstellen, die reformatorischen Ursprungs sind. Für die Erklärung und Verwirklichung von Kirchengemeinschaft erscheint den an der Konkordie Beteiligten die Übereinstimmung im Verständnis des Evangeliums erforderlich.

Feste Größe

Das rechte Verständnis des Evangeliums hat die reformatorische Theologie in der Botschaft von der freien Gnade Gottes und damit in der Rechtfertigungslehre zum Ausdruck gebracht. Weil dieses gemeinsame Verständnis gegeben ist, stellen die in den verschiedenen evangelischen Bekenntnisschriften ausgesprochenen Verwerfungen zu Abendmahl, Christologie und Prädestination für eine Kirchengemeinschaft, die Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft einschließt, kein Hindernis mehr dar. Das Leuenberger Konzept hat sich unter den evangelischen Kirchen Europas weitgehend durchgesetzt und ist inzwischen zu einer festen Größe geworden.

Die weltweite anglikanische Kirche legte 1888 im so genannten "Chicago-Lambeth-Quadrilateral" die Punkte vor, die für eine volle Kirchengemeinschaft konstitutiv sind. Sie umfassen - über Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung hinausgehend - das apostolische Glaubensbekenntnis und das historische Bischofsamt. Dabei ist allerdings zu beachten: Während rechte Evangeliumsverkündigung und Sakramentsverwaltung für die Kirche als konstitutiv gelten, hängt die Anerkennung des Kircheseins nicht davon ab, ob Kirchen das historische Bischofsamt haben. Und auch eine Abendmahlsgemeinschaft ist davon unabhängig. Doch für die Aufnahme voller Kirchengemeinschaft bleibt das Vorhandensein des historischen Bischofsamtes eine notwendige Voraussetzung. So wird auch verständlich, dass anglikanische Kirchen mit den reformatorischen Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft pflegen, ohne dass die Frage des Bischofsamtes geklärt ist.

Als Beispiel dient die "Meißener Erklärung" der EKD und der Kirche von England von 1991. Sie enthält die gegenseitige Anerkennung der Evangeliumsverkündigung in Wort und Sakrament. Ebenfalls werden die unterschiedlichen Formen der Episkope, der Aufsicht in der Kirche anerkannt. Aber der Austausch von Pfarrern zwischen den beiden Kirchen bleibt eingeschränkt. Denn dieser erfordert nach anglikanischer Auffassung letztlich das Vorhandensein des historischen Bischofsamtes.

Pfarrer können wechseln

Anders als in der Meißener Erklärung haben die lutherischen Kirchen Nordeuropas und des Baltikums und die anglikanischen Kirchen Großbritanniens und Irlands im "Porvoo-Abkommen" von 1992 eine volle Kirchengemeinschaft vereinbart. Sie sieht auch die volle Austauschbarkeit der Ämter vor: So kann ein lutherischer Pfarrer aus Schweden in der Kirche von England amtieren. Entscheidende Voraussetzung hierfür ist das Vorhandensein der historischen bischöflichen Sukzession, die als ein Zeichen zwar nicht für die Apostolizität der Kirche bürge, wohl aber in deren Dienst stehe und permanent zu Einheit und der Treue zum apostolischen Zeugnis auffordere.

Für das Ökumenismusdekret des Zweiten Vatikanischen Konzils, "Unitatis Redintegratio" gehören zum Kirchesein und der Einheit der Kirche folgende konstitutiven Elemente: 1. die dem Glauben entsprechende Predigt des Evangeliums, 2. die Verwaltung der Sakramente, die sich in der gemeinsamen Feier des Gottesdienstes vollzieht und ihren Höhepunkt in der Eucharistiefeier findet, und 3. die Leitung der Kirche durch die Bischöfe als Nachfolger der Apostel in der Gemeinschaft mit dem Papst.

Die "Rückkehr" der anderen Kirchen "in den Schoß der Mutter Kirche" war bis zum Konzil die römisch-katholische Lösung für die Einheit der Kirche. Dieses Konzept ging davon aus, dass die christliche Kirche mit der römisch-katholischen Kirche identisch ist ("est"). Das vertrat noch Pius XI. 1928 in seiner Enzyklika "Mortalium animos".

Zurück zur Alten Kirche

Auf dem Konzil vollzog sich eine wichtige Neuakzentuierung im Einheitsverständnis. Nach der Kirchenkonstitution "Lumen Gentium" ist die Fülle der Kirche Jesu Christi in der römisch-katholischen Kirche verwirklicht ("subsistit in"). Die Formulierung ("subsistit") ist eine Öffnungsklausel. Sie schließt das Kirchesein außerhalb der sichtbaren Ordnung der römisch-katholischen Kirche nicht aus, soweit das Priesteramt und gültige Sakramente bewahrt worden sind. Deshalb ist das Ziel nicht mehr die Rückkehr der anderen Kirchen in die römisch-katholische Kirche, sondern die "Wiederherstellung der Einheit". Die volle Gemeinschaft der Kirche, ihre Communio, findet nach römisch-katholischem Verständnis ihren Ausdruck in der Eucharistiegemeinschaft auf der Basis einer vollen Übereinstimmung im Bekenntnis des Glaubens und der Gemeinschaft im kirchlichen Amt.

In der katholischen Kirche hat sich die Vorstellung von der Sakramentalität der Kirche, das Konzept der Communio, als Einheitsmodell ausgeprägt. Neben der altkirchlichen Verfassung selbstständiger Kirchen und der Sakramenten- und Lehrgemeinschaft wird die gemeinsame Sendung für das Glaubenszeugnis betont. Nach dem Verständnis der orthodoxen Kirchen gehören zu den Eigenschaften der Kirche der apostolische Glaube, das sakramentale, insbesondere eucharistische Leben und das historische Bischofsamt in apostolischer Sukzession. Nach ihrem Verständnis ist die Einheit der Kirche durch die Spaltungen nicht nur verdunkelt, sondern verlorengegangen. Und sie kann nur wiedererlangt werden, wenn alle Kirchen zur Tradition der alten ungeteilten Kirche zurückkehren, die allein in der orthodoxen Kirche bewahrt und gelebt wird. Dargelegt haben die orthodoxen Kirchen ihr Verständnis in jüngerer Zeit in einer Erklärung der Dritten Vorkonziliaren Panorthodoxen Konferenz, die 1986 in Chambesy in der Schweiz stattfand.

Aus diesen verschiedenen Einheitskonzeptionen haben sich im Laufe der Jahre auch viele Einheitsmodelle entwickelt. Neben den bereits aufgezeigten Modellen seien noch andere erwähnt, die in der ökumenischen Bewegung des 20. Jahrhunderts diskutiert wurden: Das kooperativ-föderative Modell sieht vor, dass sich die beteiligten Kirchen aufgrund ihrer Weltverantwortung zusammenschließen. Beim Modell der organischen Union bilden die unterschiedlichen konfessionellen Traditionen in einer gemeinsamen Kirche eine neue Identität aus. Ausschlaggebend ist dabei der lokale oder regionale Aspekt. Das zeigen die Unionen von lutherischen und reformierten Gemeinden und Kirchen im 19. Jahrhundert in Deutschland. Ein Musterbeispiel für das 20. Jahrhundert ist die "Kirche von Südindien", zu der sich 1947 Anglikaner, Methodisten und Reformierte zusammenschlossen.

In Nairobi verabschiedet

Auf der Vollversammlung des Weltkirchenrates in Nairobi 1975 wurde das Modell der Konziliaren Gemeinschaft verabschiedet, das die Kommission für Glauben und Kirchenverfassung erarbeitet hatte. Es will die Vielfalt des christlichen Lebens positiv aufgreifen. Innerhalb einer konziliaren Gemeinschaft von Kirchen erkennt jede Kirche die anderen Christen als Glieder derselben Kirche Christi an. Und die Gemeinschaft in der Lehre soll durch eine synodale Vernetzung gefunden werden. Die Vollversammlung des "Lutherischen Weltbundes" 1977 in Daressalam präsentierte das Modell der versöhnten Verschiedenheit. Dieses favorisiert den Gedanken eines legitimen theologischen Plurals innerhalb der einen universalen Kirche. Unterschiede und Gegensätze bleiben als Reichtum kirchlicher Vielfalt erhalten.

Zu diesem Einheitsmodell gehören wesentlich Abendmahls- und Ämtergemeinschaft und gemeinsames praktisches Handeln. Dieses Modell beantwortet die Frage nach der konkreten Verwirklichung der Einheit nicht direkt, sondern ist für unterschiedliche Gestaltungsformen offen. Es unterscheidet zwischen trennenden Differenzen, die auf dem Weg des differenzierten Konsenses zu versöhnen sind, und legitimer Vielfalt, die es zu bewahren gilt.

Wenn man die unterschiedlichen Einheitskonzepte und Vorstellungen von Kirchengemeinschaft anschaut, muss man feststellen: Bis heute gibt es keine gemeinsame Antwort aller Kirchen auf die Frage, wie die Einheit der Kirche Jesu Christi verwirklicht werden kann. Die Hoffnung auf eine institutionelle Einheit wird sich in absehbarer Zeit wohl nicht erfüllen.

Dennoch gibt es zur Ökumene aus theologischer Verantwortung heraus keine Alternative. Und die Erfahrungen geistlicher Einheit zwischen allen Christen tragen die Ökumene, in der die Möglichkeiten gemeinsamen Handelns noch längst nicht ausgeschöpft sind.

Martin Bräuer

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