"Vor dem Gesetz" heißt eine große Ausstellung, die im Museum Ludwig zu Köln gezeigt wird: "Skulpturen der Nachkriegszeit und Räume der Gegenwartskunst". In Kafkas Parabel "Vor dem Gesetz" bittet ein Mann vom Lande um Einlass in das Gesetz, das von einem mächtigen Türhüter bewacht wird - die Ausstellung soll Fragen aufwerfen, denen die Parabel von Kafka als Metapher dient: Was ist das Gesetz, wer macht das Gesetz? Wie wird es ausgelegt? Wem dient es? Behandelt es jeden gleich? Wer zwischen dem Hauptbahnhof und dem hoch aufragenden Chor des Kölner Doms in Richtung Rhein geht, kann für einen Moment die Gleichzeitigkeit von Mittelalter und Moderne erleben. Links die Konstruktion aus Stahl und Glas der Bahnsteigüberdachung, die aus- und einfahrenden ICEs, rechts das Strebewerk des Sakralbaus aus dem 13. Jahrhundert. Der Platz ist nach Heinrich Böll benannt. Hier ist es im Vergleich zu dem Raum vor der Westfassade mit den beiden Türmen weniger belebt. Die Lautsprecheransagen des Hauptbahnhofs tönen herüber. Nur einige Schritte weiter, gegenüber der Dombauhütte, das Römisch-Germanische Museum. Umgestürzte Säulen, Sarkophage, das Pflaster einer römischen Straße, eine Glasfront, die den Blick auf das tieferliegende Dionysos-Mosaik aus dem 1.-3. Jahrhundert freigibt. Davor auf dem Platz einige Skater, deren Sprünge in den Trubel knallen. Fast zweitausend Jahre Geschichte drängen sich hier auf engstem Raum zusammen. Römer, Juden, Franken, Erzbischöfe, selbstbewusste Bürger, Napoleon, die Preußenkönige und -kaiser , die 1880 für die Vollendung des Dombaus sorgten, Adenauer, die Nazis und schließlich der Kölner Klüngel der Nachkriegszeit. In der Ausstellung im Museum Ludwig zeigen die Skulpturen der Fünfzigerjahre den Nachhall der Erlebnisse schrecklich gesetzloser Zeit: etwa Gerhard Marcks Gefesselter Prometheus 2, Henry Moores Gefallener Krieger. Besonders eindrücklich ist Thomas Schüttes "Vater Staat" (2009/2010), eine einschüchternd wirkende, fast vier Meter hohe Plastik eines Mannes, die in ihrer Monumentalität an Bismarckdenkmäler erinnert, wie sie in fast jeder deutschen Großstadt stehen. Doch dieser bronzene Vater Staat scheint keine Arme mehr zu haben - oder sind sie in seinen Mantel wie in eine Zwangsjacke verschnürt? Kann er nicht mehr helfen? Oder will er nicht - jedenfalls nicht mehr jedem? In Kafkas Roman "Der Prozess" wird die Türhüter-Parabel in der Domszene von einem Geistlichen vorgetragen. Gegen Josef K.’s vorschnelle Deutungen macht er auf den Meinungscharakter aller Deutungen aufmerksam: "Richtiges Verstehen einer Sache und Missverstehen einer Sache schließen sich nicht völlig aus." Der immer schwächer werdende Mann vom Lande wartet in Kafkas Parabel jahrelang vor dem Tor: "Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht." Er stirbt, ohne durch die Tür gegangen zu sein, die, wie der Wächter sagt, nur für ihn bestimmt war.
Durch das Hauptportal des Kölner Doms kann jeder eintreten. Wer es tut, wird sich vielleicht von der Lichtmagie des Südhaus-Querfensters von Gerhard Richter bannen lassen und dabei den Gegensatz zur immer von Absurdität bedrohten Sphäre des Gesetzes spüren. Der Glanz, der von diesem Fenster ausgeht, ist alles andere als ein eherner, unerbittlicher - viel eher stammt er vom Licht des Evangeliums, gebrochen in die Farben, die uns Menschen schon hier auf Erden als Verheißung einleuchten.
Die Ausstellung "Vor dem Gesetz" läuft bis zum 22.4.2012.
Hans-Jürgen Benedict
Hans-Jürgen Benedict
Hans-Jürgen Benedict war bis 2006 Professor für diakonische Theologie an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie des Rauhen Hauses in Hamburg. Seit seiner Emeritierung ist er besonders aktiv im Bereich der Literaturtheologie.